BIS DIE SCHREIBHAND WEHTUT

Die Seiten, die ich vor so langer Zeit geschrieben hatte, glitten mir aus den Händen und verstreuten sich am Boden. Ich dachte: Wer? Und wie? Und: Nach all diesen – was? Jahren.

Ich fiel in meine Erinnerungen zurück. Die Nacht verging umnebelt. Morgens stand ich noch immer unter Schock. Es wurde Mittag, ehe ich wieder etwas machen konnte. Ich kniete mich ins Mehl. Sammelte die Seiten auf. Seite zehn ritzte mir den Finger. Seite zweiundzwanzig: Nierenstiche. Bei Seite vier stockte mir das Herz.

Ein bitterer Witz kam mir in den Sinn. Mir fehlten die Worte. Und doch. Ich grapschte nach den Seiten vor Angst, mein Verstand könnte mir ein Schnippchen schlagen, der nächste Blick nach unten, und sie wären leer.

Ich ging in die Küche. Der Kuchen sackte auf dem Tisch zusammen. Meine Damen und Herren. Wir haben uns heute versammelt, um die Geheimnisse des Lebens zu feiern. Was? Nein, Steine werfen ist nicht erlaubt. Nur Blumen. Oder Geld.

Ich fegte die Eierschalen und etwas verrieselten Zucker vom Stuhl und setzte mich an den Tisch. Draußen gurrte meine treue Taube und schlug mit den Flügeln an die Scheibe. Vielleicht hätte ich ihr einen Namen geben sollen. Warum nicht, wo ich mich doch damit geplagt habe, so viele Dinge zu benennen, die weniger real waren als sie. Ich versuchte, mir einen Namen auszudenken, den ich gern gerufen hätte. Ich blickte mich um. Mein Auge blieb auf der Speisekarte des Chinesen haften. Er hat sie seit Jahren nicht geändert. MR. TONG’S BERÜHMTE KÜCHE – KANTONESISCH, SZETSCHUAN UND HUMAN. Ich klopfte ans Fenster. Die Taube flatterte davon. Adieu, Mr. Tong.

Ich verbrachte fast den ganzen Nachmittag mit Lesen. Erinnerungen stürmten auf mich ein. Es schwamm mir vor den Augen, ich hatte Mühe, scharf zu sehen. Ich dachte: Ich sehe Gespenster. Ich schob den Stuhl zurück und stand auf. Ich dachte: Masl tow!, dein Verstand, Gursky, jetzt hast du ihn endgültig verloren. Ich goss die Pflanze. Um zu verlieren, muss man gehabt haben. Wie? Auch das noch, ein Korinthenkacker neuerdings? Gehabt, nicht gehabt. Hör dich an! Du hast dir doch das Verlieren zum Beruf gemacht. Ein Meisterverlierer bist du. Und doch. Wo ist der Beweis, dass du sie je gehabt hast? Und wo der, dass du sie je kriegen konntest?

Ich füllte das Becken mit Spülwasser und begann, die schmutzigen Töpfe abzuwaschen. Und mit allem, was ich wegräumte, mit jedem Topf, jeder Pfanne, jedem Löffel, räumte ich einen unerträglichen Gedanken weg, bis sich Küche und Kopf in synchroner Ordnung befanden. Und doch.

Shlomo Wasserman war Ignacio da Silva geworden. Die Figur, die ich Duddelsach genannt hatte, hieß jetzt Rodriguez. Feingold war De Biedma. Das alte Slonim wurde Buenos Aires, und eine Stadt, von der ich noch nie gehört hatte, stand für Minsk. Es war beinahe komisch. Aber: Ich lachte nicht.

Ich untersuchte die Handschrift auf dem Umschlag. Kein Begleitschreiben. Ich schwöre: Ich habe fünf- oder sechsmal nachgeschaut. Kein Absender. Ich hätte Bruno gefragt, wenn ich angenommen hätte, er könnte mir etwas dazu sagen. Wenn Päckchen kommen, lässt der Hausmeister sie gewöhnlich auf dem Tisch im Eingang liegen. Sicher hatte Bruno es gesehen und mitgenommen. Es ist immer ein Ereignis, wenn für einen von uns etwas kommt, was nicht in den Briefkasten passt. Ich glaube, das letzte Mal war über zwei Jahre her. Bruno hatte ein mit Verzierungen beschlagenes Hundehalsband bestellt. Vielleicht sollte ich dazu sagen, dass er kürzlich einen Hund mit nach Hause gebracht hatte. Ein kleines Hündchen, warm und kuschelig, etwas zum Liebhaben. Er nannte es Bibi. Komm, Bibi, komm!, hörte ich ihn rufen. Aber: Bibi kam nicht. Dann, eines Tages, ging er mit ihr zum Hundeauslaufplatz. Vamos, chico!, rief jemand seinen Hund, und schon rannte Bibi zu dem Puertoricaner hinüber. Komm, Bibi, komm!, schrie Bruno, aber vergeblich. Er änderte die Taktik. Vamos, Bibi!, brüllte er aus Leibeskräften. Und siehe da, Bibi kam angerannt. Sie bellte die ganze Nacht und schiss ihm die Wohnung voll, aber er liebte sie.

Wieder ging er mit ihr zum Auslauf. Bibi tollte, schiss und schnüffelte, und Bruno betrachtete sie stolz. Das Tor öffnete sich einem Irish Setter. Bibi warf einen Blick. Und ehe Bruno wusste, was geschah, schoss sie durchs offene Tor und verschwand die Straße hinunter. Er versuchte, sie zu fangen. Lauf!, sagte er sich. Die Erinnerung ans Rennen durchzuckte seine Glieder, aber der Körper machte nicht mit. Schon bei den ersten Schritten verhaspelte er sich und stolperte über seine eigenen Beine. Vamos, Bibi!, schrie er. Und doch. Niemand kam. In seiner Stunde der Not – zusammengebrochen am Straßenrand, während Bibi ihn als das verriet, was sie nun einmal war: ein Tier – saß ich daheim und hackte auf meine Schreibmaschine ein. Am Boden zerstört kam er nach Hause. Abends gingen wir zum Auslauf zurück, um auf sie zu warten. Sie kommt bestimmt wieder, sagte ich. Aber: Sie kam nicht. Das ist zwei Jahre her, und er geht immer noch hin und wartet.

Ich versuchte, den Dingen einen Sinn zu geben. Wenn ich so darüber nachdenke, habe ich das immer versucht. Es könnte meine Grabschrift sein. LEO GURSKY: ER VERSUCHTE, SINN ZU STIFTEN.

Die Nacht brach herein, und ich tappte noch immer im Dunkeln. Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen. Mr. Tong fiel mir ein. Der Chinese, nicht die Taube. Ich rief ihn an. Zwanzig Minuten später war ich allein mit meinen Frühlingsrollen. Ich stellte das Radio an. Sie baten um Spenden. Zum Dank bekam man eine Klobürste mit der Aufschrift WNYC.

Es gibt Dinge, die ich schwer beschreiben kann. Trotzdem plage ich mich weiter damit ab, wie ein störrischer Esel. Einmal kam Bruno herunter und sah mich am Küchentisch vor der Schreibmaschine sitzen. Wieder das Ding? Der verrutschte Kopfhörer hing wie ein halbierter Heiligenschein über seinem Schädel. Ich knetete meine Knöchel über dem Dampf der Teetasse. Ein wahrer Vladimir Horowitz, bemerkte er auf dem Weg zum Kühlschrank. Er beugte sich vor und kramte nach was auch immer. Ich zog ein neues Blatt in die Maschine ein. Er drehte sich um, während die Kühlschranktür noch offen stand, einen Milchbart auf der Oberlippe. Spielen Sie nur weiter, Maestro, sagte er, setzte sich den Kopfhörer auf die Ohren, machte im Vorbeigehen das Licht über dem Tisch an und schlurfte zur Tür. Die Strippe pendelte vor meinen Augen hin und her, während ich der Stimme Molly Blooms lauschte, die ihm in die Ohren dröhnte: ES GEHT DOCH NICHTS ÜBER SO EINEN KUSS LANG UND HEISS GEHT EINEM RUNTER BIS IN DIE SEELE JA LÄHMT EINEN FAST. Bruno hört jetzt nur noch sie und verschleißt dabei das ganze Band.

Wieder und wieder las ich in den Seiten des Buches, das ich als junger Mann geschrieben hatte. Es war so lange her. Ich war naiv gewesen. Ein verliebter Zwanzigjähriger. Geschwollenes Herz und ein ebensolcher Kopf. Ich glaubte, ich könnte alles tun! So seltsam das nun, da ich alles getan und hinter mir habe, erscheinen mag.

Ich dachte: Wie hat es überlebt? Soviel ich wusste, war das einzige Exemplar einer Überschwemmung zum Opfer gefallen. Ich meine, wenn man die Auszüge nicht mitzählt, die ich dem Mädchen, das ich liebte, in Briefen zukommen ließ, als sie nach Amerika gefahren war. Ich konnte nicht widerstehen, ihr meine besten Seiten zu schicken. Aber: Es war nur ein kleiner Teil. Und hier, in meinen Händen, lag fast das ganze Buch! Irgendwie auf Englisch! Mit spanischen Namen! Nicht zu fassen.

Ich saß schiwe, trauerte um meinen Isaac, und während ich so dasaß, versuchte ich zu begreifen. Allein in meiner Wohnung, die Seiten auf meinem Schoß. Aus der Nacht wurde Tag, Nacht und wieder Tag. Bald schlief ich, und bald wachte ich. Aber: Ich kam der Erschließung des Geheimnisses nicht näher. Und das mir, dem Schlosser. Ich bekam jede Tür in der ganzen Stadt auf. Nur mir selbst konnte ich gar nichts erschließen.

Ich entschied, eine Liste aller meiner noch lebenden Bekannten zu machen, damit ich keinen vergaß. Ich beschäftigte mich mit der Suche nach Stift und Papier. Dann setzte ich mich hin, strich das Papier glatt und senkte die Feder. Aber: Leere in meinem Gehirn.

Stattdessen schrieb ich: Fragen an den Absender. Dies unterstrich ich zweimal. Ich fuhr fort:

 

1. Wer bist du?
2. Wo hast du dies gefunden?
3. Wie hat es überlebt?
4. Warum ist es auf Englisch?
5. Wer hat es sonst gelesen?
6. Fanden sie es gut?
7. Ist die Zahl der Leser größer oder kleiner als –

 

Ich hielt inne und überlegte. Gab es eine Zahl, die mich nicht enttäuschen würde?

Ich sah aus dem Fenster. Auf der anderen Straßenseite bog sich ein Baum im Wind. Es war Nachmittag, die Kinder lärmten. Ich höre ihre Lieder gern. Dies ist ein Spiel. Zum Konzentrieren, singen die Mädchen und klatschen. Zweimal ist aus. Und Zögern ist Verlieren. Auf los geht’s los. Ich sitze auf glühenden Kohlen. Tiere!, schreien sie. Tiere! Ich denke nach. Pferd!, sagt die eine. Affe!, die andere. Und es geht hin und her. Kuh!, ruft die Erste. Tiger!, schreit die Zweite, weil jedes Zögern den Rhythmus zerstört und das Spiel beendet. Pony! Känguru! Maus! Löwe! Giraffe! Ein Mädchen druckst herum. JAK!, schreie ich.

Ich senkte den Blick auf das Blatt mit meinen Fragen. Was musste geschehen, fragte ich mich, damit ein Buch, das ich vor sechzig Jahren geschrieben hatte, jetzt in meinen Briefkasten gelangte, und das in einer anderen Sprache?

Plötzlich durchfuhr mich ein Gedanke. Er kam mir auf Jiddisch, ich tue mein Bestes, ihn hier wiederzugeben, etwa so: KÖNNTE ICH BERÜHMT SEIN, OHNE ES ZU WISSEN? Mir wurde schwindlig. Ich kippte ein Glas kaltes Wasser und nahm ein Aspirin. Sei kein Narr, sagte ich mir. Und doch.

Ich schnappte mir meinen Mantel. Die ersten Regentropfen prasselten ans Fenster, also zog ich die Galoschen an. Bruno nennt sie Überschuhe. Soll er. Draußen ein heulender Wind. Ich kämpfte mich durch die Straßen, in verbissenem Streit mit meinem Regenschirm. Dreimal schnappte er über. Ich hielt mich an ihm fest. Einmal schleuderte er mich an eine Hauswand. Zweimal hob ich ab.

Den peitschenden Regen im Gesicht, gelangte ich zur Bücherei. Das Wasser troff mir von der Nase. Mein Regenschirm, das Mistvieh, war zerfetzt, also entsorgte ich ihn im Ständer. Ich ging zum Tisch der Bibliothekarin. Hoppel-Halt-und-Keuch, Hosenbeine hoch, Schritt, Schlurf, Schritt, Schlurf und so fort. Ihr Stuhl war leer. Ich rannte, in Anführungszeichen, durch den Lesesaal. Schließlich fand ich jemanden. Die Frau sortierte Bücher ein. Ich konnte mich kaum bremsen.

Ich möchte alles, was Sie von dem Schriftsteller Leo Gursky haben!, rief ich.

Sie drehte sich um und sah mich an. So auch alle anderen.

Verzeihung?

Alles, was Sie von dem Schriftsteller Leo Gursky haben!, wiederholte ich.

Ich bin hier eben noch beschäftigt. Da müssen Sie sich einen Augenblick gedulden.

Ich geduldete mich einen Augenblick.

Leo Gursky, sagte ich. G-U-R .

Sie schob ihren Wagen weiter. Ich weiß, wie sich das schreibt.

Ich folgte ihr zum Computer. Sie tippte meinen Namen ein. Mein Herz raste. Ich mag alt sein. Aber: Mein Herz kriegt immer noch einen hoch.

Da ist ein Buch über Stierkampf von einem Leonard Gursky, sagte sie.

Nicht der, sagte ich. Was ist mit Leopold?

Leopold, Leopold, sagte sie. Da haben wir’s.

Ich hielt mich am nächstbesten stabilen Gegenstand fest. Trommelwirbel bitte:

Die unglaublichen, phantastischen Abenteuer des zahnlosen Wundermädchens Frankie, sagte sie grinsend. Ich kämpfte gegen das Bedürfnis an, ihr eins mit den Galoschen überzuziehen. Schon war sie auf dem Weg zur Kinderbuchabteilung. Ich hielt sie nicht auf. Stattdessen starb ich kleine Tode. Sie wies mir mit dem Buch einen Platz zu. Viel Spaß, sagte sie.

Bruno hat einmal gesagt, wenn ich mir eine braune Taube kaufte, würde sie sich auf halbem Weg in eine weiße verwandeln, im Bus nach Hause in einen Papagei, und sobald ich in meiner Wohnung den Käfig aufmachte, käme ein Phönix heraus. Das bist du, sagte er und wischte ein paar imaginäre Krümel vom Tisch. Ein paar Minuten vergingen. Nein, das bin ich nicht, sagte ich. Er sah achselzuckend aus dem Fenster. Wer hat schon je von einem Phönix gehört?, sagte ich. Ein Pfau vielleicht. Aber ein Phönix, das glaube ich nicht. Sein Gesicht war abgewandt, und doch meinte ich zu sehen, dass sich sein Mund zu einem Lächeln verzog.

Aber jetzt konnte ich nichts tun, um aus dem Nichts, das die Bibliothekarin gefunden hatte, etwas zu machen.

In den Tagen nach meinem Herzinfarkt, bevor ich wieder zu schreiben begann, konnte ich nur noch ans Sterben denken. Ich war wieder einmal davongekommen, und erst als die Gefahr vorüber war, erlaubte ich meinen Gedanken, sich bis zum unvermeidlichen Ende zu entspinnen. Ich stellte mir die ganzen Möglichkeiten vor abzutreten. Gehirnschlag. Infarkt. Thrombose. Lungenentzündung. Grand-Mal-Anfall mit Verschluss der Vena cava. Ich sah mich mit Schaum vor dem Mund zuckend am Boden liegen. Nachts wachte ich auf und griff mir an die Kehle. Und doch. Egal, wie oft ich mir das mögliche Versagen meiner eigenen Organe vorstellte, die Schlussfolgerung fand ich unvorstellbar: dass es mir passieren könnte. Ich zwang mich, mir meine letzten Momente auszumalen. Den vorletzten Atemzug. Einen letzten Seufzer. Und doch. Es kam immer einer nach.

Ich erinnere mich, wie mir zum ersten Mal bewusst wurde, was Sterben ist. Da war ich neun. Mein Onkel, der Bruder meines Vaters, er ruhe in Frieden, war im Schlaf gestorben. Es gab keine Erklärung dafür. Ein Hüne, der wie ein Scheunendrescher aß und bei klirrender Kälte hinausging, um mit bloßen Händen Eisblöcke zu brechen. Einfach tot, hinüber. Er hatte mich Leopo genannt. Das sprach er so aus: Lei-o-po. Hinter dem Rücken meiner Tante steckte er mir und meinen Cousins Zuckerstangen zu. Er konnte Stalin imitieren, dass man vor Lachen platzte.

Meine Tante fand ihn morgens, da war er schon steif. Drei Männer wurden gebraucht, um ihn zur chewra kaddischa zu tragen. Mein Bruder und ich schlichen uns hin, um den mächtigen Berg zu sehen. Im Tod erschien uns der Körper noch eindrucksvoller als im Leben – der buschige Wald auf seinen Handrücken, die platten gelblichen Nägel, die dicke Hornhaut unter seinen Fußsohlen. Er wirkte so menschlich. Und doch. Auch grauenhaft unmenschlich. Einmal kam ich, um meinem Vater ein Glas Tee zu bringen. Er saß bei dem Leichnam, der nicht eine Minute allein gelassen werden durfte. Ich muss aufs Klo, sagte er mir. Warte hier, bis ich zurück bin. Ehe ich einwenden konnte, ich hätte doch noch nicht einmal meine Bar-Mizwa hinter mir, rannte er hinaus, um sich zu erleichtern. Die nächsten Minuten schlichen wie Stunden dahin. Mein Onkel lag aufgebahrt auf einer Steinplatte von der Farbe rohen, mit weißen Adern durchzogenen Fleisches. Einmal glaubte ich, seine Brust sich leicht heben zu sehen, und hätte fast losgeschrien. Aber: Ich fürchtete mich nicht nur vor ihm. Ich fürchtete um mich selbst. In diesem kalten Raum spürte ich meinen eigenen Tod. In der Ecke war ein Waschbecken mit rissigen Kacheln. All die abgeschnittenen Nägel, Haare und der den Toten abgewaschene Dreck waren dieses Abflussrohr hinuntergegangen. Der Hahn leckte, und mit jedem Tropfen Wasser fühlte ich mein Leben schwinden. Eines Tages wäre es endgültig dahin. Die Freude zu leben überkam mich mit solcher Macht, dass ich hätte schreien mögen. Ich war nie ein frommes Kind gewesen. Aber: Plötzlich empfand ich das Bedürfnis, Gott zu bitten, er möge mich so lange wie möglich verschonen. Als mein Vater wiederkam, fand er seinen Sohn kniend am Boden, die Augen fest geschlossen und die Knöchel weiß gepresst.

Von da an plagte mich die Angst, ich oder meine Eltern könnten sterben. Um meine Mutter bangte ich am meisten. Sie war die Kraft, um die unsere Welt sich drehte. Anders als mein Vater, der in den Wolken lebte, wurde meine Mutter von der rohen Gewalt der Vernunft durchs Universum getrieben. Sie richtete all unsere Streitigkeiten. Ein missbilligendes Wort von ihr, und schon standen wir in der Ecke, wo wir weinten und uns unser bevorstehendes Martyrium ausmalten. Und doch. Ein einziger Kuss konnte uns ins Königreich zurückholen. Ohne sie wäre unser Leben im Chaos versunken.

Die Angst vor dem Tod verfolgte mich ein ganzes Jahr. Ich weinte, wann immer jemand ein Glas fallen ließ oder einen Teller zerbrach. Aber auch als das vorbei war, blieb mir eine unauslöschliche Traurigkeit erhalten. Nicht, dass sie durch etwas neu Hinzugetretenes verursacht worden wäre. Schlimmer: Ich war mir einer Sache bewusst geworden, die mich schon die ganze Zeit unbemerkt begleitet hatte. Dieses neue Bewusstsein schleppte ich mit mir herum wie einen an den Fuß gebundenen Stein. Wohin ich auch ging, es folgte mir. Im Kopf dachte ich mir traurige Liedchen aus. Elogen an das fallende Laub. Ich stellte mir meinen Tod in hundert verschiedenen Versionen vor, aber das Begräbnis verlief immer gleich: Irgendwo in meiner Phantasie wurde ein roter Teppich ausgerollt. Denn nach jedem heimlichen Tod, den ich starb, entdeckte man meine Größe.

So hätte es weitergehen können.

Eines Morgens, nachdem ich beim Frühstück getrödelt hatte und dann stehen geblieben war, um Mrs. Stanislawskis riesige Unterwäsche, die zum Trocknen auf der Leine hing, näher zu betrachten, kam ich verspätet zur Schule. Die Glocke hatte schon geläutet, aber ein Mädchen aus meiner Klasse kniete auf dem staubigen Schulhof. Das Haar hing ihr zu einem Zopf geflochten über den Rücken. Sie hielt etwas zwischen den hohlen Händen. Ich fragte, was es sei. Ich habe eine Motte gefangen, sagte sie, ohne mich anzusehen. Was willst du denn mit einer Motte?, fragte ich. Was ist das für eine Frage?, sagte sie. Ich überdachte meine Frage. Also gut, wenn es ein Schmetterling wäre, wäre das eine Sache, sagte ich. Nein, wäre es nicht, sagte sie. Das wäre eine andere Sache. – Du solltest sie fliegen lassen, sagte ich. Es ist eine sehr seltene Motte, sagte sie. Woher weißt du das?, fragte ich. Ich habe so ein Gefühl, sagte sie. Ich wies darauf hin, dass die Glocke schon geläutet hatte. Dann geh doch rein, sagte sie. Niemand hält dich davon ab. – Erst wenn du sie fliegen lässt. – Dann kannst du vielleicht ewig warten.

Sie öffnete den Spalt zwischen ihren Daumen und sah hinein. Lass mich sehen, sagte ich. Sie sagte nichts. Darf ich bitte auch mal sehen? Sie sah mich an. Ihre Augen waren grün und stechend. Na gut. Aber sei vorsichtig. Sie hob ihre geschlossenen Hände vor mein Gesicht und machte die Daumen einen Zentimeter auseinander. Ich roch die Seife auf ihrer Haut. Alles, was ich sehen konnte, war der Schimmer eines braunen Flügels, also zog ich an ihren Daumen, um besseren Einblick zu gewinnen. Und doch. Sie muss geglaubt haben, ich wolle die Motte befreien, denn plötzlich klatschte sie die Hände zusammen. Entsetzt sahen wir uns an. Als sie die Hände wieder aufmachte, zappelte die Motte schwach. Ein Flügel war ab. Sie hielt die Luft an. Ich war’s nicht, sagte ich. Sie hielt die Motte in der geöffneten Hand. Als ich ihr in die Augen blickte, sah ich Tränen darin. Ein Gefühl, von dem ich noch nicht wusste, dass es Begehren war, verschnürte mir den Magen. Tut mir leid, flüsterte ich. Ich empfand das Bedürfnis, sie zu umarmen, die Motte und den abgebrochenen Flügel wegzuküssen. Sie sagte nichts. Wie gebannt starrten wir uns an.

Es war, als teilten wir ein sündiges Geheimnis. Ich hatte sie täglich in der Schule gesehen und noch nie etwas Besonderes für sie empfunden. Höchstens, dass ich sie rechthaberisch fand. Sie konnte auch nett sein. Aber: Sie war ein schlechter Verlierer. Mehr als einmal hatte sie nicht mehr mit mir gesprochen, weil es mir ausnahmsweise gelungen war, irgendeine blöde Frage des Lehrers schneller zu beantworten als sie. Der König von England heißt George!, rief ich, und dann musste ich mich den Rest des Tages gegen ihr eisiges Schweigen verteidigen.

Aber jetzt kam sie mir anders vor. Ihre magischen Kräfte wurden mir bewusst. Wie sie Licht und Schwerkraft an den Platz zu ziehen schien, an dem sie stand. Ich bemerkte, was mir vorher nie aufgefallen war. Wie sie die Fußspitzen leicht nach innen drehte. Den Dreck an ihren bloßen Knien. Wie ordentlich ihr Mantel auf ihren schmalen Schultern saß. Als hätten meine Augen Lupenwirkung, sah ich sie von nahem. Den schwarzen Schönheitsfleck, wie ein Tintenklecks über ihrer Lippe. Die rosig durchscheinende Muschel ihres Ohrs. Den hellen Flaum auf ihren Wangen. Millimeter um Millimeter enthüllte sie sich mir. Halbwegs hoffte ich, in einem weiteren Augenblick die Zellen ihrer Haut wie unter einem Mikroskop betrachten zu können, und mir schoss ein Gedanke durch den Kopf, etwas in Richtung der alten Sorge, ich hätte zu viel von meinem Vater geerbt. Aber die verging schnell, denn zugleich mit ihrem Körper wurde mir mein eigener bewusst. Das Gefühl verschlug mir fast den Atem. Ein Kribbeln breitete sich wie Feuer in mir aus. Das Ganze muss in weniger als dreißig Sekunden passiert sein. Und doch. Danach war ich in das Geheimnis eingeweiht, das am Anfang des Endes der Kindheit steht. Es dauerte Jahre, bis ich all die Freude und den Schmerz, die in weniger als einer halben Minute in mich eingezogen waren, verausgabt hatte.

Ohne noch ein Wort zu sagen, ließ sie die kaputte Motte fallen und rannte hinein. Die schwere Eisentür fiel mit einem dumpfen Knall hinter ihr ins Schloss.

Alma.

Es ist lange her, dass ich diesen Namen aussprach.

Ich beschloss, ihre Liebe zu gewinnen, um jeden Preis. Aber: Ich wusste genug, um nicht sogleich anzugreifen. In den folgenden Wochen beobachtete ich sie auf Schritt und Tritt. Geduld war immer eine meiner Tugenden gewesen. Einmal hielt ich mich vier volle Stunden unter dem Anbau hinter dem Haus des Rabbis versteckt, um herauszufinden, ob der berühmte zaddik, der aus Baranowitz zu Besuch gekommen war, wirklich scheißen musste wie jeder andere. Die Antwort war ja. In meiner Begeisterung für die gewöhnlichen Geheimnisse des Lebens schoss ich mit einem Bestätigungsschrei unter dem Anbau hervor. Dafür bekam ich fünf Schläge auf die Finger und musste auf Maiskolben knien, bis meine Knie blutig waren. Aber: Es hatte sich gelohnt.

Ich fühlte mich wie ein Spion, der in eine fremde Welt eindringt: das Reich des weiblichen Geschlechts. Unter dem Vorwand, Beweismittel zu sammeln, stahl ich Mrs. Stanislawskis enorme Unterhose von der Wäscheleine. Allein im Anbau, beschnüffelte ich sie nach Herzenslust. Ich vergrub mein Gesicht in der Mulde. Zog sie mir über den Kopf. Hielt sie hoch und schwenkte sie, bis sie sich in dem Lüftchen blähte wie die Flagge einer neuen Nation. Als meine Mutter die Tür aufmachte, war ich gerade bei der Anprobe. Ich hätte dreimal hineingepasst.

Mit einem tödlichen Blick – und der beschämenden Strafe, an Stanislawskis Tür klopfen und ihr die Unterhose zurückbringen zu müssen – setzte meine Mutter dem allgemeinen Teil meiner Forschungen ein Ende. Und doch. Ich fuhr im Besonderen fort. Und ich kundschaftete gründlich. Fand heraus, dass Alma das jüngste von vier Kindern war und der Liebling ihres Vaters. Brachte in Erfahrung, dass sie am 21. Februar Geburtstag hatte (also fünf Monate und achtundzwanzig Tage älter war als ich), dass sie die in Sirup eingelegten Sauerkirschen, die über die Grenze aus Russland eingeschmuggelt wurden, über alles liebte, dass sie einmal heimlich ein halbes Glas davon vernascht hatte und ihre Mutter, als sie es bemerkte, ihr auch die andere Hälfte zu essen gab, weil sie glaubte, ihr würde so schlecht davon, dass ihr das Kirschenessen auf immer verginge. Aber das tat es nicht. Sie aß das ganze Ding leer und prahlte obendrein vor einem Mädchen aus unserer Klasse, sie hätte noch mehr davon essen können. Ich wusste auch, dass sie nach dem Willen ihres Vaters Klavier spielen lernen sollte, aber Geige spielen wollte, und dass dieser Streit in der Schwebe blieb, weil beide Seiten auf ihrem Standpunkt beharrten, bis Alma einen leeren Geigenkasten in die Hand bekam (den sie, wie sie behauptete, ausrangiert am Straßenrand gefunden hatte) und anfing, ihn vor den Augen ihres Vaters herumzutragen, manchmal sogar zum Schein den Geigenbogen führend, bis der stete Tropfen schließlich den Stein höhlte, der Vater nachgab und Vorkehrungen traf, damit einer ihrer Brüder, der in Wilna aufs Gymnasium ging, von dort eine Geige mitbringen konnte, und dass die neue Geige in einem glänzenden schwarzen, mit lila Samt ausgeschlagenen Lederkasten ankam und jede Weise, die Alma auf ihr spielen lernte, und mochte sie noch so traurig sein, den unverkennbaren Klang eines Triumphliedes besaß. Das wusste ich, weil ich sie spielen hörte, während ich draußen vor ihrem Fenster stand und mit der gleichen Inbrunst, mit der ich auf des großen zaddiks Schiss gewartet hatte, darauf wartete, dass sich mir das Geheimnis ihres Herzens offenbarte.

Aber: Es geschah nicht. Eines Tages kam sie um die Hausecke marschiert und baute sich vor mir auf. Ich habe dich in den letzten Wochen jeden Tag hier draußen gesehen, und jeder weiß, dass du mich in der Schule den ganzen Tag anstarrst. Wenn du mir also etwas sagen willst, warum sagst du es mir nicht einfach ins Gesicht, statt herumzuschleichen wie ein Unhold? Ich erwog meine Möglichkeiten. Entweder konnte ich wegrennen und nie wieder in die Schule gehen, vielleicht sogar außer Landes, mich als blinder Passagier nach Australien einschiffen. Oder alles riskieren und ihr ein Geständnis machen. Die Antwort lag auf der Hand: Ich ging nach Australien. Ich öffnete den Mund, um ihr für immer adieu zu sagen. Und doch. Was ich dann sagte, war: Ich wollte fragen, ob du mich heiraten willst.

Sie verzog keine Miene. Aber: Ihre Augen hatten denselben Glanz, den sie annahmen, wenn sie ihre Geige aus dem Kasten holte. Ein langer Augenblick verging. Wir starrten uns Aug in Auge an. Ich werde mal drüber nachdenken, sagte sie schließlich und marschierte um die Ecke zurück. Ich hörte die Tür knallen. Einen Augenblick später: die Anfangstöne von Dvoráks Als die Mutter mich noch lehrte singen. Und obwohl sie nicht ja gesagt hatte, wusste ich von da an, dass ich eine Chance hatte.

Das, um es kurz zu sagen, war das Ende meiner Beschäftigung mit dem Tod. Nicht, dass ich aufhörte, ihn zu fürchten. Ich hörte nur auf, an ihn zu denken. Wenn mir außer den Gedanken an Alma irgendein Rest Zeit geblieben wäre, hätte ich mir vielleicht Sorgen um den Tod gemacht. Aber die Wahrheit ist, dass ich lernte, eine Mauer gegen diese Art Gedanken zu errichten. Jedes Detail, das ich über die Welt erfuhr, war ein Stein in dieser Mauer, bis ich eines Tages begriff, dass ich mich selbst von einem Ort ausgeschlossen hatte, an den ich nicht mehr zurückkonnte. Und doch. Die Mauer schützte mich auch vor der schmerzlichen Klarheit der Kindheit. Selbst während der Jahre, die ich mich im Wald versteckte, in Bäumen, Löchern und Kellern, mit dem Atem des Todes im Nacken, dachte ich nicht über die Wahrheit nach: dass ich sterben musste. Erst nach meinem Herzinfarkt, als die Steine der Mauer, die mich von der Kindheit trennten, schließlich zu bröckeln begannen, kehrte die Angst vor dem Tod zurück. Und war genauso furchtbar wie immer.

 

Mit gebeugtem Rücken saß ich über den Unglaublichen, phantastischen Abenteuern des zahnlosen Wundermädchens Frankie von einem Leopold Gursky, der nicht ich war. Ich klappte den Buchdeckel nicht auf. Ich lauschte dem Regen, der durch die Dachrinnen floss.

Ich verließ die Bücherei. Als ich die Straße überquerte, schlug mir brutale Einsamkeit entgegen. Ich fühlte mich trostlos und leer. Allein gelassen, unbemerkt, vergessen stand ich auf dem Bürgersteig, ein Nichts, ein Staubsammler. Menschen eilten an mir vorbei. Und jeder, der vorüberging, war glücklicher als ich. Ich spürte den alten Neid. Hätte alles gegeben, um einer von ihnen zu sein.

Ich kannte einmal eine Frau. Sie hatte sich ausgeschlossen, und ich half ihr. Sie hatte eine meiner Karten gesehen, die ich überall wie Brosamen verstreute. Sie rief an, und ich kam so schnell ich konnte. Es war Thanksgiving, und niemand brauchte auszusprechen, dass keiner von uns wusste, wohin er mit sich sollte. Das Schloss sprang auf, sobald ich Hand anlegte. Sie mag geglaubt haben, das sei das Zeichen für eine andere Begabung. Drinnen ein in der Luft hängender Geruch von gebratenen Zwiebeln, ein Poster von Matisse, oder vielleicht Monet. Nein! Modigliani. Ich erinnere mich, weil eine nackte Frau darauf war, und um ihr zu schmeicheln, sagte ich: Sind Sie das? Es war lange her, dass ich mit einer Frau zusammen gewesen war. Ich roch das Schmierfett an meinen Händen und den Achselschweiß. Sie lud mich ein und kochte uns ein Essen. Ich entschuldigte mich, um mir das Haar zu kämmen und mich behelfsmäßig im Bad zu waschen. Als ich wieder herauskam, stand sie in ihrer Unterwäsche im Dunkeln. Auf der Straßenseite gegenüber war ein Neonschild und warf einen blauen Schatten auf ihre Beine. Ich wollte ihr sagen, es sei in Ordnung, wenn sie mir nicht ins Gesicht sehen wolle.

Ein paar Monate später rief sie wieder an. Sie bat mich, ihr einen Nachschlüssel zu machen. Ich freute mich für sie. Darüber, dass sie nicht mehr allein sein würde. Ich kann nicht sagen, dass ich mir deshalb leid getan hätte. Aber ich wollte ihr sagen: Es wäre einfacher für Sie, Sie würden ihn, den Mann, für den der Schlüssel ist, bitten, sich im Eisenwarenladen einen machen zu lassen. Und doch. Ich fertigte zwei Nachschlüssel an. Einen gab ich ihr, und einen behielt ich. Lange Zeit trug ich ihn in der Tasche, nur um so tun zu können als ob.

Eines Tages ging mir auf, dass ich mir überall Einlass verschaffen konnte. Daran hatte ich noch nie gedacht. Ich war ein Immigrant; es dauerte lange, bis die Furcht überwunden war, sie würden mich zurückschicken. Ich lebte in der Angst, einen Fehler zu machen. Einmal verpasste ich sechs Züge, weil ich nicht herausbekam, wie man nach einem Fahrschein fragt. Ein anderer wäre vielleicht einfach eingestiegen. Aber nicht ein Jude aus Polen, der deportiert zu werden fürchtet, wenn er auch nur vergisst, die Klospülung zu ziehen. Ich hielt den Kopf gesenkt. Ich schloss auf und zu, das war alles. Wo ich herkam, wäre ich ein Dieb gewesen, wenn ich Schlösser geknackt hätte, aber hier, in Amerika, war es mein Beruf.

Mit der Zeit wurde ich gelassener. Hier und dort setzte ich meiner Arbeit ein i-Tüpfelchen auf. Eine halbe Drehung am Ende, die überflüssig war, aber eine gewisse Eleganz besaß. Ich hörte auf, nervös zu sein, und wurde gerissen. Jedes Schloss, das ich einbaute, prägte ich mit meinen Initialen. Eine winzige Signatur über dem Schlüsselloch. Es machte nichts, dass niemand es je merken würde. Genug, dass ich es wusste. Ich blieb all den markierten Schlössern mit einem Stadtplan auf der Spur, den ich so oft auf- und zugefaltet hatte, dass manche Straßen in den Kniffen verschwunden waren.

Eines Abends ging ich ins Kino. Vor dem Hauptfilm lief ein Streifen über Houdini. Das war ein Mann, der sich in unterirdischer Versenkung aus einer Zwangsjacke befreien konnte. Sie steckten ihn in eine mit Ketten verschlossene Kiste, warfen sie ins Wasser, und schon tauchte er wieder auf. Es wurde gezeigt, wie er trainierte und dabei die Zeit stoppte. Er übte so lange, bis er es binnen Sekunden fertig brachte. Von da an machte meine Arbeit mich noch stolzer. Ich nahm die schwierigsten Schlösser mit nach Hause und zählte die Sekunden. Dann halbierte ich die Zeit und übte, bis ich es geschafft hatte. Ich machte weiter, bis meine Finger taub waren.

Ich lag im Bett und träumte von immer schwierigeren Aufgaben, als es mir dämmerte: Wenn ich das Schloss einer fremden Wohnung knacken konnte, warum dann nicht auch das von Kossar’s Bialys? Oder das der Stadtbücherei? Oder das von Woolworth? Und rein theoretisch, warum nicht das der … Carnegie Hall?

Die Gedanken jagten mir durch den Kopf, und mein Körper wurde kribblig vor Erregung. Ich würde nur einziges Mal reingehen und dann wieder hinaus, mehr nicht. Vielleicht noch eine kleine Signatur.

Ich plante wochenlang. Erkundete das Gebäude. Ließ kein Detail unbeachtet. Es reicht wohl zu sagen: Ich tat’s. In den frühen Morgenstunden durch die Bühnentür an der 56th Street. Ich brauchte 103 Sekunden. Zu Hause schaffte ich das gleiche Schloss in 48. Aber draußen war es kalt, und meine Finger waren klamm.

Der große Arthur Rubinstein sollte an diesem Abend spielen. Der Flügel stand allein auf der Bühne, ein schwarz polierter Steinway. Ich trat hinter den Vorhängen hervor. Nur die endlosen Sitzreihen waren im Schein der Exit-Leuchtzeichen zu erkennen. Ich setzte mich auf den Hocker und trat mit der Fußspitze ein Pedal. Ich wagte nicht, die Finger auf die Tasten zu legen.

Als ich aufblickte, stand sie da. Klar und deutlich, ein fünfzehnjähriges Mädchen, das Haar zu einem Zopf geflochten, keine zwei Meter von mir entfernt. Sie hob ihre Geige, jene, die ihr Bruder ihr aus Wilna mitgebracht hatte, und senkte das Kinn. Ich versuchte, ihren Namen zu sagen. Aber: Er blieb mir im Hals stecken. Im Übrigen wusste ich, dass sie mich nicht hören konnte. Sie setzte den Bogen an. Ich hörte die ersten Töne des Dvorák. Ihre Augen waren geschlossen. Die Musik floss ihr aus den Fingern. Sie spielte sie fehlerfrei, wie nie in ihrem Leben.

Als der letzte Ton verklang, war sie schon fort. Mein Klatschen hallte im leeren Saal wider. Ich stellte es ein, und die Stille brauste mir in den Ohren. Ich warf einen letzten Blick auf den leeren Raum. Dann eilte ich den gleichen Weg hinaus, den ich gekommen war.

Ich tat es nie wieder. Ich hatte es mir selbst bewiesen, und das war genug. Gelegentlich komme ich am Eingang eines gewissen Privatclubs – ich will keine Namen nennen – vorbei, und dann denke ich mir, Schalom, Scheißkerle, hier ist ein Jude, den ihr nicht ausschließen könnt. Aber nach besagter Nacht habe ich mein Glück nie mehr versucht. Wenn ich im Gefängnis landete, fänden sie die Wahrheit heraus: Ich bin kein Houdini. Und doch. In meiner Einsamkeit tröstet es mich zu denken, dass mir die Türen der Welt, wenn sie auch geschlossen sind, nie ganz verschlossen bleiben.

Dies war der Trost, den ich mir dafür suchte, dass ich im strömenden Regen draußen vor der Bücherei stand, während Fremde vorbeieilten. War nicht schließlich das der wahre Grund, warum mein Cousin mich das Geschäft gelehrt hatte? Er wusste, ich konnte nicht ewig unsichtbar bleiben. Zeig mir einen Juden, der überlebt, hatte er einmal gesagt, als ich zusah, wie ein Schloss unter seinen Händen nachgab, und ich zeige dir einen Zauberer.

Ich stand auf der Straße und ließ mir den Regen in den Nacken tropfen. Ich kniff die Augen zusammen. Tür um Tür um Tür um Tür um Tür um Tür um Tür sprang auf.

 

Nach der Bücherei, nach diesem Nichts von einem zahnlosen Wundermädchen Frankie, ging ich nach Hause. Ich zog meinen Mantel aus und hängte ihn zum Trocknen an den Haken. Setzte den Wasserkessel auf. Hinter mir räusperte sich jemand. Mich hätte fast der Schlag getroffen. Aber es war nur Bruno, der im Dunkeln saß. Was machst du da, willst du, dass ich einen Anfall bekomme?, japste ich, während ich das Licht anmachte. Die Seiten des Buches, das ich geschrieben hatte, als ich ein Junge war, lagen verstreut am Boden. O nein, sagte ich. Das ist doch nicht dein –

Er gab mir keine Chance.

Nicht schlecht, sagte er. Nicht, wie ich sie beschrieben hätte. Aber was soll ich sagen, das ist deine Sache.

Schau, sagte ich.

Du musst mir nichts erklären, sagte er. Es ist ein gutes Buch. Ich mag den Stil. Abgesehen von den Kinkerlitzchen, die du gestohlen hast – sehr einfallsreich. Und rein literarisch gesprochen –

Ich brauchte einen Moment. Dann wurde mir der Unterschied bewusst. Er sprach Jiddisch mit mir.

– rein literarisch gesprochen, was kann man daran nicht mögen? Egal, ich habe mich immer gefragt, an was du arbeitest. Jetzt weiß ich es endlich, nach all den Jahren.

Und ich habe mich gefragt, was du wohl schreiben magst, sagte ich in Erinnerung an früher, ein Lebensalter zurück, als wir beide zwanzig waren und Schriftsteller werden wollten.

Er zuckte die Achseln, wie nur Bruno es kann. Das Gleiche wie du.

Das Gleiche?

Natürlich das Gleiche.

Ein Buch über sie?

Ein Buch über sie, sagte Bruno. Er schaute weg, aus dem Fenster. Dann sah ich, dass er das Foto auf dem Schoß hielt, das von ihr und mir vor dem Baum, von dem sie nicht wusste, dass ich unsere Initialen hineingeritzt hatte. A + L. Kaum zu sehen. Aber: Sie sind da.

Er sagte: Sie war gut im Geheimhalten.

Da fiel es mir wieder ein. Jener Tag vor sechzig Jahren, als ich in Tränen aufgelöst aus ihrem Haus gekommen war und ihn hatte warten sehen, mit einem Notizbuch in der Hand an einen Baum gelehnt, um zu ihr zu gehen, nachdem ich weg war. Noch ein paar Monate zuvor waren wir engste Freunde gewesen. Mit ein paar anderen Jungen hatten wir halbe Nächte durchgemacht, geraucht und über Bücher geredet. Und doch. Als ich ihn an jenem Nachmittag da stehen sah, waren wir keine Freunde mehr. Wir sprachen nicht einmal mehr miteinander. Ich ging einfach an ihm vorbei, als wäre er nicht da.

Nur eine Frage, sagte Bruno jetzt, sechzig Jahre nachher. Was ich immer wissen wollte.

Was?

Er hustete. Dann blickte er zu mir auf. Hat sie dir gesagt, du könntest besser schreiben als ich?

Nein, log ich. Und dann sagte ich ihm die Wahrheit. Das brauchte mir niemand zu sagen.

Es folgte ein langes Schweigen.

Seltsam. Ich habe immer gedacht – Er unterbrach sich.

Was?, sagte ich.

Ich dachte, wir kämpften um etwas mehr als um ihre Liebe, sagte er.

Jetzt war ich es, der aus dem Fenster schaute.

Was ist mehr als ihre Liebe?, fragte ich.

Schweigen.

Ich habe gelogen, sagte Bruno. Ich habe noch eine Frage.

Welche?

Warum stehst du Narr immer noch hier herum?

Was meinst du damit?

Dein Buch, sagte er.

Was ist damit?

Geh, hol’s dir wieder.

Ich kniete mich hin und begann die Seiten aufzulesen.

Nicht dieses!

Welches sonst?

Ai-jai-jai!, sagte Bruno und schlug sich an die Stirn. Muss ich dir denn alles sagen?

Ein leises Lächeln trat auf meine Lippen.

Dreihunderteins, sagte Bruno. Er zuckte die Achseln und schaute weg, aber ich glaubte, ihn lächeln zu sehen. Das ist keine Kleinigkeit.

Die Geschichte der Liebe
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