FLUT
1. WIE MAN OHNE STREICHHÖLZER FEUER MACHT
Ich suchte im Internet nach Alma Mereminski. Ich dachte, es könnte ja sein, dass jemand über sie geschrieben hatte oder ich irgendetwas über ihr Leben fand. Ich tippte ihren Namen ein und ging auf Suchen. Aber es kam nichts, außer einer Liste von Immigranten, die 1891 in New York City angekommen waren (Mendel Mereminski), und einer Liste von Holocaust-Opfern, die in Yad Vashem erstellt worden war (Adam Mereminski, Fanny Mereminski, Nacham, Zellig, Hershel, Bluma, Ida, aber zu meiner Erleichterung, weil ich sie nicht verlieren wollte, bevor ich überhaupt begonnen hatte, sie zu suchen, keine Alma).
2. MEIN BRUDER RETTET MIR STÄNDIG DAS LEBEN
Onkel Julian kam eine Weile zu uns. Er wollte so lange in New York bleiben, bis er die letzten Forschungen zu einem Buch über den Maler und Bildhauer Alberto Giacometti, an dem er seit fünf Jahren schrieb, abgeschlossen hatte. Tante Frances musste in London bleiben und auf den Hund aufpassen. Onkel Julian schlief in Birds Bett, Bird in meinem und ich auf dem Fußboden in meinem hundertprozentigen Daunenschlafsack, obwohl ein richtiger Naturmensch keinen gebraucht hätte, weil er im Notfall einfach ein paar Vögel töten und sich ihre Federn zum Warmhalten unter die Kleidung stopfen konnte.
Nachts hörte ich meinen Bruder manchmal im Schlaf reden. Halbe Sätze, nichts, was zu verstehen war. Bis auf einmal, als er so laut sprach, dass ich glaubte, er sei wach. «Tritt da nicht hin», sagte er. «Was?», fragte ich, indem ich mich aufsetzte. «Es ist zu tief», murmelte er und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand.
3. ABER WARUM
An einem Samstag gingen Bird und ich mit Onkel Julian ins Museum of Modern Art. Bird bestand darauf, seinen Eintritt selbst aus seiner Limonadenkasse zu bezahlen. Wir liefen herum, während Onkel Julian sich oben mit einem Kurator unterhielt. Bird fragte einen Aufpasser, wie viele Wasserspender es im Gebäude gebe. (Fünf.) Er machte unheimliche Videospielgeräusche, bis ich ihm sagte, er solle still sein. Dann zählte er die Leute mit sichtbaren Tätowierungen. (Acht.) Wir standen vor einem Gemälde mit einem Haufen auf dem Boden zusammengesunkener Menschen. «Warum liegen sie so da?», fragte er. «Jemand hat sie umgebracht», sagte ich, obwohl ich gar nicht genau wusste, warum sie da lagen und ob es überhaupt Menschen waren. Ich ging quer durch den Saal, um mir ein anderes Gemälde anzusehen. Bird kam hinterher. «Aber warum hat jemand sie umgebracht?» – «Weil er Geld brauchte und in ein Haus eingebrochen ist», sagte ich und betrat die abwärts führende Rolltreppe.
In der U-Bahn nach Hause tippte Bird mir auf die Schulter. «Aber warum brauchte er Geld?»
4. STOCHERN IM NEBEL
«Warum glaubst du, diese Alma in Geschichte der Liebe ist wirkliche Person?», fragte Misha. Wir saßen auf der Bank hinter seiner Mietskaserne, die Füße im Sand vergraben, und aßen Mrs. Shklovskys Sandwiches mit Roastbeef und Meerrettich. «Eine», sagte ich. – «Eine was?» – «Eine wirkliche Person.» – «Schon gut», sagte Misha. «Beantworte die Frage.» – «Natürlich ist sie wirklich.» – «Aber woher weißt du?» – «Weil es nur eine Erklärung dafür gibt, warum Litvinoff, als er das Buch schrieb, ihr keinen spanischen Namen gegeben hat wie allen anderen.» – «Warum?» – «Er konnte nicht.» – «Warum nicht?» – «Begreifst du nicht?», sagte ich. «Er konnte jede Einzelheit verändern, aber nicht sie.» – «Aber warum?» – Seine Begriffsstutzigkeit war deprimierend. «Weil er in sie verliebt war!», sagte ich. «Weil sie für ihn das einzig Wirkliche war.» Misha kaute auf einem Stück Roastbeef herum. «Ich glaube, du siehst zu viele Filme», sagte er. Aber ich wusste, dass ich Recht hatte. Wenn man die Geschichte las, brauchte man kein Genie zu sein, um das zu erraten.
5. DIE DINGE, DIE ICH SAGEN WILL, BLEIBEN MIR IM MUND STECKEN
Wir gingen über die hölzerne Promenade nach Coney Island. Es war brüllend heiß, und ein Rinnsal Schweiß tropfte Misha von den Schläfen. Im Vorbeigehen grüßte er eine Gruppe Karten spielender alter Leute. Ein hutzliges Männchen in einer winzigen Badehose winkte zurück. «Sie glauben, du bist meine Freundin», verkündete Misha. Genau in dem Moment stolperte ich über meinen großen Zeh. Ich spürte, wie mir die Glut ins Gesicht schoss, und dachte, ich sei der ungeschickteste Mensch der Welt. «Bin ich aber nicht», sagte ich, obwohl ich das gar nicht sagen wollte. Ich schaute weg, tat so, als interessiere ich mich für einen Jungen, der einen aufblasbaren Hai ans Wasser zog. «Ich weiß», sagte Misha. «Aber sie wissen nicht.» Er war fünfzehn geworden, fast zehn Zentimeter gewachsen und fing an, den dunklen Flaum über der Lippe zu rasieren. Als wir ins Wasser gingen, beobachtete ich, wie sein Körper in die Wellen tauchte, und das machte mir ein Gefühl im Magen, das kein Bauchweh war, sondern etwas anderes.
«Ich wette hundert Dollar, dass sie im Telefonverzeichnis steht», sagte ich. Ich glaubte keine Spur daran, aber mir fiel nichts Besseres ein, um das Thema zu wechseln.
6. JEMANDEN SUCHEN, DEN ES HÖCHSTWAHRSCHEINLICH GAR NICHT GIBT
«Ich möchte die Nummer von Alma Mereminski», sagte ich. «M-E-R-E-M-I-N-S-K-I.» – «Welcher Bezirk?», fragte die Frau. «Ich weiß nicht», sagte ich. Es gab eine Pause, und ich hörte Schlüssel klimpern. Misha sah einem Mädchen in türkisfarbenem Bikini nach, das auf Rollerblades vorbeifuhr. Die Frau am Telefon sagte etwas. «Wie bitte?», sagte ich. «Ich sagte, ich habe eine A. Mereminski, 147th in der Bronx», sagte sie. «Die Nummer wird angesagt.»
Ich kritzelte sie auf meine Hand. Misha kam rüber. «Und?» – «Hast du einen Quarter?», fragte ich. Es war töricht, aber nun war ich schon einmal so weit gegangen. Er zog die Augenbrauen hoch und langte in die Tasche seiner Shorts. Ich wählte die Nummer aus meiner Handfläche. Ein Mann nahm ab. «Ist Alma zu sprechen?», fragte ich. «Wer?», sagte er. «Ich suche Alma Mereminski.» – «Hier gibt es keine Alma», erklärte er. «Sie müssen sich verwählt haben. Hier ist Artie», sagte er und legte auf.
Wir liefen zurück zu Mishas Wohnung. Ich ging ins Bad, das nach dem Parfüm seiner Schwester roch und in dem dicht gedrängt die angegraute Unterwäsche seines Vaters zum Trocknen auf der Leine hing. Als ich herauskam, fand ich Misha hemdlos in seinem Zimmer, ein russisches Buch lesend. Während er duschte, wartete ich auf seinem Bett und blätterte in den kyrillischen Seiten. Ich hörte das Wasser plätschern und das Lied, das er sang, verstand aber nicht die Worte. Als ich auf seinem Kissen lag, roch es nach ihm.
7. WENN DAS SO WEITERGEHT
Als Misha klein war, fuhr seine Familie jeden Sommer auf die Datscha, und dann holte er mit seinem Vater die Netze vom Dachboden, und sie versuchten, die schwärmenden Schmetterlinge zu fangen, von denen die Luft erfüllt war. Das alte Haus war voller Porzellan von seiner Großmutter, das aus China stammte, und eingerahmten Schmetterlingen, die drei Generationen von Shklovskys in Kindertagen gefangen hatten. Mit der Zeit fielen die Schuppen ab, und wenn man barfuß durchs Haus rannte, klirrte das Geschirr, und Flügelstaub setzte sich unter die Fußsohlen.
Vor ein paar Monaten, am Abend vor Mishas fünfzehntem Geburtstag, hatte ich beschlossen, ihm eine Karte mit einem Schmetterling darauf zu basteln. Ich ging online, um ein Bild von einem russischen Schmetterling zu suchen, fand aber stattdessen einen Artikel, in dem berichtet wurde, dass die meisten Schmetterlingsarten in den letzten zwanzig Jahren stark zurückgegangen waren und ihre Aussterberate ungefähr zehntausendmal höher lag, als sie liegen sollte. Außerdem stand da, dass im Durchschnitt jeden Tag vierundsiebzig Insekten-, Pflanzen- oder Tierarten aussterben. Aufgrund dieser und anderer erschreckender Statistiken, hieß es weiter, seien die Wissenschaftler überzeugt, dass wir uns mitten im sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte befinden. Fast ein Viertel aller Säugetiere der Welt sei innerhalb der nächsten dreißig Jahre vom Aussterben bedroht. Ein Achtel aller Vogelarten werde es schon bald nicht mehr geben. Neunzig Prozent der größten Fischarten seien in den letzten fünfzig Jahren verschwunden.
Ich gab Massenaussterben in die Suchmaschine ein.
Das letzte Massenaussterben ereignete sich vor rund 65 Millionen Jahren, vermutlich ausgelöst durch einen Asteroideneinschlag in unseren Planeten, bei dem alle Dinosaurier und etwa die Hälfte der Meerestiere ausgelöscht wurden. Davor kam das Massenaussterben am Ende der Trias (ebenfalls durch Asteroideneinschlag und vermutlich Vulkanismus), dem bis zu fünfundneunzig Prozent aller Arten zum Opfer fielen, und noch davor das im späten Devon. Das gegenwärtige Massenaussterben ist offenbar das schnellste in der ganzen 4,5 Milliarden Jahre alten Erdgeschichte und beruht, im Gegensatz zu den anderen, nicht auf Naturereignissen, sondern auf menschlicher Ignoranz. Wenn das so weitergeht, wird die Hälfte aller Arten in hundert Jahren vom Erdboden verschwunden sein.
Deshalb machte ich keinen Schmetterling auf Mishas Karte.
8. ZWISCHENEISZEITLICH
Im selben Februar, in dem meine Mutter den Brief mit der Bitte um Übersetzung der Geschichte der Liebe bekam, fielen fast 60 Zentimeter Schnee, und Misha und ich bauten im Park eine Schneehöhle. Wir arbeiteten stundenlang, bis uns die Finger abstarben, aber wir gruben weiter. Als die Höhle fertig war, krochen wir hinein. Blaues Licht drang durch den Eingang. Wir saßen Schulter an Schulter. «Vielleicht ich nehme dich eines Tages mit nach Russland», sagte Misha. «Wir könnten im Ural zelten», sagte ich. «Oder einfach in der kasachischen Steppe.» Beim Sprechen atmeten wir kleine Wolken aus. «Zeige dir Zimmer, wo ich mit meinem Großvater gewohnt habe», sagte Misha, «und wie man auf der Newa Schlittschuh läuft.» – «Ich könnte Russisch lernen.» Misha nickte. «Ich zeige dir. Erstes Wort: Dai.» – «Dai.» – «Zweites Wort: Ruku.» – «Was bedeutet das?» – «Sag es erst.» – «Ruku.» – «Dai ruku.» – «Dai ruku. Was bedeutet das?» Misha nahm meine Hand und hielt sie fest.
9. WENN SIE WIRKLICH IST
«Was bringt dich auf Idee, dass Alma nach New York gekommen ist?», fragte Misha. Wir hatten die zehnte Runde Zehner raus gespielt, und jetzt lagen wir am Boden seines Zimmers und sahen an die Decke. Ich hatte Sand im Badeanzug und zwischen den Zehen. Mishas Haar war noch nass, und ich roch sein Deo.
«Im vierzehnten Kapitel schreibt Litvinoff von einem Faden, den ein nach Amerika fahrendes Mädchen über den Ozean spannte. Du weißt ja, er war aus Polen, und meine Mom hat gesagt, er sei geflohen, bevor die Deutschen kamen. Die Nazis haben in seinem Dorf so gut wie alle umgebracht. Wenn er also nicht geflohen wäre, hätte es keine Geschichte der Liebe gegeben. Und wenn Alma aus demselben Dorf kam, worauf ich hundert Dollar wetten würde –»
«Du schuldest mir schon hundert.»
«Die Sache ist die: In den Teilen, die ich gelesen habe, gibt es Geschichten über Alma, als sie noch sehr jung war, ungefähr zehn. Wenn sie also wirklich ist, was ich glaube, muss Litvinoff sie als Kind gekannt haben. Woraus zu schließen ist, dass sie wahrscheinlich aus demselben Dorf waren. Und Yad Vashem hat keine Alma Mereminski aus Polen auf der Liste, die im Holocaust gestorben wäre.»
«Wer ist Yad Vashem?»
«Das Holocaust-Museum in Israel.»
«Na gut, aber vielleicht sie ist gar keine Jüdin. Und selbst wenn – selbst wenn sie ist wirklich, und Polin, und Jüdin, UND nach Amerika gefahren –, wie willst du wissen, ob sie nicht in andere Stadt gegangen ist? Vielleicht nach Ann Arbor.» – «Ann Arbor?» – «Ich habe Cousin dort», sagte Misha. «Aber egal, ich dachte, du suchst Jacob Marcus, nicht diese Alma.»
«Tue ich auch», sagte ich. Ich fühlte seinen Handrücken meinen Oberschenkel streifen. Ich wusste nicht, wie ich sagen sollte, dass ich jetzt, nachdem ich mich eigentlich auf die Suche nach jemandem gemacht hatte, der meine Mutter wieder glücklich machen könnte, auch etwas anderes erfahren wollte. Über die Frau, nach der ich benannt war. Und über mich selbst.
«Vielleicht hat es ja etwas mit Alma zu tun, dass Jacob Marcus das Buch übersetzt haben will», sagte ich, nicht weil ich es glaubte, sondern weil mir nichts Besseres einfiel. «Vielleicht hat er sie gekannt. Vielleicht versucht er sie zu finden.»
Ich war froh, dass Misha nicht fragte, warum Litvinoff, wenn er so in Alma verliebt gewesen war, ihr nicht nach Amerika gefolgt war; warum er sich für Chile entschieden und jemanden namens Rosa geheiratet hatte. Der einzige Grund, den ich mir vorstellen konnte, war, dass ihm keine Wahl geblieben war.
Hinter der Wand schrie Mishas Mutter seinen Vater an. Misha stützte sich auf den Ellbogen und sah zu mir herab. Ich dachte an die Zeit im letzten Sommer, als ich dreizehn gewesen war und wir auf dem Dach gestanden hatten, der Teer weich unter unseren Füßen, jeder mit der Zunge im Mund des anderen, während er mir eine Lektion im russisch Küssen à la Shklovsky erteilte. Jetzt kannten wir uns schon zwei Jahre, die Seite meiner Wade berührte sein Schienbein, und sein Bauch drückte gegen meine Rippen. Er sagte: «Ich glaube nicht, dass es Ende der Welt wäre, meine Freundin zu sein.» Ich öffnete den Mund, aber es kam nichts heraus. Sieben Sprachen waren mir in die Wiege gelegt worden; wie schön wäre es gewesen, wenn ich nur eine einzige hätte sprechen können. Aber ich konnte nicht, also beugte er sich herunter und küsste mich.
10. DANN
war seine Zunge in meinem Mund. Ich wusste nicht, ob ich seine mit meiner berühren sollte oder ob ich meine besser an der Seite ließ, damit seine sich ungestört von meiner bewegen konnte. Ehe ich mich entschließen konnte, nahm er seine Zunge wieder heraus und schloss den Mund, und ich ließ meinen aus Versehen offen, was ein Fehler zu sein schien. Ich dachte, das wäre wohl das Ende, aber da machte er den Mund wieder auf, und ich begriff nicht, was er wollte, und so leckte er am Ende meine Lippen. Darauf öffnete ich sie und streckte meine Zunge heraus, aber zu spät, weil er seine schon wieder im Mund hatte. Dann kriegten wir es annähernd hin, den Mund gleichzeitig aufzumachen, als wollten wir beide etwas sagen, und ich legte meine Hand um seinen Hals, wie Eva Marie Saint es in der Zugszene von Der unsichtbare Dritte bei Cary Grant macht. Wir wälzten uns ein wenig herum, und es war, als rubbele sein Unterleib an meinem, aber nur eine Sekunde lang, weil dann meine Schulter aus Versehen gegen sein Akkordeon gequetscht wurde. Rund um meinen Mund war alles voller Speichel, das Atmen schwierig. Draußen vor dem Fenster flog ein Flugzeug in Richtung JFK vorbei. Sein Vater fing an, seine Mutter zu beschimpfen. «Worüber streiten sie?», fragte ich. Misha zog den Kopf zurück. Ein Gedanke durchfuhr sein Gesicht in einer Sprache, die ich nicht verstand. Ich fragte mich, ob sich zwischen uns etwas verändern würde. «Merde», sagte er. «Was bedeutet das?», fragte ich, und er sagte: «Das ist Französisch.» Er wickelte mir eine Haarsträhne ums Ohr und fing wieder an, mich zu küssen. «Misha?», flüsterte ich. «Schh», sagte er, ließ seine Hand unter mein Hemd gleiten und umfasste meine Taille. «Nicht», sagte ich und setzte mich auf. Und dann sagte ich: «Ich mag jemand anderen.» Kaum hatte ich es ausgesprochen, bereute ich es schon. Als klar war, dass es nichts mehr zu sagen gab, zog ich meine Turnschuhe an, die voller Sand waren. «Wahrscheinlich wundert sich meine Mutter schon, wo ich bleibe», sagte ich, was nicht stimmte, wie wir beide wussten. Als ich aufstand, hörte man Sand rieseln.
11. EINE WOCHE VERGING, UND MISHA UND ICH SPRACHEN NICHT MITEINANDER
In Erinnerung an alte Zeiten las ich wieder einmal Essbare Pflanzen und Blüten in Nordamerika. Ich stieg aufs Dach unseres Hauses, um zu sehen, ob ich irgendwelche Sternbilder erkennen konnte, aber da waren zu viele Lichter, und so ging ich wieder hinunter in den Garten und übte, Dads Zelt im Dunkeln aufzubauen, was ich in drei Minuten und vierundfünfzig Sekunden schaffte, fast eine Minute schneller als mein eigener Rekord. Als ich fertig war, legte ich mich hinein und versuchte, mich an alles zu erinnern, was mit Dad zu tun hatte, an so vieles wie nur möglich.
12. ERINNERUNGEN, DIE MEIN VATER MIR VERMITTELT HAT
– echad
Der Geschmack von rohem Zuckerrohr
– schtajim
Die ungeteerten Straßen in Tel Aviv, als Israel noch ein junges Land war, und dahinter die Felder voller wild wachsender Alpenveilchen
– schalosch
Der Stein, den er einem Jungen, der seinen älteren Bruder schikaniert hatte, an den Kopf warf und der ihm Respekt bei den anderen verschaffte
– arba
Mit seinem Vater im moschaw Hühner kaufen und beobachten, wie die Beine zucken, wenn der Hals schon abgeschnitten ist
– hamesch
Das Rauschen des Kartenspiels, das von seiner Mutter und ihren Freundinnen gemischt wurde, wenn sie samstagabends nach dem Sabbat Canasta spielten
– schesch
Seine Reise zu den Iguaçu-Fällen, die er unter großen Mühen und Entbehrungen allein unternahm
– schewa
Sein erster Eindruck von dem Mädchen, das seine Frau und meine Mutter werden sollte: in gelben Shorts, ein Buch lesend auf der Wiese des Kibbuz Yavne
– schmone
Das Zirpen der Zikaden in der Nacht, aber auch die Stille
– tescha
Der Duft von Jasmin, Hibiskus und Orangenblüten
– eser
Die Blässe der Haut meiner Mutter
13. ZWEI WOCHEN VERGINGEN, MISHA UND ICH HATTEN IMMER NOCH NICHT MITEINANDER GESPROCHEN, ONKEL JULIAN WAR NICHT ABGEREIST, UND ES WAR FAST ENDE AUGUST
Die Geschichte der Liebe hat neununddreißig Kapitel, und meine Mutter hatte weitere elf übersetzt, seit sie Jacob Marcus die ersten zehn geschickt hatte, sodass sie insgesamt auf einundzwanzig kam. Das bedeutete, sie war über die Hälfte hinaus und würde ihm bald wieder ein Päckchen schicken. Ich schloss mich im Bad ein, dem einzigen Ort, wo ich allein sein konnte, und versuchte, einen zweiten Brief an Jacob Marcus zu entwerfen, aber alles, was ich schrieb, klang falsch, banal oder verlogen. Was es auch war.
Ich saß auf dem Klo, den Notizblock auf den Knien. Neben meinem Knöchel war der Abfallkorb und in dem Korb ein zerknülltes Stück Papier. Ich nahm es heraus. Hund, Frances?, stand da. Hund? Deine Worte sind schweres Geschütz. Aber ich nehme an, so sind sie auch gemeint. Nein, ich bin nicht in Flo «verliebt», wie du sagst. Wir sind alte Kollegen, und zufällig ist sie jemand, der sich für Dinge interessiert, für die ich mich auch interessiere. KUNST, Fran, erinnere dich, Kunst, die dir doch, seien wir ehrlich, keinen feuchten Dreck mehr wert ist, oder? Es scheint dir solchen Spaß zu machen, mich zu kritisieren, dass du gar nicht merkst, wie sehr du dich verändert hast, kaum noch wiederzuerkennen als das Mädchen, das ich einmal – Hier riss der Brief ab. Ich knüllte ihn sorgfältig wieder zusammen und legte ihn in den Abfallkorb zurück. Ich kniff die Augen zusammen. Ich dachte, Onkel Julian würde seine Forschungen zu Alberto Giacometti wohl nicht so bald zu Ende bringen.
14. DANN HATTE ICH EINE IDEE
Irgendwo müssen alle Todesfälle registriert sein. Die Geburten und die Todesfälle – irgendwo in der Stadt muss es einen Ort geben, eine Behörde oder ein Büro, das ihnen auf der Spur bleibt. Es muss Akten geben. Akten über Akten über Menschen, die in New York geboren und gestorben sind. Manchmal, wenn man bei untergehender Sonne über den Brooklyn-Queens-Expressway fährt, hat man einen Blick auf die Tausende von Grabsteinen, hinter denen die Skyline in Lichtern aufgeht und der Himmel orange glüht, und man bekommt das seltsame Gefühl, dass die Elektrizität der ganzen Stadt von denen erzeugt wird, die dort begraben sind.
Und so dachte ich: Vielleicht gibt es eine Urkunde.
15. AM NÄCHSTEN TAG WAR SONNTAG
Draußen regnete es, also saß ich herum, las Die Straße der Krokodile, die ich in der Bücherei ausgeliehen hatte, und fragte mich, ob Misha wohl anrufen würde. Ich wusste, dass ich auf irgendeiner Spur war, als ich in der Einleitung las, der Autor stamme aus einem Dorf in Polen. Ich dachte: Entweder hat Jacob Marcus wirklich einen Narren an polnischen Schriftstellern gefressen, oder er will mir einen Hinweis geben. Das heißt meiner Mutter.
Das Buch war nicht dick, und nachmittags hatte ich es durchgelesen. Um fünf kam Bird triefend nach Hause. «Es fängt an», sagte er, berührte die Mesusa an der Küchentür und küsste seine Fingerspitzen. «Was fängt an?», fragte ich. «Der Regen.» – «Morgen soll er wieder aufhören», sagte ich. Er goss sich ein Glas Orangensaft ein, schüttete es hinunter und ging durch die Tür zurück, insgesamt vier Mesusot küssend, bevor er in sein Zimmer gelangte.
Onkel Julian kam von seinem Tag im Museum nach Hause. «Hast du Birds Klubhaus gesehen?», fragte er, nahm eine Banane von der Anrichte und schälte sie über dem Mülleimer. «Ganz schön beeindruckend, findest du nicht?»
Aber am Montag hörte der Regen nicht auf, und Misha rief auch nicht an, also zog ich meinen Regenmantel über, suchte mir einen Schirm und machte mich auf den Weg zum Stadtarchiv, wo dem Internet zufolge die Geburts- und Todesfälle registriert wurden.
16. 31 CHAMBERS STREET, ZIMMER 103
«Mereminski», sagte ich zu dem Mann mit der runden schwarzen Brille hinter dem Tisch. «M-E-R-E-M-I-N-S-K-I.» – «M-E-R», sagte der Mann, indem er die Buchstaben aufschrieb. «E-M-I-N-S-K-I», sagte ich. «I-S-K-Y», sagte der Mann. «Nein», sagte ich. «M-E-R –» – «M-E-R», sagte er. «E-M-I-N», sagte ich, und er sagte, «E-Y-N.» – «Nein!», sagte ich, «E-M-I-N.» Er starrte mich verständnislos an. Also sagte ich: «Soll ich es vielleicht aufschreiben?»
Er sah sich den Namen an. Dann fragte er, ob Alma M-E-R-E-M-I-N-S-K-I meine Großmutter oder Urgroßmutter sei. «Ja», sagte ich, weil ich glaubte, das könne den Vorgang beschleunigen. «Was?», sagte er. «Ur», sagte ich. Er sah mich an und kaute ein Stück Nagelhaut, dann ging er nach hinten und kam mit einem Kasten Mikrofilmen wieder. Als ich die erste Rolle einlegte, blieb der Film hängen. Ich versuchte, den Mann darauf aufmerksam zu machen, indem ich winkte und auf das verhedderte Band deutete. Er kam, seufzte und zog es durch. Nach der dritten Rolle hatte ich den Dreh heraus. Ich checkte alle fünfzehn. In diesem Kasten gab es keine Alma Mereminski, also brachte er einen anderen, und danach noch einen. Ich musste aufs Klo und zog mir auf dem Weg ein Päckchen Twinkies und eine Cola aus dem Automaten. Der Mann kam heraus und holte sich einen Riegel Snickers. Konversationshalber sagte ich: «Kennen Sie sich mit dem Überleben in der Wildnis aus?» Sein Gesicht zuckte, er schob sich die Brille hoch. «Was meinst du damit?» – «Wissen Sie zum Beispiel, dass fast die ganze arktische Vegetation essbar ist? Bis auf manche Pilze natürlich.» Er hob die Augenbrauen, und so sagte ich: «Und wussten Sie schon, dass man verhungern kann, wenn man nur Kaninchenfleisch isst? Es ist nachgewiesen, dass Leute, die versucht haben, damit zu überleben, an zu viel Kaninchenfleisch gestorben sind. Wenn man von irgendeiner mageren Fleischsorte wie Kaninchen zu viel isst, wird man, wissen Sie – egal, es kann tödlich sein.» Der Mann warf den Rest seines Snickers weg.
Wieder drinnen, brachte er einen vierten Kasten. Zwei Stunden später saß ich mit brennenden Augen immer noch da. «Kann es sein, dass sie nach 1948 gestorben ist?», fragte der Mann sichtlich verstört. Ich sagte ihm, das sei schon möglich. «Ja, warum hast du das nicht gleich gesagt! In diesem Fall wäre ihr Totenschein nicht hier.» – «Und wo wäre er?» – «In der Gesundheitsbehörde, Abteilung Zivilstandsregister», sagte er, «125 Worth Street, Zimmer 133. Da haben sie alle Todesfälle nach 48.» Großartig, dachte ich.
17. DER SCHLIMMSTE FEHLER, DEN MEINE MUTTER JE GEMACHT HAT
Als ich nach Hause kam, lag meine Mutter zusammengerollt auf der Couch und las ein Buch. «Was liest du da?», fragte ich. «Cervantes», sagte sie. «Cervantes?», fragte ich. «Den berühmtesten spanischen Schriftsteller», sagte sie und blätterte um. Ich rollte die Augen. Manchmal frage ich mich, warum sie nicht einfach einen berühmten Schriftsteller geheiratet hat statt einen in die Wildnis verliebten Ingenieur. Dann wäre nichts von alledem jemals passiert. Eben jetzt, in diesem Augenblick, säße sie wahrscheinlich mit ihrem berühmten Schriftstellergatten am gedeckten Tisch, redete mit ihm über die Pros und Contras anderer berühmter Schriftsteller und träfe gemeinsam mit ihm die schwierige Entscheidung, wer den postumen Nobelpreis am ehesten verdient hätte.
An diesem Abend wählte ich Mishas Nummer, legte aber beim ersten Klingeln auf.
18. DANN WAR DIENSTAG
Es regnete immer noch. Auf dem Weg zur U-Bahn kam ich an dem verwilderten Grundstück vorbei, wo Bird den Haufen Gerümpel, der mittlerweile auf zwei Meter Höhe angewachsen war, mit einer Plane bedeckt und an den Seiten mit Mülltüten und alten Seilen umwickelt hatte. Eine Stange ragte aus der Masse, als warte sie auf eine Flagge.
Der Limonadentisch war auch noch da, ebenso das Schild, auf dem stand FRISCHES LEMON-AID 50 CENT BITTE SELBST EINSCHENKEN (VERSTAUCHTES HANDGELENK), aber mit einem neuen Zusatz: ALLE GEWINNE FLIESSEN WOHLTÄTIGEN ZWECKEN ZU. Doch der Tisch war leer und von Bird keine Spur.
In der U-Bahn, irgendwo zwischen Carroll und Bergen, beschloss ich, Misha anzurufen und so zu tun, als sei nichts gewesen. Beim Aussteigen fand ich ein funktionierendes Münztelefon und wählte seine Nummer. Mir klopfte das Herz, als es zu klingeln begann. Seine Mutter hob ab. «Tag, Mrs. Shklovsky», sagte ich so beiläufig wie möglich. «Ist Misha da?» Ich hörte sie rufen. Die Zeit erschien mir endlos, bis er den Hörer nahm. «Hallo», sagte ich. – «Hallo.» – «Wie geht’s?» – «Gut.» – «Was machst du gerade?» – «Lesen.» – «Was?» – «Comics.» – «Rate, wo ich bin.» – «Wo?» – «Vor der Gesundheits- und Sozialbehörde.» – «Warum?» – «Ich will herausfinden, ob es Dokumente über Alma Mereminski gibt.» – «Immer noch auf der Suche», sagte Misha. «O ja», sagte ich. Eine peinliche Stille trat ein. Ich sagte: «Eigentlich wollte ich fragen, ob du Lust hast, heute Abend Topas auszuleihen.» – «Ich kann nicht.» – «Warum?» – «Hab was vor.» – «Was denn?» – «Ich geh ins Kino.» – «Mit wem?» – «’nem Mädchen, das ich kenne.» Mir drehte sich der Magen um. «Was für ein Mädchen?» Ich dachte: Bitte, lass es nicht wahr sein – «Luba», sagte er. «Vielleicht erinnerst du dich, du hast sie mal gesehen.» Natürlich erinnerte ich mich. Wie soll man eine Blondine vergessen, die einen Meter neunzig ist und behauptet, sie stamme von Katharina der Großen ab?
Es schien ein schlechter Tag zu werden.
«M-E-R-E-M-I-N-S-K-I», sagte ich zu der Frau hinter dem Schreibtisch in Zimmer 133. Ich dachte: Wie kann er nur ein Mädchen mögen, das nicht einmal dann imstande wäre, den universellen Essbarkeitstest zu machen, wenn es um ihr Leben ginge? «M-E-R-E», sagte die Frau, also sagte ich «M-I-N-S –» und dachte: Wahrscheinlich hat sie noch nie von Das Fenster zum Hof gehört. «M-Y-M-S», sagte die Frau. «Nein», sagte ich. «M-I-N-S.» – «M-I-N-S», sagte die Frau. «K-I», sagte ich. Und sie sagte: «K-I.»
Eine Stunde verging, und wir fanden keinen Totenschein auf den Namen Alma Mereminski. Eine weitere halbe Stunde, und immer noch nichts. Einsamkeit verwandelte sich in Niedergeschlagenheit. Nach zwei Stunden sagte die Frau, sie sei sich hundertprozentig sicher, dass es keine Alma Mereminski gebe, die nach 1948 im Stadtgebiet von New York gestorben sei.
An diesem Abend lieh ich mir noch einmal Der unsichtbare Dritte aus und sah ihn mir zum elften Mal an. Dann ging ich schlafen.
19. EINSAME MENSCHEN SIND IMMER MITTEN IN DER NACHT AUF
Als ich die Augen aufschlug, stand Onkel Julian über mir. «Wie alt bist du?», fragte er. «Vierzehn. Nächsten Monat werde ich fünfzehn.» – «Nächsten Monat fünfzehn», sagte er, als wälze er ein Matheproblem im Kopf. «Was willst du werden, wenn du groß bist?» Er trug noch seinen klitschnassen Regenmantel. Ein Tropfen Wasser fiel mir ins Auge. «Ich weiß nicht.» – «Na, komm schon, irgendwas wird es doch geben.» Ich setzte mich in meinem Schlafsack auf, rieb mir das Auge und sah auf meine Digitaluhr. Sie hat einen Knopf, den man drücken kann, damit die Ziffern leuchten. Außerdem hat sie einen eingebauten Kompass. «Es ist drei Uhr vierundzwanzig früh», sagte ich. Bird ratzte in meinem Bett. «Ich weiß. Ich kam nur eben drauf. Sag’s, und ich verspreche dir, dass ich dich wieder schlafen lasse. Was willst du werden?» Ich dachte, jemand, der bei Temperaturen unter null überleben, sich Essen suchen, eine Schneehöhle bauen und mit nichts ein Feuer machen kann. «Ich weiß nicht. Vielleicht Malerin», sagte ich, um ihn glücklich zu machen, damit er mich wieder schlafen ließ. «Komisch», sagte er. «Genau das habe ich gehofft, dass du es sagen würdest.»
20. WACH IM DUNKELN
Ich dachte an Misha und Luba, an meinen Vater und meine Mutter und daran, warum Zvi Litvinoff nach Chile ausgewandert war und Rosa geheiratet hatte statt Alma, die er wirklich geliebt hatte.
Über den Flur hörte ich Onkel Julian im Schlaf husten.
Dann dachte ich: Augenblick mal.
21. SIE MUSS GEHEIRATET HABEN!
Das war’s! Darum hatte ich keinen Totenschein auf den Namen Alma Mereminski gefunden. Warum war ich nicht früher darauf gekommen?
22. NORMAL SEIN
Ich langte unter mein Bett und zog die Taschenlampe aus meinem Überlebensrucksack, außerdem den dritten Band von Wie man in der Wildnis überlebt. Als ich die Taschenlampe anmachte, fiel mir etwas ins Auge. Es steckte zwischen Bettrahmen und Wand, fast am Boden. Ich rutschte unters Bett und leuchtete mit der Taschenlampe, um besser zu sehen. Es war ein schwarz-weißes Aufsatzheft. Vorne drauf stand . Und daneben: PERSÖNLICH. Misha hat mir einmal gesagt, auf Russisch gebe es kein Wort für das Persönliche. Ich schlug es auf.
9. April
Jetzt bin ich drei Tage hintereinander ein normaler Mensch gewesen. Was bedeutet, ich bin nicht auf irgendwas draufgeklettert, habe G’ttes Namen auf nichts draufgeschrieben, was nicht mir gehört, und habe auf keine ganz normale Frage einen Spruch aus der Tora gesagt. Es bedeutet auch, ich habe nichts getan, was ein NEIN auf die Frage folgen lässt: WÜRDE EIN NORMALER MENSCH DAS TUN? Bislang war es gar nicht so schlimm.
10. April
Dies ist der vierte Tag in Folge, an dem ich mich normal benommen habe. In Sport hat Josh K. mich an die Wand gedrückt und gefragt, ob ich mich für einen dicken fetten Obermaxe halte, und ich habe ihm gesagt, ich halte mich nicht für einen dicken fetten Obermaxe. Weil ich keinen ganzen normalen Tag verderben wollte, habe ich ihm nicht gesagt, dass ich kein Obermaxe, aber vielleicht der moschiach bin. Auch mein Handgelenk wird besser. Wenn ihr wissen wollt, wie ich es mir verstaucht habe, dann war das so, dass ich aufs Dach geklettert bin, weil ich zu früh bei der Hebräischen Schule ankam und die Tür abgeschlossen war und an der Seite des Gebäudes eine Leiter hing. Die Leiter war rostig, aber sonst war es gar nicht so schlimm. Mitten auf dem Dach war eine große Wasserpfütze, und ich wollte sehen, was passiert, wenn ich meinen Flummi darin springen lasse und ihn zu fangen versuche. Das war lustig! Ich habe es ungefähr fünfzehnmal gemacht, bis ich ihn verlor, weil er über den Rand gesprungen ist. Dann legte ich mich auf den Rücken und sah in den Himmel. Ich habe drei Flugzeuge gezählt. Als mir langweilig wurde, wollte ich wieder nach unten. Das war schlimmer als nach oben, weil ich rückwärts runtermusste. Auf halbem Weg kam ich an den Fenstern eines Klassenraums vorbei. Ich sah Mrs. Zucker vorne stehen, und darum wusste ich, dass es die Viertklässler waren. (Wenn ihr es wissen wollt, ich bin dieses Jahr in der Fünften.) Ich konnte nicht hören, was Mrs. Zucker sagte, und darum versuchte ich es ihr von den Lippen abzulesen. Ich musste mich sehr weit von der Leiter wegbeugen, um richtig zu sehen. Ich presste mein Gesicht direkt ans Fenster, und plötzlich drehten sich alle zu mir um, also habe ich gewinkt, und dabei habe ich das Gleichgewicht verloren. Ich fiel, und Rabbi Wizner sagte, es ist ein Wunder, dass ich mir nichts gebrochen habe, aber tief in mir wusste ich, dass ich die ganze Zeit in Sicherheit war und dass G’tt mir nichts passieren lassen würde, weil ich fast ganz sicher ein lamed wownik bin.
11. April
Heute war mein fünfter Tag Normalsein. Alma sagt, wenn ich normal wäre, würde mir das mein Leben erleichtern, ganz zu schweigen von allen anderen. Ich habe den Star-Verband von meinem Handgelenk abgemacht, und jetzt tut es nur noch ein bisschen weh. Wahrscheinlich hat es viel mehr wehgetan, als ich es mit sechs gebrochen hatte, aber daran erinnere ich mich nicht.
Ich übersprang bis:
27. Juni
Bis jetzt hat mir der Lemon-Aid Verkauf 295,50 Dollar eingebracht. Das sind 591 Becher! Mein bester Kunde ist Mr. Goldstein, der immer 10 Becher auf einmal kauft, weil er so schrecklichen Durst hat. Und Onkel Julian, der mir einmal 20 Dollar Trinkgeld gegeben hat. Noch 384,50 Dollar, dann geht’s los.
28. Juni
Heute hätte ich fast was nicht Normales getan. Ich kam an einem Haus in der 4th Street vorbei, und da war ein Holzbrett, das am Gerüst lehnte, und es war niemand in der Nähe, und ich wollte es eigentlich mitnehmen. Es wäre kein richtiges Stehlen gewesen, weil die besondere Sache, die ich baue, den Menschen helfen wird und weil G’tt will, dass ich sie baue. Aber ich wusste auch, wenn ich sie stehle und es herauskommt, bekomme ich Ärger, und Alma muss mich abholen und wird wütend sein. Aber ich wette, sie ist nicht mehr wütend, wenn es anfängt zu regnen und ich ihr am Ende erzähle, was für eine Sache ich da angefangen habe zu bauen. Ich habe schon jede Menge Zeug dafür gesammelt, meistens Sachen, die irgendwer auf den Müll geworfen hat. Was ich noch viel brauche, weil es schwimmt, aber schwer finden kann, ist Styropor. Bis jetzt habe ich nicht viel davon. Manchmal fürchte ich, dass es anfangen wird zu regnen, bevor ich mit dem Bauen fertig bin.
Wenn Alma wüsste, was geschehen wird, wäre sie, glaube ich, auch nicht so böse, dass ich in ihr Notizbuch geschrieben habe. Ich habe alle drei Bände von Wie man in der Wildnis überlebt gelesen, und sie sind sehr gut, mit lauter interessanten und nützlichen Fakten. In einem Teil steht alles, was man bei einer Atombombe tun muss. Obwohl ich nicht glaube, dass es eine Atombombe geben wird, habe ich es für alle Fälle sehr sorgfältig gelesen. Dann habe ich beschlossen, falls es eine Atombombe gibt, bevor ich nach Israel gelange, und überall Asche wie Schnee fällt, werde ich Engel machen. Ich werde durch jedermanns Haus laufen, weil niemand mehr da ist. Ich könnte dann nicht mehr zur Schule gehen, aber das wäre nicht so schlimm, weil wir sowieso nie etwas so Wichtiges lernen wie was nach dem Tod passiert. Aber egal, ich mache nur Spaß, weil es doch keine Atombombe geben wird. Was es geben wird, ist eine große Flut.
23. DRAUSSEN GOSS ES IMMER NOCH