LACHEND STERBEN
Was steht da?
Wir standen unter den Sternen in der Grand Central, jedenfalls muss ich das annehmen, weil ich mir eher die Beine um die Ohren hätte schlingen können, als den Kopf in den Nacken zu legen, um freie Sicht nach oben zu haben.
Was steht da?, wiederholte Bruno und stieß mir den Ellbogen in die Rippen, während ich das Kinn eine weitere Raste zur Abfahrtstafel hochrucken ließ. Meine Oberlippe löste sich von der unteren, um die Last der Kinnlade loszuwerden. Los, beeil dich, sagte Bruno. Immer sachte mit den jungen Pferden, sagte ich, nur dass es mit offenem Mund als Inner achte nitte hunge Herde herauskam. Ich konnte soeben die Zahlen erkennen. 9 Uhr 45, sagte ich, oder vielmehr neun Uhr hünunhierzig. – Wie spät ist es jetzt?, fragte Bruno. Ich bemühte meinen Blick wieder nach unten, auf die Armbanduhr. 9 Uhr 43, sagte ich.
Wir fingen an zu rennen. Nicht zu rennen, aber uns so zu bewegen, wie es zwei Menschen mit verschlissenen Kugelgelenken tun, wenn sie einen Zug erreichen wollen. Ich lag in Führung, Bruno war mir hart auf den Fersen. Dann drängte er sich vorbei – er hatte eine Art, sich mit den Armen anzukurbeln, die jeder Beschreibung spottet –, und ich ließ es ein wenig lockerer angehen, während er, in Anführungszeichen, in den Wind schoss. Ich war ganz auf seinen Nacken konzentriert, als er ohne Vorwarnung aus meinem Blickfeld abtauchte. Ich sah nach hinten. Er lag lang hingestreckt auf dem Boden, einen Schuh an, den anderen aus. Lauf!, rief er mir zu. Ich taumelte, wusste nicht, was ich tun sollte. Lauf!, rief er wieder, und so lief ich, und ehe ich michs versah, hatte er irgendwo abgekürzt und lag wieder vor mir, den Schuh in der Hand und kurbelnd, was das Zeug hielt.
An Gleis 22 bitte einsteigen.
Bruno nahm die Treppe zum Bahnsteig hinunter. Ich hinterher. Alles sprach dafür, dass wir es schaffen würden. Und doch. Als er den Zug erreichte, kam er in jähem Gesinnungswandel schleudernd zum Stehen. Ich, so in Fahrt, dass ich nicht halten konnte, stürmte an ihm vorbei in den Wagen. Hinter mir schlossen sich die Türen. Er lächelte durch die Scheibe. Ich trommelte mit der Faust ans Fenster. Zum Teufel mit dir, Bruno. Er winkte. Er wusste, dass ich allein nicht gefahren wäre. Und doch. Er wusste, dass ich fahren musste. Allein. Der Zug fuhr an. Brunos Lippen bewegten sich. Ich versuchte davon abzulesen. Viel, sagten sie. Seine Lippen machten eine Pause. Viel was?, wollte ich rufen. Sag mir, viel was? Und sie sagten: Glück. Der Zug fuhr aus dem Bahnhof in die Dunkelheit.
Fünf Tage nachdem der braune Umschlag mit den Seiten des vor einem halben Jahrhundert von mir geschriebenen Buches angekommen war, befand ich mich auf dem Weg, mir mein ein halbes Jahrhundert später geschriebenes Buch zurückzuholen. Oder anders: Eine Woche nachdem mein Sohn gestorben war, befand ich mich auf dem Weg zu seinem Haus. So oder so war ich allein.
Ich fand einen Fensterplatz und versuchte, zu Atem zu kommen. Wir rauschten durch den Tunnel. Ich lehnte den Kopf an die Scheibe. Jemand hatte «schöne Titten» ins Glas geritzt. Unwillkürlich fragte man sich: Wessen? Der Zug tauchte in graues Licht und Regen auf. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich schwarzfuhr.
In Yonkers stieg ein Mann zu und setzte sich neben mich. Er zog ein Taschenbuch heraus. Mir knurrte der Magen. Ich hatte noch nichts zu mir genommen außer dem Kaffee, den ich morgens mit Bruno bei Dunkin’ Donuts getrunken hatte. Es war früh. Wir waren die ersten Gäste. Geben Sie mir einmal Marmelade und einmal Puderzucker, sagte Bruno. Geben Sie ihm einmal Marmelade und einmal Puderzucker, sagte ich, und für mich einen kleinen Kaffee. Der Mann unter der Papiermütze zögerte. Medium kommt er Sie billiger. Gott schütze dich, Amerika. In Ordnung, sagte ich. Machen Sie ihn medium. Der Mann ging weg und kam mit dem Kaffee wieder. Geben Sie mir einen Bavarian Kreme und einen glasierten, sagte Bruno. Ich warf ihm einen Blick zu. Was?, sagte er achselzuckend. Geben Sie ihm einen Bavarian Kreme –, sagte ich. Und einen Vanille, sagte Bruno. Ich drehte mich wütend nach ihm um. Mea culpa, sagte er. Vanille. Geh, setz dich, sagte ich. Er stand da. SETZ DICH, sagte ich. Geben Sie mir einen Cruller, sagte er. Der Bavarian Kreme war in vier Bissen alle. Er leckte sich die Finger und hielt den Cruller gegen das Licht. Das ist ein Donut, kein Diamant, sagte ich. Er ist trocken, sagte Bruno. Iss ihn trotzdem, sagte ich. Tauschen Sie ihn gegen einen Apfel-Zimt, sagte er.
Der Zug ließ die Stadt hinter sich. Zu beiden Seiten zogen grüne Felder vorbei. Es hatte seit Tagen geregnet und regnete noch immer.
Oft hatte ich mir vorgestellt, wo Isaac jetzt lebte. Ich suchte es auf der Karte. Einmal rief ich sogar die Auskunft an. Wie muss ich fahren, wenn ich von Manhattan aus zu meinem Sohn will?, fragte ich. Ich hatte mir alles ausgemalt, bis ins letzte Detail. Glückliche Zeiten! Ich würde ein Geschenk mitbringen. Ein Glas Marmelade vielleicht. Nur keine Förmlichkeiten. Zu spät für solche Mätzchen. Vielleicht würden wir uns auf der Wiese einen Ball zuwerfen. Ich kann nicht fangen. Ehrlich gesagt, kann ich auch nicht werfen. Und doch. Wir würden über Baseball reden. Ich verfolge das Spiel seit Isaacs Kindertagen. Wenn er für die Dodgers fieberte, fieberte ich mit. Ich hielt mich so gut wie möglich über die Musik auf dem Laufenden. Die Beatles, die Rolling Stones, Bob Dylan – «Lay, Lady, Lay», man braucht kein Fachmann zu sein, um das zu verstehen. Jeden Abend kam ich von der Arbeit nach Hause und bestellte bei Mr. Tong. Dann nahm ich eine Platte aus der Hülle, legte die Nadel auf und lauschte.
Jedes Mal, wenn Isaac umzog, suchte ich auf der Karte den Weg zwischen meinem und seinem Wohnort heraus. Beim ersten Mal war er elf. Ich stand immer gegenüber seiner Schule in Brooklyn an der Straße und wartete, nur um einen Blick auf ihn zu erhaschen und vielleicht, wenn ich Glück hatte, seine Stimme zu hören. Eines Tages wartete ich wie gewöhnlich, aber er kam nicht heraus. Ich dachte, er habe sich wohl etwas eingebrockt und müsse nachsitzen. Es wurde dunkel, die Lichter wurden ausgeknipst, und er war immer noch nicht da. Am nächsten Tag ging ich wieder hin und wartete, und wieder kam er nicht. In dieser Nacht stellte ich mir das Schlimmste vor. Ich konnte nicht schlafen vor lauter Schrecklichkeiten, von denen ich mir ausmalte, sie könnten meinem Kind passiert sein. Obwohl ich mir geschworen hatte, nie und nimmer würde ich es tun, stand ich am nächsten Tag früh auf und ging dorthin, wo er wohnte. Nicht hin. Ich blieb auf der anderen Straßenseite stehen. Ich hielt Ausschau nach ihm oder nach Alma, ja sogar nach diesem schlemihl, ihrem Ehemann. Und doch. Niemand erschien. Schließlich hielt ich einen Jungen an, der aus dem Haus kam. Kennst du die Moritz? Er starrte mich an. Ja. Und wennschon?, sagte er. Wohnen sie noch hier?, fragte ich. Was geht Sie das an?, sagte er und wollte, einen Gummiball springen lassend, die Straße hinunter. Ich packte ihn am Kragen. Ein ängstlicher Blick stand in seinen Augen. Sie sind nach Long Island gezogen, platzte er heraus und rannte weg.
Eine Woche später kam ein Brief von Alma. Sie hatte meine Adresse, weil ich ihr einmal im Jahr, zu ihrem Geburtstag, eine Karte schicke. Herzlichen Glückwunsch, schreibe ich, von Leo. Ich riss den Brief auf. Ich weiß, dass du ihn beobachtest. Frag mich nicht woher, aber ich weiß es. Ich warte immer noch auf den Tag, an dem er nach der Wahrheit fragen wird. Manchmal, wenn ich ihm in die Augen sehe, sehe ich dich. Und ich glaube, du bist der Einzige, der seine Fragen beantworten könnte. Ich höre deine Stimme, als stündest du neben mir.
Ich las den Brief wer weiß wie oft. Aber darum geht es nicht. Entscheidend war, dass sie links oben in die Ecke des Umschlags den Absender geschrieben hatte: 121 Atlantic Avenue, Long Beach, NY.
Ich holte meine Karte heraus und prägte mir den Weg ein. Oft phantasierte ich von Katastrophen, Überschwemmungen, Erdbeben, einer Welt im Chaos, von allem, was mir einen Grund geben würde, hinzufahren und ihn unter meinem Mantel zu bergen. Als ich die Hoffnung auf mildernde Umstände aufgegeben hatte, begann ich davon zu träumen, dass der Zufall uns zusammenbrächte. Ich rechnete mir alle Möglichkeiten aus, wie sich unsere Lebenswege unerwartet kreuzen könnten – indem ich etwa in einem Zugabteil plötzlich neben ihm saß oder im Wartezimmer einer Arztpraxis. Aber am Ende wusste ich, dass es an mir lag. Als erst Alma starb und zwei Jahre später Mordecai, stand mir nichts mehr im Weg. Und doch.
Zwei Stunden später lief der Zug in den Bahnhof ein. Ich fragte den Menschen am Fahrkartenschalter, wie ich ein Taxi bekäme. Lange war ich nicht mehr aus der Stadt hinausgekommen. Ich stand da und staunte, wie grün alles war.
Wir fuhren eine ganze Weile. Bogen von der Hauptstraße in eine kleinere, dann in eine noch kleinere Straße ab. Schließlich ging es über einen holprigen Waldweg irgendwo im Nirgendwo. Schwer vorstellbar, dass ein Sohn von mir an einem solchen Ort gelebt hatte. Angenommen, er hätte plötzlich Lust auf eine Pizza gehabt, wo wäre er hingegangen? Angenommen, es hätte ihn gejuckt, allein in einem dunklen Kinosaal zu sitzen oder am Union Square ein paar Jugendliche beim Küssen zu beobachten?
Ein weißes Haus kam in Sicht. Ein leichter Wind jagte die Wolken. Zwischen den Ästen sah ich einen See. So oft hatte ich mir sein Haus vorgestellt. Aber nie mit einem See. Ein schmerzliches Versäumnis.
Sie können mich hier rauslassen, sagte ich, bevor wir die Lichtung erreichten. Ich rechnete halbwegs damit, dass jemand zu Hause wäre. Meines Wissens hatte Isaac allein gelebt. Aber man weiß ja nie. Das Taxi hielt. Ich bezahlte und stieg aus, und es fuhr den Weg im Rückwärtsgang zurück. Ich dachte mir eine Geschichte von einer Autopanne aus, dass ich ein Telefon bräuchte, holte tief Luft und schlug meinen Kragen gegen den Regen hoch.
Ich klopfte. Dann sah ich die Klingel, also klingelte ich. Ich wusste, dass er tot war, aber etwas in mir hoffte noch immer. Ich stellte mir sein Gesicht vor, wenn er die Tür aufmachte. Was hätte ich ihm zu sagen, meinem einzigen Kind? Verzeih mir, deine Mutter hat mich nicht so geliebt, wie ich geliebt werden wollte; und vielleicht habe auch ich sie nicht so geliebt, wie sie es gebraucht hätte? Und doch. Keine Antwort. Ich wartete nur, um sicherzugehen. Als niemand kam, lief ich außen herum nach hinten. Auf der Wiese stand ein Baum, der mich an jenen erinnerte, in den ich einst unsere Initialen geritzt hatte, A + L, und sie hat es nicht erfahren, genau wie ich fünf Jahre lang nicht erfahren hatte, dass die Summe unseres Zusammenseins ein Kind ergeben hatte.
Das Gras war glitschig vor Matsch. Ein Stück entfernt sah ich ein Ruderboot an einem Steg vertäut. Ich blickte hinaus über das Wasser. Muss ein guter Schwimmer gewesen sein, ganz nach dem Vater geschlagen, dachte ich stolz. Mein eigener Vater, der große Hochachtung vor der Natur besaß, hatte uns kurz nach der Geburt in den Fluss geworfen, ehe, wie er meinte, unsere Verbindung zu den Amphibien ganz abgerissen wäre. Meine Schwester Hanna hielt ihr Lispeln für eine Folge dieser traumatischen Erinnerung. Ich denke mir gern, ich hätte es anders gemacht. Ich hätte ihm gesagt: Es war einmal vor langer Zeit, da warst du ein Fisch. – Ein Fisch?, hätte er gefragt. Genau, wie ich dir sage, ein Fisch. – Woher weißt du das? – Weil ich auch ein Fisch gewesen bin. – Du auch? – Sicher. Vor langer Zeit. – Wie lange? – Lange. Egal, als du ein Fisch warst, konntest du schwimmen. – Konnte ich? – Sicher. Du warst ein großartiger Schwimmer. Ein Spitzenschwimmer warst du. Du liebtest das Wasser. – Warum? – Was meinst du mit warum? – Warum ich das Wasser liebte? – Weil es dein Leben war! Und während wir so redeten, hätte ich ihn, einen Finger nach dem anderen, allmählich losgelassen, bis er, ohne es zu merken, allein geschwommen wäre.
Und dann dachte ich: Vielleicht bedeutet es das, Vater zu sein – sein Kind zu lehren, ohne einen zu leben. Wenn ja, war niemand je ein besserer Vater als ich.
Es gab eine Hintertür, die nur ein Schloss hatte, ein einfaches Stiftschloss im Gegensatz zu dem Doppelschloss vorn. Ich klopfte ein letztes Mal, und als keine Antwort kam, machte ich mich an die Arbeit. Ich brauchte eine Minute, bis ich es aufbekam. Ich drehte den Knauf und drückte. Reglos stand ich in der Türöffnung. Hallo?, rief ich. Schweigen. Ein Schauer lief mir den Rücken herunter. Ich trat ein und machte die Tür hinter mir zu. Es roch nach Holzfeuer.
Dies ist Isaacs Haus, sagte ich mir. Ich zog meinen Regenmantel aus und hängte ihn an einen Haken, neben einen anderen. Er war aus braunem Tweed, mit braunem Seidenfutter. Ich nahm einen Ärmel und hielt ihn mir an die Wange. Ich dachte: Dies ist sein Mantel. Ich hielt ihn mir unter die Nase und atmete ein. Ein Hauch von Eau de Cologne. Ich nahm ihn herunter und probierte ihn an. Die Ärmel waren zu lang. Aber: egal. Ich krempelte sie hoch. Ich zog meine matschverschmierten Schuhe aus. Da stand ein Paar Laufschuhe mit hochgebogener Spitze. Ich schlüpfte hinein wie ein alter Mr.-Rogers-Fan. Sie waren mindestens Größe 44, wenn nicht 45. Mein Vater hatte kleine Füße, und bei der Hochzeit meiner Schwester mit einem Jungen aus dem Nachbardorf hatte er das ganze Wochenende damit zugebracht, bedauernd auf die großen Füße seines neuen Schwiegersohns zu starren. Ich kann mir nur vorstellen, wie schockiert er gewesen wäre, wenn er die seines Enkels gesehen hätte.
So also betrat ich meines Sohnes Haus: in seinen Mantel gehüllt, seine Schuhe an den Füßen. Ich war ihm so nahe wie nie zuvor. Und ebenso fern.
Ich klapperte den schmalen Flur entlang, der zur Küche führte. Stand mitten im Raum und wartete auf die Polizeisirenen, die nicht kamen.
In der Spüle lag ein schmutziger Teller. Ein umgedrehtes Glas, das zum Trocknen stehen geblieben war, ein hart gewordener Teebeutel auf einer Untertasse. Auf dem Küchentisch etwas verstreutes Salz. Eine Postkarte klebte am Fenster. Ich nahm sie ab und drehte sie um. Lieber Isaac, stand da, ich schicke dies aus Spanien, wo ich einen Monat verbracht habe. Ich möchte dir nur sagen, dass ich dein Buch nicht gelesen habe und nicht lesen werde.
Hinter mir tat es einen Schlag. Ich griff mir an die Brust. Ich glaubte, ich würde mich umdrehen und Isaacs Geist sehen. Aber es war nur die Tür, der Wind hatte sie aufgeweht. Mit zitternden Händen tat ich die Postkarte wieder dorthin, woher ich sie genommen hatte, stand in der Stille und hörte mein Herz pochen.
Die Dielen knackten unter meinem Gewicht. Überall waren Bücher. Stifte und eine blaue Glasvase, ein Aschenbecher aus dem Dolder Grand Hotel in Zürich, der verrostete Pfeil einer Wetterfahne, eine kleine Sanduhr aus Messing, Sanddollars auf dem Fensterbrett, ein Fernglas, eine leere Weinflasche, die als Kerzenständer diente, mit Wachsnasen am Hals. Ich berührte dies und jenes. Am Ende sind es nur die irdischen Besitztümer, die von einem bleiben. Vielleicht konnte ich deshalb nie etwas wegwerfen. Vielleicht habe ich deshalb die ganze Welt um mich versammelt: in der Hoffnung, die Summe meiner Habseligkeiten würde bei meinem Tod auf ein größeres Leben deuten als das, das ich gelebt habe.
Mir wurde schwindlig, und ich suchte Halt am Kamin. Dann ging ich in Isaacs Küche zurück. Appetit hatte ich keinen, aber ich öffnete trotzdem den Kühlschrank, weil der Doktor mir gesagt hatte, ich solle nicht mit leerem Magen herumlaufen, wegen meines Blutdrucks oder so. Ein starker Geruch schlug mir in die Nase. Ein Hühnchenrest, der schlecht geworden war. Ich schmiss ihn raus, wie auch ein paar braune Pfirsiche und etwas verschimmelten Käse. Dann wusch ich den schmutzigen Teller. Ich weiß nicht, wie ich das Gefühl beschreiben soll, das ich bei diesen beiläufigen Handgriffen im Haus meines Sohnes hatte. Ich führte sie mit Liebe aus. Das Glas stellte ich wieder in den Schrank. Den Teebeutel warf ich weg, die Untertasse spülte ich ab. Wahrscheinlich gab es Leute – den Mann mit der gelben Fliege oder einen künftigen Biographen –, die alles so unberührt haben wollten, wie Isaac es hinterlassen hatte. Vielleicht würden sie sogar eines Tages ein Museum aus seinem Leben machen, gesponsert von denselben Leuten, die das Glas aufbewahrten, aus dem Kafka sein letztes Schlückchen nahm, den Teller, von dem Mandelstam seine letzten Krümel aß. Isaac war ein großer Schriftsteller, der Schriftsteller, der ich nie hätte sein können. Und doch. Er war auch mein Sohn.
Ich ging nach oben. Mit jeder Tür, jedem Schrank, jeder Schublade, die ich öffnete, erfuhr ich etwas Neues über Isaac, und mit jeder neuen Sache, die ich erfuhr, wurde seine Abwesenheit wirklicher, und je wirklicher, umso unmöglicher war sie zu glauben. Ich öffnete sein Medizinschränkchen und fand darin zwei Flaschen Talkumpuder. Ich weiß gar nicht genau, was Talkumpuder eigentlich ist oder wozu man ihn benutzt, aber allein dieses handgreifliche Objekt aus seinem Leben bewegte mich mehr als jede Kleinigkeit, die ich mir je vorgestellt hatte. Ich öffnete seinen Kleiderschrank und schob das Gesicht zwischen seine Hemden. Er mochte die Farbe Blau. Ich nahm ein Paar braune Wingtips heraus. Die Absätze waren komplett abgelaufen. Ich steckte meine Nase hinein und schnüffelte. Ich fand seine Uhr auf dem Nachttischchen und legte sie an. Dort, wo sich das von ihm benutzte Loch befand, war das Lederarmband brüchig. Sein Handgelenk war kräftiger gewesen als meines. Wann war er größer geworden als ich? Was hatte ich, was hatte er in genau dem Augenblick getan, als er über mich hinausgewachsen war?
Das Bett war ordentlich gemacht. War er darin gestorben? Oder hatte er es geahnt und war aufgestanden, um seine Kindheit noch einmal zu grüßen und dann doch niedergeschmettert zu werden? Was war das Letzte, was er angesehen hatte? War es die Uhr an meinem Handgelenk gewesen, die um 12 : 38 stehen geblieben war? Der See draußen vor dem Fenster? Jemandes Gesicht? Und hat er Schmerz empfunden?
Nur ein einziges Mal ist jemand in meinen Armen gestorben. Ich arbeitete als Hausmeister in einem Krankenhaus, das war im Winter 40/41. Es war nur eine kurze Zeit. Am Ende habe ich die Arbeit verloren. Aber eines Abends, in meiner letzten Woche, als ich den Boden wischte, hörte ich jemanden würgen. Es kam aus dem Zimmer einer Frau, die eine Blutkrankheit hatte. Ich rannte hin. Ihr Körper wand sich in Krämpfen. Ich nahm sie in die Arme. Ich glaube, ich kann sagen, dass für uns beide außer Frage stand, was geschehen würde. Sie hatte ein Kind. Das wusste ich, weil ich es einmal mit seinem Vater bei einem Besuch gesehen hatte. Ein kleiner Junge in polierten Stiefeln und einem Mantel mit goldenen Knöpfen. Er hatte dagesessen, die ganze Zeit mit einem Auto gespielt und seine Mutter nur beachtet, wenn sie mit ihm sprach. Vielleicht war er ihr böse, weil sie ihn so lange mit seinem Vater allein ließ. Als ich ihr ins Gesicht sah, dachte ich an ihn, den Jungen, der aufwachsen würde, ohne zu wissen, wie er sich das verzeihen sollte. Ich empfand eine Art Erleichterung und Stolz, ja sogar Überlegenheit, dass ich die Aufgabe erfüllte, die er nicht erfüllen konnte. Und dann, weniger als ein Jahr danach, war ich der Sohn, dessen Mutter ohne ihn starb.
Hinter mir ein Geräusch. Ein Knarren. Diesmal drehte ich mich nicht um. Ich kniff die Augen zu. Isaac, flüsterte ich. Der Klang meiner eigenen Stimme erschreckte mich, aber ich fuhr fort. Ich will dir sagen – hier unterbrach ich mich. Was will ich dir sagen? Die Wahrheit? Was ist die Wahrheit? Dass ich deine Mutter mit meinem Leben verwechselt habe? Nein. Isaac, sagte ich. Die Wahrheit ist das, was ich erfunden habe, damit ich leben konnte.
Jetzt drehte ich mich um und sah mich im Spiegel an Isaacs Wand. Ein Narr im Narrenkleid. Ich war gekommen, um mein Buch zurückzuholen, aber jetzt kam es nicht mehr darauf an, ob ich es fand oder nicht. Ich dachte: Soll es verloren sein wie der Rest. Es machte nichts, nicht mehr.
Und doch.
In der Ecke des Spiegels sah ich, reflektiert von der anderen Seite des Flurs, seine Schreibmaschine. Niemand brauchte mir zu sagen, dass es das gleiche Modell war wie meine. In einem Zeitungsinterview hatte ich gelesen, dass er seit fast fünfundzwanzig Jahren auf einer altmodischen Olympia schrieb. Ein paar Monate später sah ich eine herabgesetzt in einem Secondhandladen. Der Mann sagte, sie sei in Ordnung, also kaufte ich sie. Am Anfang machte es mir einfach Spaß, sie anzusehen, zu wissen, dass mein Sohn auch so eine ansah. Tagaus, tagein stand sie da und lächelte mich an, als wären die Tasten Zähne. Dann hatte ich den Herzinfarkt, und sie lächelte noch immer, also zog ich eines Tages ein Blatt ein und schrieb einen Satz.
Ich ging über den Flur. Dachte: Was, wenn ich mein Buch dort fände, auf seinem Schreibtisch? Plötzlich ging mir auf, wie seltsam das alles war. Ich in seinem Mantel, mein Buch auf seinem Tisch. Er mit meinen Augen, ich in seinen Schuhen.
Ich wollte nichts als den Beweis, dass er es gelesen hatte.
Ich setzte mich auf seinen Stuhl vor seine Schreibmaschine. Es war kalt im Haus. Ich zog seinen Mantel enger. Ich glaubte, Gelächter zu hören, sagte mir aber, es sei nur das kleine Boot, das im Wind quietsche. Ich glaubte, Schritte auf dem Dach zu hören, sagte mir aber, es sei nur ein nach Futter suchendes Tier. Ich wiegte mich ein wenig, wie mein Vater sich wiegte, wenn er betete. Einmal hat er mir gesagt: Wenn ein Jude betet, stellt er Gott eine Frage, die kein Ende hat.
Dunkelheit senkte sich. Regen fiel herab.
Ich habe nie gefragt: Welche Frage?
Und jetzt ist es zu spät. Weil ich dich verloren habe, Tate. Eines Tages, im Frühjahr 1938, als es regnete und der Himmel irgendwann aufriss, habe ich dich verloren. Du warst fortgegangen, um Beweisstücke für eine Theorie über Niederschlag, Instinkt und Schmetterlinge zu sammeln, die du ausgebrütet hast. Und dann bliebst du fort. Wir fanden dich unter einem Baum liegend, das Gesicht mit Schlamm bespritzt. Wir wussten, nun warst du frei, erlöst von enttäuschenden Ergebnissen. Und wir begruben dich auf dem Friedhof, wo dein Vater und sein Vater begraben lagen, im Schatten einer Kastanie. Drei Jahre später habe ich Mame verloren. Als ich sie das letzte Mal sah, trug sie ihre gelbe Schürze. Sie stopfte Sachen in einen Koffer, das Haus war ein Trümmerfeld. Sie sagte, ich solle in den Wald gehen. Sie hatte mir Essen eingepackt und sagte, ich solle meinen Mantel anziehen, obwohl es Juli war. «Geh», sagte sie. Ich war zu alt, um zu gehorchen, aber ich gehorchte wie ein Kind. Sie sagte mir, sie käme nach, am Tag darauf. Wir verabredeten eine Stelle im Wald, die wir beide kannten. Den riesigen Walnussbaum, den du so mochtest, Tate, weil er, wie du sagtest, menschliche Eigenschaften besaß. Ich machte mir nicht die Mühe, adieu zu sagen. Ich wollte glauben, was einfacher war. Ich wartete. Aber: Sie kam nicht. Seitdem habe ich mit der Schuld gelebt, zu spät verstanden zu haben, dass sie glaubte, sie würde mir zur Last fallen. Ich verlor Fritzi. Er studierte in Wilna, Tate; jemand, der jemanden kannte, hat mir erzählt, er sei zuletzt auf einem Transport gesehen worden. Ich verlor Sari und Hanna an die Hunde. Ich verlor Herschel an den Regen. Ich verlor Josef an einen Sprung in der Zeit. Ich verlor den Klang des Lachens. Ich verlor ein Paar Schuhe; ich hatte sie zum Schlafen ausgezogen, die Schuhe, die Herschel mir geschenkt hatte, und als ich aufwachte, waren sie weg; ich ging tagelang barfuß, dann wurde ich schwach und stahl die eines anderen. Ich verlor die einzige Frau, die ich je lieben wollte. Ich verlor Jahre. Ich verlor Bücher. Ich verlor das Haus, in dem ich geboren bin. Und ich verlor Isaac. Wer kann also sagen, ob ich nicht irgendwo unterwegs, ohne es zu merken, auch den Verstand verloren habe?
Mein Buch war nirgends zu finden. Außer mir selbst: keine Spur von mir.