DAS ZELT MEINES VATERS
1. MEIN VATER SCHRIEB NICHT GERN BRIEFE
Die alte Cadbury-Dose voller Briefe meiner Mutter enthält nicht seine Antworten. Ich habe überall danach gesucht, sie aber nie gefunden. Er hat mir auch keinen Brief hinterlassen, den ich hätte öffnen können, als ich älter wurde. Ich weiß das, weil ich meine Mutter gefragt habe, und sie hat nein gesagt. Sie sagte, er habe nicht zu dieser Sorte Mann gehört. Als ich sie fragte, zu welcher Sorte Mann er denn gehört habe, dachte sie eine Minute nach. Ihre Stirn legte sich in Falten. Sie dachte noch ein wenig nach. Dann sagte sie, er habe zu der Sorte Mann gehört, die Autoritäten in Frage stellt. «Und», sagte sie, «er stand ständig unter Dampf.» Das hatte sie früher schon immer gesagt. So habe ich ihn aber gar nicht in Erinnerung. Ich erinnere ihn immerzu in Sesseln sitzend oder in Betten liegend. Außer als ich noch sehr klein war und er Zug gefahren war. Ich glaubte nämlich, unter Dampf stehen bedeute einen Zug fahren. Damals stellte ich ihn mir auf dem Sitz einer kohlschwarzen Dampflok vor, eine Schlange glänzender Personenwagen hinter sich herziehend. Eines Tages lachte mein Vater und korrigierte mich. Mit einem Schnipper war alles klar. Es war einer dieser unvergesslichen Momente, die man als Kind erlebt, wenn man entdeckt, dass die Welt einen die ganze Zeit betrogen hat.
2. ER SCHENKTE MIR EINEN KUGELSCHREIBER, DER OHNE SCHWERKRAFT SCHRIEB
«Er funktioniert ohne Schwerkraft», sagte mein Vater, während ich ihn in der Samtschachtel mit dem NASA-Aufdruck inspizierte. Es war mein siebter Geburtstag. Mein Vater lag in einem Krankenhausbett und trug einen Hut, weil er keine Haare mehr hatte. Glänzendes Einwickelpapier lag zerknüllt auf seiner Decke. Er hielt meine Hand und erzählte mir eine Geschichte, wie er, als er sechs war, einem Jungen, der seinen Bruder schikanierte, einen Stein an den Kopf geworfen hatte und sie beide danach nie wieder von irgendjemandem behelligt worden waren. «Man muss sich behaupten», sagte er mir. «Aber es ist schlecht, Steine zu werfen», sagte ich. «Ich weiß», sagte er. «Du bist schlauer als ich. Du wirst etwas Besseres finden als Steine.» Als die Schwester kam, ging ich ans Fenster und sah hinaus. Die 59th Street Bridge leuchtete in der Dunkelheit. Ich zählte die vorbeiziehenden Schiffe auf dem Fluss. Als mir langweilig wurde, sah ich nach dem alten Mann, dessen Bett auf der anderen Seite des Vorhangs stand. Er schlief meistens, und wenn er wach war, zitterten seine Hände. Ich zeigte ihm den Kugelschreiber. Erklärte ihm, dass er ohne Schwerkraft funktionierte, aber er verstand es nicht. Ich versuchte es noch einmal zu erklären, aber er war immer noch verwirrt. Schließlich sagte ich: «Er ist dafür da, wenn ich im Weltraum bin.» Er nickte und schloss die Augen.
3. DER MANN, DER SICH DER SCHWERKRAFT NICHT ENTZIEHEN KONNTE
Dann starb mein Vater, und ich legte den Kugelschreiber in eine Schublade. Jahre vergingen, ich wurde elf und bekam eine russische Brieffreundin. Es lief über unsere Hebräische Schule, über die Ortsgruppe von Hadassah. Zuerst sollten wir uns mit russischen Juden schreiben, die gerade nach Israel ausgewandert waren, aber als das nicht klappte, bekamen wir richtige russische Juden zugeteilt. Zum Laubhüttenfest schickten wir der Austauschklasse einen etrog mit unseren ersten Briefen. Meine Partnerin hieß Tatiana. Sie lebte in Sankt Petersburg, nahe dem Marsfeld. Ich erzählte gern, sie lebe im Weltraum. Tatianas Englisch war nicht besonders, und oft verstand ich ihre Briefe nicht. Aber ich erwartete sie begierig. Vater ist Mathematiker, schrieb sie. Mein Vater konnte in der Wildnis überleben, schrieb ich zurück. Auf jeden ihrer Briefe schrieb ich zwei. Habt ihr einen Hund? Wie viele Leute benutzen euer Bad? Besitzt ihr etwas, was dem Zar gehörte? Eines Tages kam ein Brief. Sie wollte wissen, ob ich schon einmal bei Sears Roebuck gewesen war. Und am Ende stand ein PS: Junge aus meiner Klasse hat nach New York gezogen. Vielleicht du möchtest ihm schreiben, weil er jemand kennt. Das war das Letzte, was ich je von ihr gehört habe.
4. ICH MACHTE ANDERE LEBENSFORMEN AUSFINDIG
«Wo ist Brighton Beach?», fragte ich. «In England», sagte meine Mutter, die in den Küchenschränken etwas suchte, was sie verlegt hatte. «Ich meine das in New York.» – «Bei Coney Island, glaube ich.» – «Wie weit ist Coney Island?» – «Eine halbe Stunde ungefähr.» – «Mit dem Auto oder zu Fuß?» – «Du kannst die U-Bahn nehmen.» – «Wie viele Haltestellen?» – «Weiß ich nicht. Was interessiert dich so an Brighton Beach?» – «Ich habe einen Freund dort. Er heißt Misha und ist Russe», sagte ich voller Bewunderung. «Nur Russe?», fragte meine Mutter aus dem Inneren des Schranks unter der Spüle. «Was meinst du mit nur Russe?» Sie stand auf und drehte sich zu mir um. «Nichts», sagte sie und sah mich mit einem Ausdruck an, den sie manchmal annimmt, wenn ihr gerade etwas unerhört Faszinierendes eingefallen ist. «Es ist nur, dass du beispielsweise ein viertel Russin, ein viertel Ungarin, ein viertel Polin und ein viertel Deutsche bist.» Sie zog eine Schublade auf, machte sie wieder zu. «Aber eigentlich», sagte sie, «könntest du sagen, dass du drei viertel Polin und ein viertel Ungarin bist, weil Bubbes Eltern aus Polen kamen, bevor sie nach Nürnberg gezogen sind, und die Heimatstadt von Oma Sasha ursprünglich in Belarus oder Weißrussland lag, bevor sie zu Polen gehörte.» Sie öffnete einen anderen Schrank, voll gestopft mit Plastiktüten, und begann darin zu wühlen. Ich wandte mich zum Gehen. «Aber wenn ich so darüber nachdenke», sagte sie, «könntest du, glaube ich, auch sagen, du seiest drei viertel Polin und ein viertel Tschechin, weil die Stadt, aus der zeyde kam, vor 1918 ungarisch und danach tschechisch war, obwohl die Ungarn sich weiterhin als Ungarn betrachteten und während des Zweiten Weltkriegs für kurze Zeit auch wieder Ungarn wurden. Und natürlich kannst du immer sagen, dass du halb Polin, ein viertel Ungarin und ein viertel Engländerin bist, weil Opa Simon mit neun Jahren aus Polen weggegangen und nach England umgesiedelt ist.» Sie riss ein Blatt Papier von dem Block neben dem Telefon und begann energisch zu schreiben. Eine Minute verging, während sie die Seite voll kritzelte. «Sieh mal!», sagte sie und schob das Papier rüber, damit ich es sehen konnte. «Du kannst tatsächlich sechzehn verschiedene Tortendiagramme machen, jedes davon stimmt!» Ich blickte auf das Papier. Da stand:
Und dann kannst du dich immer noch an halb Engländerin und halb Israelin halten, weil –» – «ICH BIN AMERIKANERIN!», schrie ich. Meine Mutter blinzelte. «Wie du meinst», sagte sie und setzte den Wasserkessel auf. Aus der Ecke des Zimmers, wo er sich die Bilder einer Zeitschrift ansah, brummte Bird: «Nein, bist du nicht. Du bist Jüdin.»
5. EINMAL BENUTZTE ICH DEN KUGELSCHREIBER, UM DAD ZU SCHREIBEN
Zu meiner Bat-Mizwa waren wir in Jerusalem. Meine Mutter wollte sie an der Klagemauer feiern, damit die Eltern meines Vaters, bubbe und zeyde, dabei sein konnten. Als Zeyde 1938 nach Palästina gekommen war, hatte er gesagt, er werde es nie wieder verlassen, und er hat es nie getan. Wer immer ihn sehen wollte, musste zu ihm nach Kiryat Wolfson kommen, in das Hochhaus mit Ausblick auf die Knesset. Die Wohnung war voller dunkler alter Möbel und dunkler alter Fotos, die sie aus Europa mitgebracht hatten. Nachmittags ließen sie die Metalljalousien herunter, um das alles vor dem grellen Licht zu schützen, denn nichts, was sie besaßen, war dafür gemacht, bei diesem Wetter zu überleben.
Meine Mutter suchte wochenlang nach billigen Flügen und fand schließlich drei 700-Dollar-Tickets auf der El Al. Für uns war das immer noch eine Menge Geld, aber sie sagte, wenigstens sei es gut angelegt. Am Tag vor der Bat-Mizwa fuhr Mom mit uns ans Tote Meer. Bubbe kam auch mit, einen Strohhut auf dem Kopf, der mit einem Band unter dem Kinn festgehalten wurde. Als sie aus der Umkleidekabine trat, wirkte sie faszinierend in ihrem Badeanzug, die Haut schrumplig, runzlig und von blauen Venen durchzogen. Wir sahen, wie ihr in den heißen Schwefelquellen die Röte ins Gesicht schoss, Schweißperlen sich auf ihrer Oberlippe bildeten. Als sie herauskam, lief ihr das Wasser in Strömen vom Leib. Wir folgten ihr nach unten ans Ufer. Bird stand im Schlick, die Beine über Kreuz. «Wenn du Pipi musst, geh ins Wasser», sagte Bubbe mit lauter Stimme. Eine Gruppe schwergewichtiger russischer Frauen, in mineralhaltigen schwarzen Lehm gehüllt, drehte sich nach uns um. Falls bubbe es bemerkte, scherte sie sich nicht darum. Wir trieben auf dem Rücken, während sie unter der breiten Krempe hervorspähte und über uns wachte. Meine Augen waren zu, aber ich spürte ihren Schatten über mir. «Nu, hast’ denn keine Oberweite? Was hast’ denn verbrochen?» Ich fühlte mein Gesicht heiß anlaufen und tat so, als hätte ich nichts gehört. «Und Jungs? Hast’ Freunde?», fragte sie. Bird spitzte die Ohren. «Nein», murmelte ich. «Was?» – «Nein.» – «Warum?» – «Ich bin zwölf.» – «Ja nuu. In dein’ Alter hab’ ich drei geha’t, wenn nicht vier. Du bist jung, du bist hübsch, kejn ajnore.» Ich paddelte an Land, um etwas Abstand zu ihrem imposant dräuenden Busen zu gewinnen. Ihre Stimme verfolgte mich. «Aber ewig bleibt das nicht so!» Ich versuchte aufzustehen und rutschte im Lehm aus. Ich suchte das flache Wasser nach meiner Mutter ab, bis ich sie entdeckte. Sie trieb weit draußen, hinter dem letzten Badenden, und ließ sich noch weiter hinaustreiben.
Am nächsten Morgen stand ich, immer noch nach Schwefel stinkend, an der Klagemauer. Die Ritzen zwischen den massiven Steinen steckten voller zusammengeknüllter Zettel. Der Rabbi sagte mir, wenn ich wollte, könnte ich Gott einen schreiben und ihn auch in die Ritzen stecken. Aber ich glaubte nicht an Gott, also schrieb ich an meinen Vater: Lieber Dad, ich schreibe mit dem Kugelschreiber, den du mir geschenkt hast. Gestern hat Bird mich gefragt, ob du den Heimlich-Griff konntest, und ich habe ja gesagt. Ich habe auch gesagt, du konntest ein Luftkissenfahrzeug fliegen. Im Keller habe ich dein Zelt gefunden. Ich glaube, Mom hat es übersehen, als sie alles rausgeschmissen hat, was dir gehörte. Es riecht etwas vermodert, aber undicht ist es nicht. Manchmal schlage ich es im Garten hinten auf, lege mich hinein und denke daran, dass du auch darin gelegen hast. Ich schreibe das, aber ich weiß, dass du es nicht lesen kannst. Alles Liebe, Alma. Bubbe schrieb auch einen Zettel. Als ich versuchte, meinen in die Mauer zu stecken, fiel ihrer heraus. Sie war mit Beten beschäftigt, also hob ich ihn auf und faltete ihn auseinander. Da stand: Baruch Haschem, mögen ich und mein Mann den morgigen Tag erleben; dass mein’ Alma in Gesundheit und Schönheit gedeiht, und wär es denn ein Verbrechen, wenn sie zwei schöne Brüste hätt?
6. WENN ICH EINEN RUSSISCHEN AKZENT HÄTTE, WÄRE ALLES ANDERS
Als ich wieder nach New York kam, war Mishas erster Brief da. Liebe Alma, fing er an. Tausend Grüße! Ich bin sehr glücklich über deinen Empfang. Er war fast dreizehn, fünf Monate älter als ich. Sein Englisch war besser als Tatianas, weil er die Texte fast aller Beatles-Songs auswendig konnte. Er sang sie selbst und begleitete sich dabei auf dem Akkordeon, das er von seinem Großvater bekommen hatte, von dem, der eingezogen war, nachdem die Großmutter gestorben und ihre Seele, wie Misha sagt, in Gestalt einer Gänseschar in den Sommergarten von Sankt Petersburg herabgestiegen war. Ganze zwei Wochen blieb sie dort und schnatterte im Regen, und als sie verschwand, war die Wiese voll geschissen. Ein paar Wochen später kam der Großvater zu Misha nach Hause, einen abgestoßenen Koffer mit achtzehn Bänden der Geschichte der Juden hinter sich herschleifend. Er zog in das schon überfüllte Zimmer, das Misha mit seiner älteren Schwester Svetlana bewohnte, packte das Akkordeon aus und begann, sein Lebenswerk zu produzieren. Zuerst schrieb er nur Variationen russischer Volkslieder, mischte sie mit jiddischen Phrasierungen. Später ging er zu dunkleren und wilderen Versionen über, und am Ende hörte er ganz auf, Sachen zu spielen, die man kannte, und während er seine langen Noten hielt, kamen ihm die Tränen, und so begriffsstutzig Misha und Svetya sein mochten, es brauchte ihnen niemand zu sagen, dass er endlich der Komponist geworden war, der er immer hatte sein wollen. Auf der Gasse hinter dem Haus hatte er ein verbeultes Auto stehen. Nach allem, was Misha erzählt, fuhr er wie ein Blinder, ließ das Auto sich fast völlig allein seinen Weg ertasten und gegen Sachen stoßen und drehte nur in lebensbedrohlichen Situationen mit den Fingerspitzen am Lenkrad. Wenn ihr Großvater sie von der Schule abholte, hielten sich Misha und Svetlana die Ohren zu und versuchten wegzuschauen. Wenn er dann den Motor aufheulen ließ und nicht mehr zu ignorieren war, eilten sie gesenkten Kopfes zum Auto und krochen auf den Rücksitz. Sie schmiegten sich aneinander, während er am Steuer saß und zu einem Band mitsang, das von der Punkband ihres Cousins Lev, Pussy Ass Mother Fucker, stammte. Aber er verstand die Worte immer falsch. Wenn Misha und seine Schwester ihn darauf hinwiesen, tat er überrascht und drehte die Lautstärke auf, um besser zu hören, aber beim nächsten Mal sang er wieder falsch. Als er starb, vermachte er Svetya die achtzehnbändige Geschichte der Juden und Misha das Akkordeon. Um die gleiche Zeit lud Levs Schwester, die blauen Lidschatten trug, Misha auf ihr Zimmer ein, legte «Let it Be» auf und brachte ihm das Küssen bei.
7. DER JUNGE MIT DEM AKKORDEON
Misha und ich schrieben einundzwanzig Briefe hin und her. Das war in meinem zwölften Lebensjahr, zwei Jahre bevor Jacob Marcus meiner Mutter schrieb und sie um die Übersetzung der Geschichte der Liebe bat. Mishas Briefe waren voller Ausrufezeichen und Fragen wie: Was bedeutet, am Arsch zu sein?, und meine voller Fragen über das Leben in Russland. Dann lud er mich zu seiner Bar-Mizwa-Feier ein.
Meine Mutter flocht mir das Haar, lieh mir ihren roten Schal und fuhr mich zu der Mietskaserne in Brighton Beach. Ich drückte auf den Klingelknopf und wartete, bis Misha herunterkam. Meine Mutter winkte aus dem Auto. Mich fröstelte in der Kälte. Ein aufgeschossener Junge mit dunklem Flaum auf der Oberlippe kam heraus. «Alma?», fragte er. Ich nickte. «Willkommen, meine Freundin!», sagte er. Ich winkte meiner Mutter und folgte ihm hinein. Im Hausflur roch es nach Sauerkohl. Die Wohnung oben war gesteckt voll mit Menschen, die aßen und sich lautstark auf Russisch unterhielten. In einer Ecke des Esszimmers stand eine Band, und die Leute versuchten zu tanzen, obwohl sie keinen Platz hatten. Misha war beschäftigt, mit jedem ein Wort zu reden und Umschläge in die Tasche zu stopfen, und so verbrachte ich die meiste Zeit der Party mit einem Teller riesiger Garnelen in der Ecke auf der Couch sitzend. Dabei esse ich keine Garnelen, aber es war das Einzige, was ich erkannte. Wenn mich jemand ansprach, musste ich erklären, dass ich kein Russisch kann. Ein alter Mann bot mir einen Wodka an. In dem Moment stürmte Misha aus der Küche, das an einen Verstärker angeschlossene Akkordeon umgeschnallt, und fing an zu singen. «You say it’s your birthday!», rief er. Die Menge blickte ängstlich. «Well it’s my birthday, too!», schrie er, und quietschend erwachte das Akkordeon zum Leben. Es ging über in «Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band», dann in «Here Comes the Sun» und schließlich, nach fünf oder sechs Liedern, legten die Beatles mit «Hava Nagila» los, und die Menge tobte, alle sangen mit und versuchten zu tanzen. Als die Musik endlich aufhörte, kam Misha zu mir, das Gesicht gerötet und verschwitzt. Er nahm mich bei der Hand, und ich folgte ihm aus der Wohnung, den Flur entlang, fünf Treppen hinauf, durch eine Tür und aufs Dach hinaus. Man sah das Meer in der Ferne, die Lichter von Coney Island, und dahinter eine stillgelegte Achterbahn. Mir klapperten die Zähne, da zog Misha seine Jacke aus und legte sie mir um die Schultern. Sie war warm und roch nach Schweiß.
8. БЛЯДЬ
Ich erzählte Misha alles. Wie mein Vater gestorben war und von der Einsamkeit meiner Mutter, von Birds unerschütterlichem Glauben an Gott. Ich erzählte ihm von den drei Bänden Wie man in der Wildnis überlebt, von dem englischen Lektor und seiner Regatta, von Henry Lavender und den philippinischen Muscheln, und von Tucci, dem Veterinär. Ich erzählte ihm von Dr. Eldridge und dem Leben, wie wir es nicht kennen, und später – zwei Jahre nachdem wir angefangen hatten, uns zu schreiben, sieben Jahre nachdem mein Vater gestorben war, und 3,9 Milliarden Jahre nach dem ersten Leben auf Erden –, als der erste Brief von Jacob Marcus aus Venedig kam, erzählte ich ihm von der Geschichte der Liebe. Meistens schrieben wir einander, oder wir redeten am Telefon, aber manchmal, an den Wochenenden, sahen wir uns. Ich fuhr lieber nach Brighton Beach, weil Mrs. Shklovsky uns da Tee mit Süßkirschen in Porzellangeschirr brachte, und Mr. Shklovsky, der immer große dunkle Schweißflecken unter den Achseln hatte, mir russisch fluchen beibrachte. Manchmal liehen wir Filme aus, vor allem Spionagegeschichten oder Krimis – unsere Lieblingsfilme waren Das Fenster zum Hof, Der Fremde im Zug und Der unsichtbare Dritte, die wir schon zehnmal gesehen hatten. Als ich Jacob Marcus unter dem Namen meiner Mutter schrieb, war es Misha, dem ich davon erzählte und dem ich am Telefon die letzte Fassung vorlas. «Wie findest du das?», fragte ich. «Ich finde, du bist am Arsch –» – «Vergiss es», sagte ich.
9. DER MANN, DER EINEN STEIN SUCHTE
Eine Woche verging, nachdem ich meinen Brief abgeschickt hatte, oder den meiner Mutter oder wie auch immer. Noch eine Woche verging, und ich fragte mich, ob Jacob Marcus außer Landes sei, womöglich in Kairo, oder vielleicht in Tokio. Eine weitere Woche verging, und ich dachte, wer weiß, ob er nicht irgendwie der Wahrheit auf die Spur gekommen ist. Vier Tage vergingen, und ich versuchte, dem Gesicht meiner Mutter Anzeichen von Ärger abzulesen. Es war schon Ende Juli. Ein Tag verging, und ich dachte, vielleicht sollte ich Jacob Marcus schreiben und mich entschuldigen. Am nächsten Tag kam sein Brief.
Der Name meiner Mutter, Charlotte Singer, stand mit Füllfederhalter vorne draufgeschrieben. Als das Telefon klingelte, steckte ich den Umschlag unter den Bund meiner Shorts. «Hallo?», sagte ich ungeduldig. «Ist der Moshiach zu Hause?», fragte die Stimme am anderen Ende. «Wer?» – «Der Moshiach», sagte der Junge, und ich hörte ersticktes Gelächter im Hintergrund. Es klang ein wenig nach Louis, der schräg gegenüber wohnte und Birds Freund gewesen war, bis er andere Freunde gefunden hatte, die er lieber mochte, und nicht mehr mit Bird sprach. «Lass ihn in Frieden», sagte ich, legte auf und wünschte, mir wäre etwas Besseres eingefallen.
Während ich die Straße zum Park hinunterrannte, hielt ich mir die Seite, damit der Umschlag nicht herausrutschte. Es war heiß draußen, und ich schwitzte schon. An der Long Meadow riss ich den Brief neben einem Abfalleimer auf. Die erste Seite handelte davon, wie gut Jacob Marcus die Kapitel fand, die meine Mutter ihm geschickt hatte. Ich überflog den Inhalt, bis ich auf der zweiten Seite auf den Satz stieß: Und nun zu Ihrem Brief, den ich noch gar nicht erwähnt habe. So ging es weiter:
Ihre Neugier schmeichelt mir. Ich wünschte, ich könnte interessantere Antworten auf all Ihre Fragen geben. Ich muss gestehen, dass ich dieser Tage viel Zeit damit verbringe, einfach hier zu sitzen und aus dem Fester zu schauen. Ich bin immer gern gereist. Aber der Ausflug nach Venedig war anstrengender als gedacht, und ich weiß nicht, ob ich es noch einmal wagen werde. Aus Gründen, die nicht in meiner Hand liegen, ist mein Leben auf die einfachsten Dinge beschränkt. Vor mir auf dem Tisch beispielsweise liegt ein Stein. Ein dunkelgraues Stück Granit, von einer Ader Weiß halbiert. Ich habe fast den ganzen Morgen damit zugebracht, ihn zu finden. Davor sind viele Steine ausgeschieden. Ich hatte keine bestimmte Vorstellung im Hinterkopf. Ich glaubte, ich würde ihn erkennen, wenn ich ihn fände. Im Lauf der Suche habe ich einige Ansprüche entwickelt. Er sollte bequem in der Hand liegen, glatt sein, vorzugsweise grau usw. Das also war mein Morgen. In den vergangenen Stunden habe ich mich nur davon ausgeruht.
Das war nicht immer so. Lange ist mir ein Tag wertlos erschienen, wenn ich nicht eine gewisse Menge Arbeit erledigt hatte. Ob ich das Hinken des Gärtners, das Eis auf dem See, die langen, feierlichen Ausflüge des Nachbarkindes, das offenbar keine Freunde hat, wahrnahm oder nicht – solche Dinge waren unwichtig. Aber das hat sich geändert.
Sie fragen, ob ich verheiratet sei. Ich war es einmal, aber das ist lange her, und wir waren so klug oder so dumm, keine Kinder zu bekommen. Wir haben uns kennen gelernt, als wir jung waren, bevor wir genug über Enttäuschungen wussten, und als wir es taten, sah jeder sie im anderen. Man könnte wohl sagen, dass auch ich einen kleinen russischen Astronauten am Revers trage. Jetzt lebe ich allein, was mich nicht stört. Vielleicht ein kleines bisschen. Aber es müsste schon eine ungewöhnliche Frau sein, die mir jetzt noch Gesellschaft leisten wollte, wo ich kaum bis zum Ende der Einfahrt und wieder zurück laufen kann, um die Post aus dem Briefkasten zu holen. Immerhin tue ich das noch. Zweimal die Woche kommt ein Freund vorbei und bringt mir Lebensmittel, und meine Nachbarin schaut jeden Tag unter dem Vorwand herein, sie wolle nur nach den Erdbeeren sehen, die sie in meinem Garten gepflanzt hat. Dabei mag ich keine Erdbeeren.
Aber ich übertreibe, es klingt schlimmer, als es ist. Ich kenne Sie noch nicht einmal, und schon heische ich nach Mitgefühl.
Sie fragen auch, was ich tue. Ich lese. Heute Morgen habe ich Die Straße der Krokodile zu Ende gelesen, zum dritten Mal. Ich finde es einfach überwältigend.
Außerdem sehe ich mir Filme an. Mein Bruder hat mir einen DVD-Player besorgt. Sie glauben gar nicht, wie viele Filme ich in den letzten Monaten gesehen habe. Das ist meine Hauptbeschäftigung. Filme sehen und lesen. Manchmal gebe ich sogar vor zu schreiben, aber darauf fällt niemand herein. Oh, und ich gehe zum Briefkasten.
Genug. Ihr Buch hat mir sehr gefallen. Bitte schicken Sie mehr.
JM
10. ICH HABE DEN BRIEF HUNDERTMAL GELESEN
Und nach jedem Lesen hatte ich das Gefühl, etwas weniger über Jacob Marcus zu wissen. Er sagte, er habe den Morgen damit verbracht, einen Stein zu suchen, aber er sagte nichts weiter darüber, warum ihm Die Geschichte der Liebe so wichtig war. Natürlich war mir nicht entgangen, dass er geschrieben hatte: Ich kenne Sie noch nicht einmal. Noch nicht! Das hieß, er rechnete damit, uns besser kennen zu lernen, oder zumindest unsere Mutter, da er von Bird und mir ja nichts wusste. (Noch nicht!) Aber warum konnte er kaum bis zum Briefkasten und zurück laufen? Und warum musste es eine ungewöhnliche Frau sein, die ihm Gesellschaft leisten würde? Und warum trug er einen russischen Astronauten am Revers?
Ich beschloss, eine Liste von Hinweisen aufzustellen. Ich ging nach Hause, machte meine Zimmertür zu und holte den dritten Band von Wie man in der Wildnis überlebt heraus. Ich schlug eine neue Seite auf. Für den Fall, dass jemand auf die Idee kommen sollte, in meinem Zimmer herumzuschnüffeln, wollte ich alles verschlüsseln. Ich dachte an Saint-Ex. Obendrüber schrieb ich Wie man überlebt, wenn der Fallschirm sich nicht öffnet. Und dann weiter:
1. Einen Stein suchen
2. An einem See wohnen
3. Einen hinkenden Gärtner haben
4. Die Straße der Krokodile lesen
5. Eine ungewöhnliche Frau brauchen
6. Mit Müh und Not zum Briefkasten laufen
Das waren alle Hinweise, die ich in seinem Brief ausfindig machen konnte, also schlich ich mich ins Arbeitszimmer meiner Mutter, während sie unten war, und nahm die anderen Briefe aus ihrer Schublade. Ich las auch sie auf Hinweise durch. Dabei fiel mir der Anfang seines ersten Briefes ein, das Zitat aus der Einleitung meiner Mutter zu Nicanor Parra, der einen kleinen russischen Astronauten am Revers trug und in der Tasche die Briefe einer Frau, die ihn wegen eines anderen verlassen hatte. Wenn Jacob Marcus schrieb, auch er trage einen russischen Astronauten am Revers, sollte das bedeuten, seine Frau habe ihn wegen eines anderen verlassen? Weil ich mir nicht sicher war, nahm ich dies nicht als Hinweis auf. Aber ich schrieb:
7. Eine Reise nach Venedig machen
8. Vor langer Zeit beim Einschlafen aus der Geschichte der Liebe vorgelesen bekommen haben
9. Es nie vergessen
Ich sah mir die Hinweise an. Keiner half weiter.
11. WIE ES MIR GEHT
Ich kam zu dem Schluss, dass mir nur eine Möglichkeit zum Suchen blieb, wenn ich wirklich herausfinden wollte, wer Jacob Marcus war und warum ihm so viel daran lag, das Buch übersetzt zu bekommen: Die Geschichte der Liebe selbst.
Ich schlich mich nach oben, ins Arbeitszimmer meiner Mutter, um zu sehen, ob ich mir an ihrem Computer einen Ausdruck der Kapitel machen konnte, die sie schon übersetzt hatte. Das Problem war nur, sie saß davor. «Hallo», sagte sie. «Hallo», sagte ich in möglichst beiläufigem Ton. «Wie geht’s?», fragte sie. «Dankegutundselber?», antwortete ich, weil es das war, was ich sagen sollte, das hatte sie mir beigebracht, genau wie anständig mit Messer und Gabel zu essen, eine Teetasse zwischen zwei Fingern zu balancieren und die beste Art, mir ohne allgemeines Aufsehen Reste zwischen den Zähnen herauszupulen, in der weisen Voraussicht, dass ich vielleicht einmal von der Queen zum Tee geladen werden könnte. Als ich anmerkte, keiner von denen, die ich kannte, esse anständig mit Messer und Gabel, machte sie ein unglückliches Gesicht und sagte, sie versuche nur, eine gute Mutter zu sein, und wenn sie es mir nicht beibrächte, wer dann? Ich wünschte trotzdem, sie hätte es gelassen, weil Höflichsein manchmal schlimmer ist als Unhöflichsein, wie damals, als Greg Feldman in der Schule auf dem Flur an mir vorbeiging und sagte: «Hey, Alma, was geht ab?», und ich sagte: «Dankegutundselber?», und er stehen blieb, mich ansah, als sei ich gerade vom Mars gefallen, und sagte: «Warum kannst du nie einfach sagen: Nicht viel?»
12. NICHT VIEL
Draußen wurde es dunkel, und meine Mutter sagte, es sei nichts zu essen im Haus und ob wir etwas bestellen sollten, vielleicht thailändisch oder westindisch, oder doch lieber kambodschanisch? «Können wir nicht selbst kochen?», fragte ich. «Makkaroni mit Käse?», fragte sie zurück. «Mrs. Shklovsky macht ein sehr gutes Orangenhuhn», sagte ich. Meine Mutter sah mich zweifelnd an. «Chili?», sagte ich. Während sie im Supermarkt war, ging ich nach oben in ihr Arbeitszimmer und druckte Kapitel eins bis fünfzehn der Geschichte der Liebe aus, so weit, wie sie gekommen war. Ich nahm die Seiten mit nach unten und versteckte sie in meinem Überlebensrucksack unter dem Bett. Ein paar Minuten später kam sie mit einem Pfund Putenhack, einem Kopf Brokkoli, drei Äpfeln, einem Glas Pickles und einer aus Spanien importierten Schachtel Marzipan nach Hause.
13. DIE EWIGE ENTTÄUSCHUNG ÜBER DAS LEBEN, WIE ES IST
Nach einem Abendessen mit in der Mikrowelle erhitzten Hähnchen-Nuggets aus Fleischersatz ging ich früh zu Bett, kroch unter die Decke und las mit der Taschenlampe, was meine Mutter von der Geschichte der Liebe übersetzt hatte. Da war das Kapitel über die Menschen, die mit den Händen redeten, dann das Kapitel über den Mann, der glaubte, er sei aus Glas, und ein Kapitel, das ich noch nicht gelesen hatte, mit dem Titel «Die Geburt des Gefühls». Gefühle hat es nicht von Anbeginn der Zeit gegeben, fing es an.
Genau wie es einen ersten Augenblick gegeben hat, in dem jemand zwei Stöcke aneinander rieb, um einen Funken zu erzeugen, gab es ein erstes Mal, dass Freude empfunden wurde, und ein erstes Mal der Traurigkeit. Eine Zeit lang wurden laufend neue Gefühle erfunden. Das Verlangen wurde früh geboren, ebenso das Bedauern. Als zum ersten Mal Sturheit empfunden wurde, löste das eine Kettenreaktion aus, indem es einerseits den Groll und andererseits die Entfremdung und die Einsamkeit erzeugte. Es mag eine gewisse Bewegung der Hüften entgegen dem Uhrzeigersinn gewesen sein, die der Verzückung zur Geburt verholfen hat, und ein Blitzstrahl, der die erste Ehrfurcht einflößte. Aber vielleicht war es auch der Körper eines Mädchens namens Alma. Wider alle Logik ist das Gefühl des Erstaunens nicht unmittelbar entstanden. Es kam erst, nachdem die Menschen genug Zeit gehabt hatten, sich an die Dinge zu gewöhnen, wie sie waren. Und als genug Zeit vergangen war und jemand das erste Erstaunen empfand, verspürte irgendwo anders jemand den ersten Stich Sehnsucht nach dem Vergangenen.
Es kam auch manchmal vor, dass Menschen Dinge fühlten, die ungenannt blieben, weil es kein Wort für sie gab. Die älteste Regung der Welt mag die Rührung gewesen sein; aber sie zu beschreiben – sie nur zu benennen – muss so schwierig gewesen sein, wie etwas Unsichtbares zu fangen.
(Vielleicht war das älteste Gefühl der Welt aber auch schlicht und einfach die Verwirrung.)
Nachdem die Menschen angefangen hatten zu fühlen, wuchs ihr Verlangen danach. Sie wollten mehr empfinden, tiefer, egal, wie sehr es manchmal wehtat. Die Menschen wurden süchtig nach Gefühlen. Sie mühten sich, neue zu entdecken. Es ist möglich, dass so die Kunst entstand. Neue Arten von Freude wurden entwickelt, einhergehend mit neuen Arten von Traurigkeit: die ewige Enttäuschung über das Leben, wie es ist; die Erleichterung über unerwarteten Aufschub; die Angst vor dem Sterben.
Selbst heute existieren noch nicht alle Möglichkeiten, Gefühle zu empfinden. Es gibt immer noch welche, die jenseits unserer Fähigkeiten und unserer Vorstellung liegen. Hin und wieder, wenn ein noch nie geschriebenes Musikstück, ein noch nie gemaltes Bild oder sonst etwas unmöglich Vorauszusagendes, Ergründ- oder Beschreibbares in Erscheinung tritt, zieht ein neues Gefühl in die Welt ein. Und dann wogt das Herz zum millionsten Mal in der Geschichte des Gefühls und lässt es auf sich wirken.
Alle Kapitel waren so ähnlich, und aus keinem erfuhr ich wirklich etwas darüber, warum das Buch für Jacob Marcus so wichtig war. Stattdessen verfiel ich ins Grübeln über meinen Vater. Wie viel musste ihm Die Geschichte der Liebe bedeutet haben, wenn er sie meiner Mutter nur zwei Wochen nach ihrer ersten Begegnung geschenkt hatte, obwohl er wusste, dass sie damals noch kein Spanisch sprach? Warum? Weil er anfing, sie zu lieben, natürlich.
Dann fiel mir etwas anderes ein. Was, wenn mein Vater in das Exemplar, das er ihr schenkte, etwas hineingeschrieben hatte? Mir war noch nie in den Sinn gekommen nachzusehen.
Ich stand aus dem Bett auf und ging nach oben. In Moms Arbeitszimmer war niemand, und das Buch lag neben dem Computer. Ich nahm es und schlug die Titelseite auf. Da stand in einer Handschrift, die ich nicht erkannte: Für Charlotte, meine Alma. Dies ist das Buch, das ich dir geschrieben hätte, wenn ich schreiben könnte. In Liebe, David.
Ich ging wieder ins Bett und dachte lange über meinen Vater und diese zwanzig Wörter nach.
Und dann begann ich über sie nachzudenken. Alma. Wer war das? Meine Mutter pflegte zu sagen, sie sei jedes Mädchen und jede Frau, die jemals von jemandem geliebt wurde. Aber je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr glaubte ich, auch sie müsse jemand gewesen sein. Wie hätte Litvinoff so viel über die Liebe schreiben können, ohne selbst verliebt gewesen zu sein? In eine bestimmte Person. Und diese Person musste den Namen –
Ich fügte den neun Hinweisen, die ich aufgeschrieben hatte, einen weiteren hinzu:
10. Alma
14. DIE GEBURT DES GEFÜHLS
Ich sauste hinunter in die Küche, aber sie war leer. Vor dem Fenster, mitten in unserem zugewachsenen, mit Unkraut überwucherten rückwärtigen Garten, stand meine Mutter. Ich stieß die Fliegendrahttür auf. «Alma», sagte ich außer Atem. «Hmm?», machte meine Mutter. Sie hielt eine Gartenschaufel in der Hand. Ich hatte keine Zeit, mich bei dem Gedanken aufzuhalten, warum sie eine Gartenschaufel hielt, denn schließlich war es mein Vater, der den Garten gepflegt hatte, nicht sie, und außerdem war es spät, schon halb zehn Uhr abends. «Wie heißt sie mit Nachnamen?», fragte ich. «Wovon redest du?», sagte meine Mutter. «Alma», sagte ich ungeduldig. «Das Mädchen in dem Buch. Wie heißt sie?» Meine Mutter wischte sich über die Stirn, auf der eine Spur Dreck zurückblieb. «Also jetzt, wo du es sagst … In einem Kapitel kommt tatsächlich ein Nachname vor. Aber seltsam, während alle anderen in dem Buch spanische Namen tragen, heißt sie …» Sie runzelte die Stirn. «Wie?», fragte ich aufgeregt. «Wie heißt sie?» – «Mereminski», sagte meine Mutter. «Mereminski», wiederholte ich. Sie nickte. «M-E-R-E-M-I-N-S-K-I. Mereminski. Polnisch. Einer der wenigen Hinweise, die etwas über Litvinoffs Herkunft verraten.» Ich rannte wieder nach oben, kletterte ins Bett, knipste die Taschenlampe an und öffnete den dritten Band von Wie man in der Wildnis überlebt. Neben Alma schrieb ich Mereminski.
Am nächsten Tag begann ich sie zu suchen.