EINE EWIGE FREUDE
Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber ich erwartete etwas. Jedes Mal, wenn ich an den Briefkasten ging, zitterten mir die Finger. Ich ging montags hin. Nichts. Dienstags und mittwochs. Auch donnerstags war nichts da. Zweieinhalb Wochen nachdem ich mein Buch zur Post gebracht hatte, klingelte das Telefon. Ich war sicher, es war mein Sohn. Ich hatte im Sessel gedöst, auf meiner Schulter war Sabber. Ich sprang auf und ging dran. HALLO? Aber: Es war nur die Lehrerin vom Zeichenkurs, die sagte, sie suche Leute für ein Projekt in einer Galerie, und sie habe an mich gedacht wegen meiner, in Anführungszeichen, unwiderstehlichen Präsenz. Natürlich fühlte ich mich geschmeichelt. Zu jeder anderen Zeit wäre das Grund genug gewesen, mir Spare Ribs zu genehmigen. Und doch. Was für ein Projekt?, fragte ich. Sie sagte, ich müsse nur in der Mitte des Raumes nackt auf einem Metallstuhl sitzen und schließlich, wenn mir danach sei, und das wolle sie doch hoffen, meinen Körper in einen Bottich koscheres Kuhblut tunken und mich auf großflächig ausgelegten weißen Papierblättern wälzen.
Ich mag ein Narr sein, aber ich bin nicht wahnsinnig. Auch für mich gibt es Grenzen, also dankte ich ihr freundlich für das Angebot, sagte jedoch, ich müsse leider ablehnen, weil ich diesen Tag bereits fest dazu verplant hätte, auf meinem Daumen zu sitzen und mich im Einklang mit der Rotation der Erde um die Sonne zu drehen. Sie war enttäuscht. Aber sie schien zu verstehen. Sie sagte, wenn ich vorbeischauen und die Zeichnungen sehen wolle, die der Kurs von mir angefertigt habe, könne ich zu der Ausstellung kommen, die sie nächsten Monat machen würden. Ich notierte das Datum und legte auf.
Ich war den ganzen Tag in der Wohnung gewesen. Es wurde bald dunkel, also entschloss ich mich zu einem Spaziergang. Ich bin ein alter Mann. Aber ich komme noch herum. Ich lief los, vorbei an Zafi’s Luncheonette, am Original-Mr.-Man-Friseursalon und an Kossar’s Bialys, wo ich mir samstagabends manchmal einen heißen Bagel hole. Früher machten sie dort keine Bagels. Warum auch? Wer sich Bialys nennt, macht eben Bialys. Und doch.
Ich lief weiter. Ging in den Drugstore und stieß eine Auslage mit KY-Jelly um. Aber: Ich war nicht mit dem Herzen bei der Sache. Am Einkaufszentrum hing ein großes Spruchband: DUDU FISHER AM SONNTAGABEND. KAUFEN SIE IHR TICKET JETZT. Warum nicht?, dachte ich. Mir selbst liegt ja nichts an dem Zeug, aber Bruno liebt Dudu Fisher. Ich ging hinein und kaufte zwei Karten.
Mir schwebte kein Ziel vor. Es wurde dämmrig, aber ich blieb hartnäckig. Als ich ein Starbucks sah, ging ich hinein und kaufte mir einen Kaffee, weil ich Lust auf einen Kaffee hatte, nicht weil ich auffallen wollte. Normalerweise hätte ich ein großes Trara gemacht: Geben Sie mir einen Grande Vente, ich meine einen Tall Grande, nein, bitte einen Chai Super Vente Grande, oder nehme ich doch besser einen Short Frappe?, und dann, um das noch zu unterstreichen, wäre mir beim Milcheingießen ein kleines Malheur passiert. Diesmal nicht. Ich nahm mir Milch wie ein normaler, welterfahrener Mensch und setzte mich auf einen bequemen Stuhl gegenüber von einem zeitunglesenden Mann. Ich legte die Hände um den Kaffee. Die Wärme tat gut. Am Tisch nebenan war ein Mädchen mit blauem Haar, das über ein Notizbuch gebeugt auf einem Kugelschreiber kaute, und am Tisch daneben saß ein kleiner Junge im Fußballdress mit seiner Mutter, die gerade zu ihm sagte: Der Plural von Elf ist Elfen. Eine Welle des Glücks durchströmte mich. Ich fühlte mich im siebten Himmel, ein Teil des Ganzen hier zu sein. Eine Tasse Kaffee zu trinken wie ein normaler Mensch. Am liebsten hätte ich es herausgeschrien: Der Plural von Elf ist Elfen! Was für eine Sprache! Was für eine Welt!
Bei den Toiletten gab es ein Münztelefon. Ich kramte einen Quarter aus der Tasche und wählte Brunos Nummer. Es klingelte neunmal. Das Mädchen mit dem blauen Haar ging auf dem Weg zum Klo an mir vorbei. Ich lächelte sie an. Unglaublich! Sie lächelte zurück. Beim zehnten Klingeln nahm er ab.
Bruno?
Ja?
Ist es nicht gut, zu leben?
Nein danke, ich kaufe nichts.
Ich will dir nichts verkaufen! Hier ist Leo. Hör zu. Ich saß eben hier im Starbucks, bei einem Kaffee, und plötzlich hat es mich gepackt.
Wer hat dich gepackt?
Ach, hör doch zu! Es hat mich gepackt, wie schön es ist, zu leben. Verstehst du, was ich sage? Ich sage, das Leben ist eine schöne Sache, Bruno. Eine schöne Sache und eine ewige Freude.
Es folgte eine Pause.
Klar, Leo, wie du meinst. Das Leben ist wundervoll.
Und eine ewige Freude, sagte ich.
In Ordnung, sagte Bruno. Und eine Freude.
Ich wartete.
Eine ewige Freude.
Ich wollte gerade auflegen, als Bruno sagte: Leo?
Ja?
Was hast du gemeint, das menschliche Leben?
Ich saß eine halbe Stunde an meinem Kaffee, zögerte den letzten Schluck hinaus. Das Mädchen klappte sein Notizbuch zu und stand auf. Der Mann war fast mit seiner Zeitung durch. Ich las die Schlagzeilen. Ich war ein kleiner Teil von etwas Größerem als ich. Ja, das menschliche Leben. Das! Menschliche! Leben! Der Mann blätterte um, und mir blieb das Herz stehen.
Es war ein Foto von Isaac. Ich hatte es noch nie gesehen. Ich sammele alle Zeitungsausschnitte von ihm; gäbe es einen Fanclub, wäre ich Präsident. Seit zwanzig Jahren habe ich eine Zeitschrift abonniert, in der er gelegentlich veröffentlicht. Ich glaubte jedes Foto von ihm zu kennen. Ich habe sie alle tausendmal genauestens betrachtet. Und doch. Dieses war mir neu. Er stand vor einem Fenster. Das Kinn gesenkt, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Wie eben noch in Gedanken. Aber seine Augen blickten nach oben, als hätte jemand unmittelbar vor dem Klicken des Auslösers seinen Namen gerufen. Ich wollte ihm etwas zurufen. Es war nur eine Zeitung, aber ich wollte aus voller Kehle schreien: Isaac! Hier bin ich! Hörst du mich, mein kleiner Isaac. Ich wollte, dass er mich ansah wie denjenigen, der ihn gerade aus seinen Gedanken gerissen hatte. Aber: Er konnte nicht. Weil die Schlagzeile lautete: ROMANCIER ISAAC MORITZ MIT 60 GESTORBEN.
Der viel beachtete Schriftsteller Isaac Moritz, Autor von sechs Romanen, darunter Das Heilmittel, das mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, starb Dienstagnacht an der Hodgkin’schen Krankheit. Er war 60 Jahre alt.
Moritz’ Romane zeichnen sich durch Humor und Mitgefühl aus, vor allem aber durch die Suche nach Hoffnung inmitten tiefster Verzweiflung. Von Anfang an fand er begeisterte Anhänger, darunter Philip Roth, einer der Juroren des National Book Award, der Moritz 1972 für seinen ersten Roman verliehen wurde. «Im Mittelpunkt von Das Heilmittel steht ein lebendiges menschliches Herz: glühend, leidenschaftlich, flehend», schrieb Roth in einer Pressemitteilung zur Bekanntgabe des Preisträgers. Ein anderer Verehrer, Leon Wieseltier, der sich heute Morgen telefonisch aus der Redaktion der New Republic in Washington, D.C., zu Wort gemeldet hat, nannte Moritz «einen der bedeutendsten, weit unterschätzten Schriftsteller des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Ihn als jüdischen oder gar experimentellen Schriftsteller zu bezeichnen», fügte er hinzu, «geht vollkommen an dem vorbei, was er an Menschlichkeit vermittelt, die sich jeder Kategorisierung entzieht.»
Isaac Moritz wurde 1940 als Sohn von Einwanderern in Brooklyn geboren. Schon früh begann er, ein ruhiges und ernsthaftes Kind, Notizbücher mit detaillierten Schilderungen von Szenen aus seinem Leben zu füllen. Einer dieser Einträge – die Beobachtung, wie ein Hund von einer Horde Kinder geprügelt wird, geschrieben im Alter von zwölf Jahren – inspirierte später die berühmteste Szene in Das Heilmittel, wo der Protagonist Jacob aus der Wohnung einer Frau kommt, mit der er soeben zum ersten Mal geschlafen hat, und, bei eisiger Kälte im Schatten einer Straßenlaterne stehend, beobachtet, wie ein Hund von zwei Männern brutal zu Tode getreten wird. In diesem Moment, überwältigt von der zärtlichen Brutalität der physischen Existenz – dem «unauflöslichen Widerspruch, mit Selbstbesinnung gestrafte Tiere und mit tierischer Triebhaftigkeit gestrafte moralische Wesen zu sein» –, verfällt Jacob in eine Klage, die sich ekstatisch, aus einem Guss, ununterbrochen über fünf Seiten erstreckt. Ein unvergleichliches Stück zeitgenössischer Literatur, «glühend und quälend» wie kaum ein anderes, schrieb das Time Magazine.
Das Heilmittel brachte Moritz nicht nur eine Flut von Lobeshymnen und den National Book Award ein, sondern machte seinen Namen zu einem Begriff. Im ersten Jahr erreichte es eine Auflage von 200 000 verkauften Exemplaren und war ein New-York-Times-Bestseller.
Das Folgewerk wurde mit Spannung erwartet, aber als fünf Jahre später endlich der Erzählband Glashäuser erschien, stieß er auf gemischte Reaktionen. Während manche Kritiker darin einen kühnen, innovativen, gänzlich neuen Ansatz sahen, hielten andere, wie Morton Levy, der in Commentary eine vernichtende Kritik schrieb, die Sammlung für misslungen. «Der Autor», so Levy wörtlich, «dessen Debütroman von eschatologischen Spekulationen getragen war, verfällt hier in eine reine Betrachtung des Obszönen.» In einem abgehackten, manchmal surrealen Stil geschrieben, reicht das Spektrum der Erzählungen in Glashäuser vom Engel bis zum Müllmann.
Isaac Moritz ließ es sich nicht nehmen, in seinem dritten Buch, Sing, eine nochmals neue Stimme zu erfinden, eine gestraffte Sprache, «stramm wie eine Trommel», hieß es in der New York Times. Obwohl er die Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten auch in seinen beiden jüngsten Romanen fortsetzte, ziehen sich die Themen, denen er sich widmete, wie ein roter Faden durch sein Werk. Seine Kunst beruhte auf einem leidenschaftlichen Humanismus und dem unbeirrten Forschen nach dem Verhältnis des Menschen zu seinem Gott.
Isaac Moritz hinterlässt einen Bruder, Bernard Moritz.
Benommen saß ich da. Ich dachte an meinen kleinen Sohn, sein fünf Jahre altes Gesicht. Auch an die Zeit, als ich ihn von der anderen Straßenseite aus die Schnürsenkel zubinden sah. Schließlich kam ein Starbucks-Angestellter mit einem Ring in der Augenbraue auf mich zu. Wir schließen, sagte er. Ich sah mich um. Tatsächlich. Alle waren weg. Ein Mädchen mit lackierten Fingernägeln zog einen Besen über den Fußboden. Ich stand auf. Oder ich versuchte aufzustehen, aber meine Knie knickten unter mir ein. Der Starbucks-Angestellte sah mich an, als wäre ich ein Kakerlak im Brownie-Teig. Der Pappbecher in meiner Hand war zu einer feuchten Breimasse zerquetscht. Ich gab sie ihm und setzte mich in Bewegung. Dann fiel mir die Zeitung ein. Der Angestellte hatte sie schon in die Mülltonne geworfen, die er über den Boden rollte. Ich fischte sie heraus, beschmiert, wie sie war, mit Danish-Resten, während er zusah. Weil ich kein Bettler bin, gab ich ihm die Karten für Dudu Fisher.
Ich weiß nicht, wie ich nach Hause gekommen bin. Bruno muss mich beim Türaufschließen gehört haben, denn eine Minute später kam er runter und klopfte. Ich antwortete nicht. Ich saß im Dunkeln auf dem Stuhl am Fenster. Er klopfte weiter. Schließlich hörte ich ihn raufgehen. Eine Stunde verging oder mehr, dann hörte ich ihn wieder auf der Treppe. Er schob ein Stück Papier unter der Tür durch. DAS LEBEN IST WUNDEVOLL stand darauf. Ich schob es nach draußen zurück. Er schob es wieder rein. Ich schob es raus, er schob es rein. Raus, rein, raus, rein. Ich starrte es an. DAS LEBEN IST WUNDEVOLL. Ich dachte: Vielleicht ist es das. Vielleicht ist dies das Wort für das Leben. Ich hörte Bruno hinter der Tür atmen. Ich suchte einen Stift. Kritzelte: UND EIN EWIGER WITZ. Ich schob es unter der Tür zurück. Pause, während er las. Dann zog er befriedigt ab nach oben.
Schon möglich, dass ich weinte. Was macht das für einen Unterschied?
Kurz vor dem Morgengrauen schlief ich ein. Ich träumte, ich stünde auf einem Bahnsteig. Der Zug fuhr ein, und mein Vater stieg aus. Er trug einen Kamelhaarmantel. Ich rannte zu ihm. Er erkannte mich nicht. Ich sagte ihm, wer ich war. Er schüttelte verneinend den Kopf. Er sagte: Ich habe nur Töchter. Ich träumte, meine Zähne bröckelten ab und dass meine Decken mich erstickten. Ich träumte von meinen Brüdern, überall war Blut. Ich würde gern sagen: Ich träumte, das Mädchen, das ich liebte, und ich seien zusammen alt geworden. Oder: Ich träumte von einer gelben Tür und einem weiten Feld. Ich würde gern sagen: Ich träumte, ich sei gestorben und mein Buch sei zwischen meinen Sachen gefunden worden, und in den Jahren nach dem Ende meines Lebens wurde ich berühmt. Und doch.
Ich nahm die Zeitung und schnitt das Foto meines Isaacs aus. Es war zerknittert, aber ich strich es glatt. Ich steckte es in meine Geldbörse, in den Klarsichtteil, der für Fotos da ist. Ich machte ein paarmal den Klettverschluss auf und zu, um mir sein Gesicht anzusehen. Dann bemerkte ich, dass unten, wo ich geschnitten hatte, stand: Die Trauerfeier findet – den Rest konnte ich nicht lesen. Ich musste das Foto herausnehmen und die beiden Teile wieder zusammenfügen. Die Trauerfeier findet Samstag, den 7. Oktober, um 10 Uhr in der Alten Synagoge statt.
Es war Freitag. Ich wusste, ich sollte nicht drin bleiben, also zwang ich mich rauszugehen. Die Luft fühlte sich anders an in meinen Lungen. Die Welt sah nicht mehr aus wie sonst. Man wandelt und verwandelt sich. Man wird ein Hund, ein Vogel, eine stur nach links geneigte Pflanze. Erst jetzt, da mein Sohn fort war, wurde mir bewusst, wie sehr ich für ihn gelebt hatte. Wenn ich morgens aufwachte, so, weil es ihn gab, und wenn ich Essen bestellte, so, weil es ihn gab, und wenn ich mein Buch schrieb, so, weil es ihn gab, es zu lesen.
Ich nahm den Bus stadtaufwärts. Ich sagte mir, mit dem zerknitterten schmatta, den ich einen Anzug nenne, könne ich nicht zur Beerdigung meines eigenen Sohnes gehen. Ich wollte ihm nicht peinlich sein. Ja mehr noch, ich wollte ihn stolz machen. An der Madison Avenue stieg ich aus und ging los, immer an den Schaufenstern entlang. Das Taschentuch lag kalt und nass in meiner Hand. Ich wusste nicht, in welches Geschäft ich sollte. Schließlich nahm ich das erstbeste, das nett aussah. Ich befingerte das Material eines Jacketts. Ein riesiger schwartzer in einem glänzenden beigefarbenen Anzug und Cowboystiefeln näherte sich. Ich dachte, er würde mich rauswerfen. Ich fühle nur den Stoff an, sagte ich. Wollen Sie den nicht mal anprobieren?, fragte er. Ich fühlte mich geschmeichelt. Er fragte nach meiner Größe. Ich kannte sie nicht. Aber er schien zu verstehen. Er warf einen Blick auf mich, begleitete mich zu einer Umkleidekabine und hängte den Anzug an den Haken. Ich legte meine Kleidung ab. Es gab drei Spiegel. Ich war dem Anblick von Körperteilen ausgesetzt, die ich seit Jahren nicht gesehen hatte. Trotz meines Kummers gönnte ich mir einen Moment, sie zu inspizieren. Dann zog ich den Anzug an. Die Hose war steif und eng, die Jacke reichte mir praktisch bis zu den Knien. Ich sah aus wie ein Clown. Mit einem Lächeln zog der schwartzer den Vorhang auf. Er stellte mich gerade hin, knöpfte mich zu und drehte mich herum. Wir sahen beide in den Spiegel. Passt wie angegossen, verkündete er. Wenn Sie möchten, sagte er, im Rücken etwas Stoff zusammenraffend, könnten wir hier eine Kleinigkeit abnehmen. Aber nötig haben Sie das nicht. Sieht aus wie für Sie geschaffen. Ich dachte: Was verstehe ich schon von der Mode? Ich fragte nach dem Preis. Er fasste mir hinten in die Hose und fummelte an meinen tuchas herum. Dieser hier macht … tausend, verkündete er. Ich sah ihn an. Tausend was?, sagte ich. Er lachte höflich. Wir standen vor den drei Spiegeln. Ich faltete und faltete mein nasses Taschentuch zusammen. Mit einem letzten Rest Haltung zog ich mir die zwischen den Backen eingeklemmte Unterhose hoch. Dafür sollte es ein Wort geben. Die einsaitige Harfe.
Draußen auf der Straße ging ich weiter. Ich wusste, auf den Anzug kam es nicht an. Aber: Ich musste etwas tun. Um Halt zu finden.
An der Lexington war ein Laden, der Passfotos anbot. Manchmal mache ich welche. Ich bewahre sie in einem kleinen Album auf. Die meisten sind von mir selbst, außer einem, das von Isaac ist, mit fünf Jahren, und einem anderen von meinem Cousin, dem Schlosser. Er war Amateurfotograf, und eines Tages zeigte er mir, wie man eine Lochkamera baut. Das war im Frühjahr 1947. Ich saß hinten in seinem winzigen Laden und sah zu, wie er Fotopapier in dem Kasten befestigte. Er sagte, ich solle still halten, und leuchtete mir mit einer Lampe ins Gesicht. Dann entfernte er den Deckel von dem Loch. Ich saß so still, dass ich kaum noch atmete. Als das Foto fertig war, gingen wir in die Dunkelkammer und tunkten es ins Entwicklerbad. Wir warteten. Nichts. Wo ich hätte sein sollen, war nur verkratztes Grau. Mein Cousin bestand darauf, es noch einmal zu machen, also machten wir es noch einmal und noch einmal. Nichts. Dreimal versuchte er, mit der Lochkamera ein Bild von mir aufzunehmen, und dreimal erschien ich nicht. Mein Cousin war ratlos. Er verfluchte den Mann, der ihm das Papier verkauft hatte, weil er glaubte, er habe ihm schlechte Qualität angedreht. Aber ich wusste, das war nicht der Fall. Ich wusste, wie andere ein Bein oder einen Arm verloren hatten, hatte ich verloren, was immer es sein mag, das Menschen unauslöschlich macht. Ich bat meinen Cousin, sich auf den Stuhl zu setzen. Er widerstrebte, aber schließlich willigte er ein. Ich machte ein Foto von ihm, und während wir das Papier im Entwicklerbad beobachteten, erschien sein Gesicht. Er lachte. Und ich lachte auch. Ich war derjenige, der das Bild aufgenommen hatte, und wenn es seine Existenz bewies, bewies es auch meine eigene. Ich durfte es behalten. Wann immer ich es aus der Geldbörse nahm und ihn ansah, wusste ich, dass ich in Wirklichkeit mich selbst ansah. Ich kaufte ein Album und klebte es auf die zweite Seite. Auf die erste tat ich das Foto meines Sohnes. Ein paar Wochen danach kam ich an einem Drugstore mit Fotoautomat vorbei. Ich ging hinein. Von da an ging ich jedes Mal, wenn ich etwas Geld übrig hatte, zu dem Automaten. Am Anfang war es immer das Gleiche. Aber: Ich gab nicht auf. Dann, eines Tages, bewegte ich mich versehentlich, als der Auslöser klickte. Ein Schatten tauchte auf. Das nächste Mal sah ich den Umriss meines Gesichts, und einige Wochen später mein ganzes Gesicht. Es war das Gegenteil von Verschwinden.
Als ich jetzt die Tür des Fotoladens aufmachte, bimmelte eine Glocke. Zehn Minuten später stand ich auf dem Bürgersteig, vier identische Fotos von mir selbst in der zusammengepressten Hand. Ich sah sie mir an. Man konnte mich alles Mögliche nennen. Aber: schön nicht. Ich steckte eins in meine Geldbörse, zu dem Zeitungsbild von Isaac. Den Rest warf ich in den Müll.
Ich blickte auf. Gegenüber war Bloomingdale’s. Ein- oder zweimal im Leben war ich dort gewesen, mir einen Spritzer Duft von den schönen Fräuleins an den Parfümständen zu holen. Was soll ich sagen, das hier ist ein freies Land. Ich fuhr mit der Rolltreppe rauf und runter, bis ich die Herrenanzüge im Untergeschoss fand. Diesmal sah ich zuerst nach den Preisen. Am Ständer hing ein dunkelblauer Anzug im Sonderangebot, herabgesetzt auf zweihundert Dollar. Es sah so aus, als könnte er passen. Ich nahm ihn mit in die Umkleide und probierte ihn an. Die Hose war zu lang, aber das stand zu erwarten. Das Gleiche mit den Ärmeln. Ich trat aus der Kabine. Ein Schneider mit einem Maßband um den Hals winkte mich aufs Podest. Ich ging darauf zu, und jeder Schritt erinnerte mich an damals, als meine Mutter mich zum Schneider geschickt hatte, die neuen Hemden meines Vaters abzuholen. Ich war neun, vielleicht zehn. In dem düsteren Raum standen die Büsten zusammengedrängt in der Ecke, als warteten sie auf einen Zug. Grodzenski, der Schneider, war über die Maschine gebeugt, der Fuß ließ das Trittbrett wippen. Ich beobachtete ihn, fasziniert. Jeden Tag verwandelten sich unter seinen Händen, mit den Büsten als einzigen Zeugen, graue Stoffballen in Kragen, Stulpen, Rüschen und Taschen. Willst du mal?, fragte er. Ich setzte mich auf seinen Platz. Er zeigte mir, wie man die Maschine zum Leben erweckte. Ich sah die Nadel auf und ab hüpfen, eine wundersame Spur blauer Stiche hinter sich lassend. Während ich das Trittbrett wippen ließ, brachte Grodzenski die in braunes Papier gepackten Hemden meines Vaters zum Vorschein. Er winkte mich hinter den Ladentisch und brachte noch ein anderes Päckchen aus dem gleichen braunen Papier zum Vorschein. Behutsam nahm er eine Illustrierte heraus. Sie war ein paar Jahre alt. Aber: in tadellosem Zustand. Er fasste sie mit spitzen Fingern an. Innen waren schwarz-silberne Fotos von Frauen mit zarter weißer Haut, wie von innen beleuchtet. Sie führten Kleider vor, wie ich sie noch nie gesehen hatte: Kleider ganz aus Perlen, aus Federn und Fransen, Kleider, die Beine, Arme, die Rundung einer Brust enthüllten. Ein einziges Wort schlüpfte Grodzenski von den Lippen: Paris. Schweigend blätterte er die Seiten um, und schweigend betrachtete ich sie. Unser Atem schlug sich darauf nieder. Vielleicht zeigte mir Grodzenski in seinem stillen Stolz den Grund, warum er bei der Arbeit immer irgendetwas summte. Schließlich klappte er die Illustrierte zu und schob sie ins Papier zurück. Er ging wieder an die Arbeit. Hätte mir damals jemand erzählt, Eva habe den Apfel nur gegessen, damit die Grodzenskis dieser Welt existieren konnten, ich hätte es geglaubt.
Grodzenskis armseliger Abklatsch schwirrte mit Kreide und Stecknadeln um mich herum. Ich fragte, ob es möglich wäre, dass ich vielleicht wartete, bis er mit dem Säumen fertig sei. Er sah mich an, als hätte ich zwei Köpfe. Was glauben Sie, was für Berge da noch auf mich warten, und Sie wollen Ihren gleich? Er schüttelte den Kopf. Zwei Wochen Minimum.
Er ist für eine Beerdigung, sagte ich. Mein Sohn. Ich suchte nach Halt. Langte nach meinem Taschentuch. Dann fiel mir ein, es war in meiner Hose, die zerknittert auf dem Boden der Umkleide lag. Ich stieg vom Podest und eilte in meine Kabine zurück. Ich wusste, ich hatte mich lächerlich gemacht in diesem Clownsanzug. Ein Mann sollte sich einen Anzug fürs Leben kaufen, nicht für den Tod. War es nicht das, was Grodzenskis Geist mir sagte? Ich konnte Isaac nicht peinlich sein, und ich konnte ihn nicht stolz machen. Weil er nicht mehr existierte.
Und doch.
Am Abend kam ich mit dem gesäumten Anzug in einer Kleidertüte nach Hause. Ich setzte mich an den Küchentisch und machte einen einzigen Riss in den Kragen. Am liebsten hätte ich das ganze Ding zerfetzt. Aber ich hielt mich zurück. Fischl, der zaddik, der ein Idiot gewesen sein mochte, hatte einmal gesagt: Ein einziger Riss ist schwerer zu ertragen als hundert Risse.
Ich nahm ein Bad. Keine Katzenwäsche mit dem Schwamm, sondern richtig, in der Wanne, dass der dunkle Rand darin noch einen Schatten dunkler wurde. Ich zog den neuen Anzug an und holte den Wodka vom Regal. Ich trank einen Schluck und wischte mir mit dem Handrücken über den Mund, die Geste wiederholend, die mein Vater und sein Vater und seines Vaters Vater hundertmal gemacht hatten, die Augen halb geschlossen, während das Brennen des Alkohols das Brennen des Schmerzes tilgte. Und dann, als die Flasche leer war, fing ich an zu tanzen. Erst langsam. Aber schneller werdend. Ich stapfte mit dem Fuß und schwang die Beine hoch, dass die Knöchel knackten. Ich stampfte mit den Füßen, bückte mich und schleuderte die Beine hoch in jenem Tanz, den mein Vater und sein Vater getanzt hatten. Ich tanzte und tanzte, lachend und singend, während mir die Tränen von den Wangen liefen, bis meine Füße wund waren und Blut unter den Zehennägeln, tanzte so, wie ich nur irgend tanzen konnte: ums Leben, gegen Stühle krachend, kreiselnd bis zum Umfallen, damit ich aufstehen und weitertanzen konnte, bis der Morgen graute und mich ausgestreckt am Boden fand, dem Tod so nahe, dass ich ihm in den Rachen spucken und flüstern konnte: L’chaim.
Ich erwachte vom Geräusch sich plusternder Tauben auf dem Fenstersims. Ein Ärmel des Anzugs war zerrissen, mir dröhnte der Kopf, auf der Wange getrocknetes Blut. Aber: Ich bin nicht aus Glas.
Ich dachte: Bruno. Warum war er nicht gekommen? Aber wenn, hätte ich womöglich gar nicht auf sein Klopfen reagiert. Dennoch. Zweifelsohne hatte er mich gehört, es sei denn, er hätte seinen Walkman aufgehabt. Aber selbst dann. Eine Lampe war heruntergefallen, ich hatte alle Stühle umgeworfen. Ich wollte eben hochgehen und an seine Tür klopfen, als ich auf die Uhr sah. Schon Viertel nach zehn. Ich denke immer, die Welt sei nicht bereit für mich, aber in Wirklichkeit war ich vielleicht nie bereit für die Welt. Ich war immer zu spät dran im Leben. Ich rannte zur Bushaltestelle. Oder vielmehr, ich humpelte, zog Hosenbeine hoch, legte ein kurzes Hüpf-Hoppel-Halt-und-Keuch ein, zog Hosenbeine hoch, ging, schlurfte, ging, schlurfte und so weiter. Ich erwischte den Bus stadtaufwärts. Wir blieben im Verkehr stecken. Geht das Ding nicht etwas schneller?, sagte ich laut. Die Frau neben mir stand auf und setzte sich woandershin. Möglich, dass ich ihr auf den Schenkel geschlagen hatte in meinem Überschwang, ich weiß es nicht. Ein Mann in orangefarbener Jacke und Schlangenmusterhose stand auf und begann ein Lied zu singen. Alle wandten das Gesicht zum Fenster und sahen nach draußen, bis sie merkten, dass er kein Geld wollte. Er sang einfach nur.
Als ich endlich in der schul ankam, war der Gottesdienst vorbei, aber es standen noch massenhaft Leute herum. Ein Mann mit gelber Fliege und weißem Jackett, das, was von seinem Haar noch übrig war, quer über den Schädel gesprayt, sagte: Natürlich wussten wir es, aber als es dann geschah, war keiner von uns darauf gefasst, worauf eine Frau, die neben ihm stand, erwiderte: Wer kann das schon sein? Ich stand allein neben einer großen Topfpflanze. Meine Handflächen waren feucht, mir wurde schwindlig. Vielleicht war es ein Fehler gewesen zu kommen.
Ich wollte fragen, wo er begraben lag; das hatte nicht in der Zeitung gestanden. Plötzlich überkam mich großes Bedauern darüber, dass ich meine eigene Grabstelle so voreilig gekauft hatte. Hätte ich Bescheid gewusst, könnte ich ihm Gesellschaft leisten. Morgen. Oder am Tag darauf. Ich hatte gefürchtet, den Hunden zum Fraß zu fallen. Ich war bei Mrs. Freids steingefasstem Grab auf dem Pinelawn-Friedhof gewesen, und es schien ein schöner Platz zu sein. Ein Mr. Simchik führte mich herum und gab mir eine Broschüre. Ich hatte mir etwas vorgestellt unter einem Baum, einer Trauerweide etwa, und vielleicht eine kleine Bank. Aber: Als er mir die Preise sagte, sank mir der Mut. Er zeigte mir, was für mich in Frage kam, ein paar Stellen, die entweder zu dicht an der Straße lagen oder da, wo das Gras dünn wurde. Gar nichts mit einem Baum?, fragte ich. Simchik schüttelte den Kopf. Ein Busch? Er leckte sich den Finger und ging raschelnd die Papiere durch. Er druckste herum, aber schließlich knickte er ein. Da könnten wir etwas haben, sagte er, das wäre zwar mehr, als Sie ausgeben wollten, aber Sie können in Raten bezahlen. Es war am äußersten Ende, am Rand des jüdischen Teils. Nicht genau unter einem Baum, aber in der Nähe, nahe genug, dass im Herbst ein paar Blätter auf mich herunterfallen konnten. Ich überlegte. Simchik sagte, ich solle mir Zeit lassen, und ging ins Büro zurück. Ich stand im Sonnenlicht. Dann legte ich mich ins Gras und wälzte mich auf den Rücken. Der Boden war hart und kalt unter meinem Regenmantel. Oben sah ich die Wolken ziehen. Möglich, dass ich eingeschlafen bin. Als Nächstes merkte ich, dass Simchik über mir stand. Nu, nimmscht’s?
Aus den Augenwinkeln sah ich Bernard, den Halbbruder meines Sohnes. Ein Riesentrampel, ganz der Vater, Gott hab ihn selig. Ja, sogar ihn. Sein Name war Mordecai. Sie nannte ihn Morty. Morty! Seit drei Jahren ist er unter der Erde. Ich betrachte es als kleinen Sieg, dass er zuerst ins Gras gebissen hat. Und doch. Wenn ich daran denke, zünde ich eine Jahrzeitkerze für ihn an. Wenn nicht ich, wer dann?
Die Mutter meines Sohnes, das Mädchen, in das ich mich verliebte, als ich zehn war, ist vor fünf Jahren gestorben. Ich rechne damit, bald bei ihr zu sein, wenigstens insoweit. Morgen. Oder am Tag darauf. Davon bin ich überzeugt. Ich dachte, es würde seltsam sein, in einer Welt ohne sie zu leben. Und doch. Ich hatte mich längst daran gewöhnt, mich mit der Erinnerung an sie zu begnügen. Erst ganz am Ende habe ich sie wiedergesehen. Jeden Tag stahl ich mich in ihr Zimmer im Krankenhaus und saß bei ihr. Da war eine Schwester, ein junges Mädchen, und ich erzählte ihr – nicht die Wahrheit. Aber: eine Geschichte, die der Wahrheit nahe kam. Diese Schwester ließ mich nach den Besuchszeiten kommen, wenn keine Aussicht mehr bestand, dass ich irgendjemandem in die Arme lief. Sie hing an einer Herz-Lungen-Maschine, mit Schläuchen in der Nase und einem Fuß in der anderen Welt. Immer wenn ich wegsah, war ich halbwegs darauf gefasst, dass sie beim nächsten Hinsehen von mir gegangen sein würde. Sie war winzig und hutzlig und taub wie ein Türknauf. Es gab so viel, was ich hätte sagen sollen. Und doch. Ich erzählte ihr Witze. Ich war fast so komisch wie Jackie Mason. Manchmal glaubte ich, den Anflug eines Lächelns zu sehen. Ich versuchte, die Dinge leicht zu machen. Ich sagte: Würdest du glauben, dass dieses Ding hier, wo sich dein Arm beugt, das ist, was man einen Ellbogen nennt. Ich sagte: Zwei Rabbis trennten sich in einem gelben Wald. Ich sagte: Moshe geht zum Arzt. Doktor, sagt er, und so weiter und so fort. Viele Dinge sagte ich nicht. Beispiel: Ich habe so lange gewartet. Anderes Beispiel: Und, warst du glücklich? Mit diesem Nebbich diesem Depp diesem holzkopferten Schlemihl, den du einen Ehemann nennst? In Wahrheit hatte ich das Warten schon lange aufgegeben. Der Moment war vorbei, die Tür zwischen dem Leben, das wir hätten führen können, und dem Leben, das wir führten, war uns vor der Nase zugeschlagen. Besser gesagt, mir. Die Grammatik meines Lebens: Als Faustregel gilt, wo immer ein Plural auftaucht, setz ihn in den Singular. Sollte mir je ein königliches Wir entschlüpfen, erlöse mich mit einem kurzen Schlag auf den Kopf von meinen Qualen.
Fühlen Sie sich nicht wohl? Sie sehen etwas blass aus.
Es war der Mann, den ich vorher schon gesehen hatte, der mit der gelben Fliege. Alle kommen an, wenn dir die Hose um die Knöchel hängt, nie einen Augenblick vorher, als du vielleicht noch in angemessener Verfassung warst, sie zu empfangen. Ich suchte Halt an der Topfpflanze.
Alles in Ordnung, sagte ich.
Und wie waren Sie mit ihm bekannt?, fragte er mit abschätzendem Blick.
Wir waren – ich zwängte mein Knie zwischen Topf und Wand, in der Hoffnung, auf diese Weise mein Gleichgewicht zu finden – verwandt.
Familie! Tut mir furchtbar leid, Entschuldigung. Ich dachte, ich kenne die ganze mischpoche! Er sprach es Mischpooke aus.
Natürlich, hätte ich mir denken sollen. Er musterte mich noch einmal von oben bis unten, indem er sich mit der Hand prüfend übers Haar strich, ob es auch richtig saß. Ich habe Sie für einen seiner Fans gehalten, sagte er mit einer Geste zu der lichter werdenden Menge. Und von welcher Seite?
Ich hielt mich am dicksten Teil der Pflanze fest. Versuchte, die Fliege des Mannes zu fixieren, während der Raum um mich schwankte.
Beiden, sagte ich.
Beiden?, wiederholte er ungläubig und sah dabei nach unten, auf die Wurzeln, die um ihren Standort in der Erde kämpften.
Ich bin – fing ich an. Aber mit einem plötzlichen Ruck löste sich die Pflanze. Ich taumelte vorwärts, doch weil das eingekeilte Bein nicht mitkonnte, musste das andere allein springen und ließ dem Topfrand keine andere Möglichkeit, als sich in meinen Unterleib zu rammen, und meiner Hand keine andere Wahl, als dem Mann mit der gelben Fliege den Klumpen Dreck, der an den Wurzeln hing, mitten ins Gesicht zu klatschen.
Entschuldigung, sagte ich, während mir ein stechender Schmerz durch den Unterleib fuhr und wie ein Stromschlag in meine kischkeß. Ich versuchte mich aufzurichten. Meine selige Mutter hat immer gesagt: Halte dich gerade. Dem Mann lief der Dreck aus den Nasenlöchern. Um letzte Hand anzulegen, zückte ich mein verrotztes Taschentuch und drückte es ihm unter die Nase. Er patschte meine Hand weg und zog sein eigenes heraus, frisch gewaschen und mit sauberem Kniff zu einem Rechteck gebügelt. Er schüttelte es auf. Eine weiße Fahne. Einen peinlichen Moment hatte er mit Abwischen zu tun und ich mit der Pflege meiner unteren Regionen.
Doch ehe ich michs versah, stand ich dem Halbbruder meines Sohnes gegenüber, den Ärmel zwischen den Zähnen des Pitbulls mit der Fliege. Schau, was ich hier aufgelesen habe, bellte er. Bernard zog die Augenbrauen hoch. Er meint, er gehört zur Mischpooke.
Bernard lächelte höflich, indem er erst den Riss in meinem Kragen, dann den Schlitz in meinem Ärmel musterte. Ich bitte um Verzeihung, sagte er, aber ich kann mich nicht an Sie erinnern. Sind wir uns schon mal begegnet?
Der Pitbull geiferte sichtlich. Eine feine Staubschicht Erde setzte sich in den Falten seines Hemdes ab. Ich warf einen kurzen Blick auf das Schild, das den Ausgang anzeigte. Vielleicht hätte ich es mit Flucht versucht, wären meine Geschlechtsteile nicht so schwer in Mitleidenschaft gezogen gewesen. Mich überkam Übelkeit. Und doch. Manchmal braucht man einen Geistesblitz, und siehe da, schon blitzt der Geist.
Redst Jiddisch?, flüsterte ich heiser.
Wie bitte?
Ich packte Bernard am Ärmel. Der Köter hatte mich am Ärmel und ich Bernard. Ich ging mit dem Gesicht ganz nahe an seins heran. Seine Augen waren blutunterlaufen. Er mochte ein Trampel sein, aber er war ein guter Kerl. Trotzdem, ich hatte keine Wahl.
Ich hob die Stimme. REDST JIDDISCH? Ich schmeckte den abgestandenen Alkohol in meinem Atem. Ich packte ihn am Kragen. Als er zurückzuckte, sprangen die Venen an seinem Hals hervor. FARSTEYST?
Tut mir leid. Bernard schüttelte den Kopf. Ich verstehe nicht.
Gut, fuhr ich auf Jiddisch fort, weil dieser Dummbax hier, sagte ich, auf den Mann mit der Fliege deutend, dieser putz hier, der sich einschleimt bis in meine tuchas, seine Ladung schon bekommen hätte, wenn ich könnte, wie ich wollte. Würden Sie ihn freundlichst bitten, seine Pfoten von mir zu nehmen, ehe ich gezwungen bin, ihm die nächste Pflanze in die Schnüss zu hauen, und diesmal werde ich mir nicht die Mühe machen, sie vorher auszutopfen.
Robert? Bernard rang um Verständnis. Er schien zu begreifen, dass ich von dem Mann sprach, der mit den Zähnen an meinem Ellbogen hing. Robert war Isaacs Lektor. Haben Sie Isaac gekannt?
Der Pitbull packte fester zu. Ich machte den Mund auf. Und doch.
Tut mir leid, sagte Bernard. Ich wünschte, ich spräche Jiddisch, schade. Aber ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind. Es war beeindruckend, zu sehen, wie viele Menschen hergekommen sind. Isaac hätte sich gefreut. Er nahm meine Hand zwischen seine beiden und schüttelte sie. Er wandte sich zum Gehen.
Slonim, sagte ich. Das war nicht geplant. Und doch.
Bernard drehte sich wieder um.
Wie bitte?
Ich sagte es noch einmal.
Ich komme aus Slonim, sagte ich.
Slonim?, wiederholte er.
Ich nickte.
Plötzlich sah er aus wie ein Kind, dessen Mutter sich beim Abholen verspätet hat und das erst jetzt, wo sie da ist, in Tränen ausbricht.
Sie hat uns immer davon erzählt.
Wer ist sie?, fragte der Pitbull.
Meine Mutter. Er kommt aus derselben Stadt wie meine Mutter, sagte Bernard. Ich habe so viele Geschichten gehört.
Ich wollte seinen Arm tätscheln, aber er bewegte sich, um sich etwas aus dem Auge zu wischen, mit dem Ergebnis, dass ich seine Männerbrust zu tätscheln bekam. Weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, kniff ich hinein.
Der Fluss, richtig? Wo sie schwimmen ging, sagte Bernard.
Das Wasser war eisig. Wir zogen unsere Keider aus und stürzten uns, Zeter und Mordio schreiend, im Hechtsprung von der Brücke. Unsere Herzen standen still. Unsere Körper wurden zu Stein. Einen Augenblick glaubten wir zu ertrinken. Wenn wir nach Luft japsend die Böschung wieder hinaufkletterten, waren unsere Beine schwer, Schmerz schoss durch die Knöchel. Deine Mutter war dünn, mit kleinen blassen Brüsten. In der Sonne trocknend, schlief ich ein und erwachte durch den Schock eiskalten Wassers auf dem Rücken. Und ihr Gelächter.
Kannten Sie das Schuhgeschäft ihres Vaters?, fragte Bernard.
Jeden Morgen holte ich sie dort ab, und wir gingen zusammen zur Schule. Außer in der Zeit, als wir Streit hatten und drei Wochen nicht miteinander sprachen, gab es kaum einen Tag, an dem wir nicht zusammen gingen. In der Kälte gefror ihr nasses Haar zu Eiszapfen.
Ich bin so voll von all den Geschichten, die sie uns immer erzählt hat. Das Feld, auf dem sie spielte.
Tja, sagte ich, seine Hand tätschelnd. Das Feld.
Eine Viertelstunde später saß ich eingequetscht zwischen dem Pitbull und einer jungen Frau hinten in einer Stretchlimousine; man möchte meinen, ich machte es mir zur Gewohnheit. Wir fuhren zu Bernards Haus, wo sich Verwandte und Freunde im kleinen Kreis versammeln wollten. Ich wäre lieber zum Haus meines Sohnes gefahren, um inmitten seiner Sachen zu trauern, aber ich musste mich mit dem seines Halbbruders begnügen. Auf dem Sitz mir gegenüber in der Limousine saßen noch zwei andere. Als einer in meine Richtung nickte und lächelte, nickte und lächelte ich zurück. Ein Verwandter von Isaac?, fragte der eine. Scheint so, erwiderte der Pitbull, nach einer Haarlocke tastend, die im Luftzug des Fensters wedelte, das die Frau soeben heruntergelassen hatte.
Es dauerte fast eine Stunde bis zu Bernards Haus. Irgendwo auf Long Island. Wunderschöne Bäume. So schöne Bäume hatte ich noch nie gesehen. Draußen in der Einfahrt hatte einer von Bernards Neffen seine Hosenbeine bis zu den Knien aufgeschlitzt und rannte in der Sonne hin und her, um zu sehen, wie sich der Wind in ihnen fing. Drinnen im Haus standen Menschen um einen mit Essen voll geladenen Tisch und redeten über Isaac. Ich wusste, da gehörte ich nicht hin. Ich kam mir vor wie ein Narr und ein Hochstapler. Ich stand am Fenster, machte mich unsichtbar. Ich hatte nicht gedacht, dass es so schmerzlich sein würde. Und doch. Fremde Leute über den Sohn, den ich mir nur hatte vorstellen können, reden zu hören, als wäre er ihnen vertraut wie ein Verwandter, ging fast über das Maß des Erträglichen hinaus. Also stahl ich mich davon. Ich wanderte durch die Zimmer des Hauses von Isaacs Halbbruder. Ich dachte: Über diesen Teppich ist Isaac gegangen. Ich kam in ein Gästezimmer. Ich dachte: Hin und wieder hat er in diesem Bett geschlafen. In genau diesem Bett! Mit dem Kopf auf diesen Kissen. Ich legte mich hin. Ich war müde, ich konnte nicht anders. Das Kissen senkte sich unter meiner Wange. Und während er hier lag, dachte ich, sah er aus genau diesem Fenster auf genau diesen Baum.
Du bist so ein Träumer, sagt Bruno, und vielleicht bin ich das. Vielleicht träumte ich auch dies, und gleich würde es an der Tür klingeln, ich würde die Augen aufschlagen, und Bruno stünde da, um nach einer Rolle Klopapier zu fragen.
Ich muss eingeschlafen sein, denn als Nächstes stand Bernard über mir.
Entschuldigung! Ich hatte nicht mitbekommen, dass hier jemand ist. Ist Ihnen schlecht?
Ich sprang auf. Wenn das Wort springen für meine Bewegungsabläufe überhaupt taugt, war dies der Moment. Und genau da sah ich es. Es stand auf einem Regal, direkt hinter seiner Schulter. In einem silbernen Bilderrahmen. Klar zu sehen, würde ich sagen, wenn ich den Ausdruck je verstanden hätte. Was könnte unklarer sein als sehen?
Bernard wandte sich um.
Oh, das, sagte er und nahm es vom Regal. Schauen wir mal. Das ist meine Mutter, als sie noch ein Kind war. Meine Mutter, sehen Sie? Haben Sie sie so gekannt, wie sie auf dem Bild aussieht?
«Stellen wir uns unter einen Baum», sagte sie. «Warum?» – «Weil es schöner ist.» – «Vielleicht solltest du auf einem Stuhl sitzen, und ich stehe hinter dir, wie es immer ist bei Mann und Frau.» – «Das ist blöd.» – «Warum soll es blöd sein?» – «Weil wir nicht verheiratet sind.» – «Sollen wir Händchen halten?» – «Bloß nicht.» – «Aber warum?» – «Darum, weil es dann alle wüssten.» – «Was wüssten sie?» – «Das mit uns.» – «Und was, wenn sie es wüssten?» – «Es ist besser, wenn es ein Geheimnis bleibt.» – «Warum?» – «Dann kann niemand es uns wegnehmen.»
Isaac hat es bei ihren Sachen gefunden, nachdem sie gestorben war, sagte Bernard. Ein hübsches Foto, nicht wahr? Keine Ahnung, wer der Junge ist. Sie hatte nicht viel von drüben. Ein paar Fotos von ihren Eltern und Schwestern, das ist alles. Natürlich konnte sie sich nicht vorstellen, sie nie wieder zu sehen, also hat sie nicht viel mitgebracht. Aber das hier hatte ich noch nie gesehen, bis Isaac es bei ihr zu Hause in einer Schublade fand. Es steckte in einem Umschlag, zusammen mit ein paar Briefen. Alle auf Jiddisch. Isaac glaubte, sie seien von einer alten Liebe aus Slonim. Aber ich bezweifle das. Sie hat nie jemanden erwähnt. Sicher verstehen Sie kein Wort von dem, was ich da sage, oder?
«Hätte ich eine Kamera», sagte ich, «würde ich jeden Tag ein Bild von dir machen. Dann könnte ich mich erinnern, wie du an jedem einzelnen Tag in deinem Leben ausgesehen hast.» – «Ich sehe immer gleich aus.» – «Nein, tust du nicht. Du veränderst dich die ganze Zeit. Jeden Tag ein ganz klein wenig. Könnte ich, würde ich Buch darüber führen.» – «Wenn du so schlau bist, wie habe ich mich heute wohl verändert?» – «Zum einen bist du um den Bruchteil eines Millimeters größer geworden. Dein Haar ist um den Bruchteil eines Millimeters länger. Und deine Brüste sind um den Bruchteil eines –» – «Sind sie nicht!» – «Doch, sind sie.» – «Eben NICHT.» – «Eben wohl.» – «Was sonst, du altes Ferkel?» – «Du bist etwas glücklicher und auch etwas trauriger geworden.» – «Was heißt, das hebt sich gegenseitig auf, und ich bin genau gleich geblieben.» – «Ganz und gar nicht. Die Tatsache, dass du heute etwas glücklicher geworden bist, ändert nichts an der Tatsache, dass du auch etwas trauriger geworden bist. Jeden Tag wirst du beides etwas mehr, was bedeutet, dass du genau jetzt, in diesem Augenblick, so glücklich und so traurig bist wie noch nie in deinem Leben.» – «Wie willst du das wissen?» – «Denk mal nach. Bist du je glücklicher gewesen als jetzt, da du hier im Gras liegst?» – «Ich glaube nicht. Nein.» – «Und bist du je trauriger gewesen?» – «Nein.» – «Das ist nicht bei jedem so, weißt du. Manche Menschen, wie deine Schwester, werden jeden Tag nur glücklicher und glücklicher. Und manche Menschen, wie Beyla Asch, werden nur immer trauriger und trauriger. Und manche Menschen, wie du, werden beides.» – «Was ist mit dir? Bist du jetzt so glücklich und so traurig, wie du es noch nie gewesen bist?» – «Natürlich bin ich das.» – «Warum?» – «Weil nichts mich so glücklich macht und nichts so traurig wie du.»
Meine Tränen fielen auf den Bilderrahmen. Zum Glück war das Glas da.
Bernard und ich standen zusammen und betrachteten das Foto. Am liebsten bliebe ich hier, um in Erinnerungen zu schwelgen, sagte er, aber ich muss wirklich gehen. Die ganzen Leute drüben, gestikulierte er. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie etwas brauchen. Ich nickte. Er zog die Tür hinter sich zu, und dann, Gott sei mir gnädig, nahm ich das Foto und steckte es mir in die Hose. Die Treppe runter, und draußen war ich. In der Einfahrt klopfte ich ans Fenster einer Limousine. Der Fahrer riss sich aus dem Schlaf.
Ich wäre jetzt so weit, nach Hause zu fahren, sagte ich.
Zu meiner Überraschung stieg er aus, machte die Tür auf und half mir einsteigen.
Als ich in die Wohnung kam, glaubte ich, die Einbrecher seien da gewesen. Möbel waren umgekippt, der Boden mit weißem Puder bestäubt. Ich packte den Baseballschläger, den ich im Schirmständer stehen habe, und folgte der Fußspur in die Küche. Jede freie Fläche stand voller Töpfe, Pfannen und schmutziger Schüsseln. Es sah so aus, als hätte sich, wer auch immer eingebrochen war, um mich zu bestehlen, Zeit für eine Mahlzeit genommen. Ich stand da, mit dem Foto in der Hose. Hinter mir tat es einen Schlag, ich drehte mich und holte blindlings aus. Aber es war nur ein Topf von der Anrichte gerutscht und über den Boden gerollt. Auf dem Küchentisch, neben meiner Schreibmaschine, stand ein großer Kuchen, in der Mitte eingesunken. Aber er stand. Er war mit gelbem Zuckerguss glasiert, und obendrauf, mittendrüber stand in schludrigen rosa Buchstaben: SCHAU WER KUCHEN GEBACKEN HAT. Auf der anderen Seite der Schreibmaschine lag eine Notiz: HABE DEN GANZEN TAG GEWARTET.
Ich konnte nicht umhin zu lächeln. Ich legte den Baseballschläger weg, stellte die Möbel auf, die ich, wie ich mich nun erinnerte, in der Nacht zuvor umgeworfen hatte, zog den Bilderrahmen heraus, hauchte auf das Glas, rieb es mit meinem Hemd ab und stellte ihn auf meinen Nachttisch. Ich ging die Treppe zu Brunos Stockwerk hinauf. Ich wollte eben klopfen, als ich den Zettel an der Tür sah: BITTE NICHT STÖREN. GESCHENK UNTER DEINEM KOPFKISSEN.
Es war lange her, dass jemand mich beschenkt hatte. Ein Glücksgefühl stupste mein Herz. Dass ich jeden Morgen aufwache und die Hände an einer Tasse heißen Tees wärmen kann. Dass ich die Tauben fliegen sehe. Dass Bruno mich am Ende meines Lebens nicht vergessen hat.
Also zurück, die Treppe hinunter. Um das Vergnügen, von dem ich wusste, es stand mir bevor, ein wenig hinauszuzögern, holte ich noch die Post aus dem Kasten. Dann schloss ich die Wohnungstür wieder auf. Bruno hatte es fertig gebracht, den Fußboden der gesamten Wohnung mit einer feinen Schicht Mehlstaub zu überziehen. Vielleicht hatte ein Wind reingeblasen, wer weiß. Im Schlafzimmer sah ich, dass er sich auf den Boden gelegt und einen Engel ins Mehl gemacht hatte. Ich ging darum herum, wollte nicht zerstören, was so liebevoll gerichtet war. Ich hob mein Kopfkissen.
Es war ein großer brauner Umschlag. Außen drauf stand mein Name, in einer Handschrift, die ich nicht erkannte. Ich machte ihn auf. Innen war ein Stoß gedruckter Seiten. Ich begann zu lesen. Die Wörter kamen mir vertraut vor. Einen Augenblick konnte ich sie nicht zuordnen. Dann wurde mir bewusst, es waren meine eigenen.