VERZEIH MIR

Fast alles, was über Zvi Litvinoff bekannt ist, stammt aus der Einleitung, die seine Frau ein paar Jahre nach seinem Tod zur Neuauflage der Geschichte der Liebe schrieb. Der Ton ihrer Prosa, zärtlich und zurückhaltend, ist geprägt von der Hingabe derer, die ihr Leben der Kunst eines anderen gewidmet haben. Sie beginnt so: Als ich Zvi im Herbst 1951 in Valparaiso kennen lernte, war ich gerade zwanzig geworden. Ich hatte ihn oft in den Cafés unten am Hafen gesehen, die ich mit meinen Freunden besuchte. Er trug immer einen Mantel, sogar in den wärmsten Monaten, und starrte trübsinnig ins Weite. Er war fast zwölf Jahre älter als ich, aber etwas an ihm zog mich an. Ich wusste, dass er Flüchtling war, weil ich seinen Akzent bei den seltenen Gelegenheiten gehört hatte, wenn jemand, den er kannte, auch aus dieser anderen Welt, einen Augenblick an seinem Tisch verweilte. Meine Eltern waren von Krakau nach Chile ausgewandert, als ich noch klein war, sodass er für mich etwas Vertrautes und Berührendes an sich hatte. Ich zog meinen Kaffee in die Länge, beobachtete ihn, wie er Zeitung las. Meine Freunde lachten mich aus, nannten ihn un viéjon, und eines Tages forderte mich ein Mädchen namens Gracia Stürmer heraus, ich solle hingehen und ihn ansprechen.

Was Rosa tat. An diesem Tag sprach sie fast drei Stunden lang mit ihm, während der Nachmittag sich hinzog und kühle Luft vom Wasser hereinströmte. Und Litvinoff – erfreut über die Aufmerksamkeit der jungen Frau mit blassem Gesicht und schwarzem Haar, entzückt, dass sie ein paar Brocken Jiddisch verstand, plötzlich erfüllt von einer Sehnsucht, von der er nicht gewusst hatte, dass er sie seit Jahren in sich herumtrug – regte und belebte sich, indem er sie mit Geschichten unterhielt und Gedichte vortrug. Am Abend ging Rosa fröhlich und beschwingt nach Hause. Unter den großspurigen, von sich eingenommenen Kommilitonen an der Universität mit ihrem Pomadehaar und dem leeren Gerede über Philosophie sowie den paar Melodramatischen, die ihr beim Anblick ihres nackten Körpers ihre Liebe erklärt hatten, war nicht ein Einziger halb so erfahren wie Litvinoff. Am nächsten Nachmittag, nach ihren Seminaren, eilte Rosa ins Café zurück. Litvinoff war da, wartete auf sie, und wieder führten sie stundenlang angeregte Gespräche: über den Klang des Cellos, über Stummfilme und über die Erinnerungen, die sie beide mit dem Geruch von Salzwasser verbanden. So ging es vierzehn Tage weiter. Sie hatten vieles gemeinsam, dennoch hing zwischen ihnen ein dunkler und schwerwiegender Unterschied, der Rosa in ihrem Bestreben, auch nur ein Fitzelchen davon zu erhaschen, umso mehr anzog. Aber Litvinoff erzählte nur selten von seiner Vergangenheit und all dem, was er verloren hatte. Und nicht ein einziges Mal erwähnte er die Sache, an der er angefangen hatte abends an dem alten Zeichentisch in seinem möblierten Zimmer zu arbeiten, das Buch, das sein Meisterwerk werden sollte. Er sagte nur, dass er als Teilzeitkraft an einer jüdischen Schule unterrichtete. Für Rosa war es schwer, sich den Mann, der ihr gegenübersaß – schwarz wie eine Krähe in seinem ewigen Mantel, angehaucht von der Feierlichkeit einer alten Fotografie –, inmitten einer Klasse lachender, wuselnder Kinder vorzustellen. Erst zwei Monate später, schreibt Rosa, in den ersten Momenten einer Traurigkeit, die durch das offene Fenster hereinzuschlüpfen schien, ohne dass wir es bemerkten, und so die erhabene Atmosphäre, die mit einer beginnenden Liebe entsteht, zerstörte, las Litvinoff mir die ersten Seiten der Geschichte vor.

Sie waren auf Jiddisch geschrieben. Später, mit Rosas Hilfe, übersetzte Litvinoff sie ins Spanische. Das handschriftliche jiddische Original ging verloren, als im Haus der Litvinoffs eine Überschwemmung stattfand, während sie in den Bergen waren. Geblieben ist nur eine einzige Seite, die Rosa von der Oberfläche des stillen Wassers rettete, das einen halben Meter hoch in Litvinoffs Arbeitszimmer stand. Auf dem Grund erblickte ich die Goldkappe des Füllhalters, den er immer in der Tasche trug, schreibt sie, und musste mit dem Arm bis zur Schulter eintauchen, um sie zu erreichen. Die Tinte war zerflossen, die Schrift teilweise unleserlich geworden. Aber der Name, den er ihr in seinem Buch gegeben hatte, der Name, der in der Geschichte jeder Frau gehörte, war in Litvinoffs abfallender Handschrift unten auf der Seite noch zu erkennen.

Anders als ihr Ehemann war Rosa Litvinoff keine Schriftstellerin, und doch ist ihre Einleitung von natürlicher Intelligenz gelenkt und überall, fast intuitiv, mit schattenhaften Flecken durchsetzt, Pausen, Andeutungen, Auslassungen, die insgesamt eine Art Halbdunkel erzeugen, in das die Leser ihre jeweils eigenen Vorstellungen projizieren können. Sie beschreibt das offene Fenster und wie Litvinoffs Stimme gefühlvoll bebte, als er ihr den Anfang vorlas, sagt aber nichts über das Zimmer selbst – das, wie wir annehmen können, Litvinoffs gewesen sein muss, das mit dem Zeichentisch, der früher dem Sohn seiner Vermieterin gehört hatte und in dessen Ecke die Wörter des wichtigsten aller jüdischen Gebete geschnitzt waren: Schema jisrael adonai elohenu adonai echad, sodass Litvinoff jedes Mal, wenn er sich hinsetzte, um auf der schrägen Fläche zu schreiben, bewusst oder unbewusst ein Gebet ausstieß –, nichts über das schmale Bett, in dem er schlief, oder die Socken, die er am Vorabend gewaschen und ausgewrungen hatte und die jetzt wie zwei erschöpfte Tierchen über einer Stuhllehne hingen, nichts über das einzige gerahmte, der sich ablösenden Tapete zugewandte Foto (das Rosa umgedreht und sich angesehen haben muss, als Litvinoff sich entschuldigte, um über den Flur auf die Toilette zu gehen) von einem Jungen und einem Mädchen, die mit steif herabhängenden Armen, zusammengepressten Händen und bloßen Knien in Positur standen, während hinter dem Fenster, im hintersten Winkel des Bildes neben dem Rahmen gerade noch zu sehen, sich langsam der Nachmittag entfernte. Und obwohl Rosa beschreibt, wie sie mit der Zeit ihre schwarze Krähe in die Ehe führte, wie ihr Vater starb und das große Haus ihrer Kindheit mit seinen süß duftenden Gärten verkauft wurde und sie zu Geld kamen, wie sie einen kleinen weißen Bungalow auf den Klippen über dem Wasser außerhalb von Valparaiso kauften und Litvinoff seine Arbeit in der Schule für eine Weile aufgeben und die meisten Nachmittage und Abende schreiben konnte, sagt sie nichts von Litvinoffs hartnäckigem Husten, der ihn oft mitten in der Nacht hinaus auf die Terrasse trieb, wo er aufs schwarze Wasser starrend stand, nichts von den langen Zeiten, die er stumm blieb, und nichts davon, wie seine Hände manchmal zitterten oder wie sie ihn vor ihren Augen alt werden sah, als verginge die Zeit für ihn schneller als für alle um ihn her.

Was Litvinoff selbst betrifft, so wissen wir nur, was auf den Seiten des einzigen Buches steht, das er geschrieben hat. Er führte kein Tagebuch und schrieb wenig Briefe. Diejenigen, die er geschrieben hat, gingen entweder verloren oder wurden vernichtet. Abgesehen von einigen Einkaufslisten und persönlichen Notizen und der einzigen Seite des jiddischen Manuskripts, die Rosa aus der Wasserflut barg, ist nur ein erhaltenes schriftliches Zeugnis bekannt, eine Ansichtskarte von 1964, adressiert an einen Neffen in London. Damals war die Geschichte in einer bescheidenen Auflage von zweitausend Exemplaren erschienen, und Litvinoff gab wieder Unterricht, diesmal – dank seines gestiegenen Ansehens aufgrund der noch frischen Veröffentlichung – ein Literaturseminar an der Universität. Die Ansichtskarte liegt, für jedermann zu sehen, in einem Schaukästchen auf verschlissenem blauem Samt im verstaubten Museum für Stadtgeschichte, das fast immer geschlossen ist, wenn jemand auf den Gedanken kommt, es zu besuchen. Auf der Rückseite steht schlicht und einfach:

 

Lieber Boris,

wie schön zu hören, dass du die Prüfungen geschafft hast. Möge deine Mutter in seligem Angedenken ruhen, sie wäre ja so stolz. Ein richtiger Doktor! Sicher bist du jetzt fleißiger denn je, aber wenn du zu Besuch kommen willst, wir haben ja das Gästezimmer. Bleib, solange du Lust hast. Rosa ist eine gute Köchin. Du kannst faul am Meer sitzen und richtig Urlaub machen. Wie steht es mit Mädchen? Nur eine Frage. Vergiss sie nicht vor lauter Fleiß! Alles Liebe und meine Glückwünsche

Zvi

 

Die Vorderseite der Ansichtskarte, ein handkoloriertes Foto vom Meer, ist auf der Erläuterung an der Wand daneben abgebildet, begleitet von den Worten: Zvi Litvinoff, Autor des Werkes Die Geschichte der Liebe, wurde in Polen geboren und lebte siebenunddreißig Jahre in Valparaiso, bis zu seinem Tod 1978. Diese Postkarte schrieb er an Boris Perlstein, den Sohn seiner ältesten Schwester. In kleineren Buchstaben steht links unten in der Ecke: Gestiftet von Rosa Litvinoff. Was nicht dasteht, ist, dass seine Schwester Miriam im Warschauer Ghetto von einem Nazioffizier in den Kopf geschossen wurde oder dass Litvinoff außer Boris, der auf einem Kindertransport entkam und die restlichen Jahre des Krieges und seiner Kindheit in einem Waisenhaus in Surrey verbrachte, und später Boris’ Kindern, die manchmal an der von Verzweiflung und Angst geprägten Liebe ihres Vaters erstickten, keine überlebenden Verwandten hatte. Es steht auch nicht da, dass die Postkarte nie abgeschickt wurde, aber jeder aufmerksame Betrachter wird erkennen, dass die Briefmarke keinen Stempel trägt.

Was nicht bekannt ist über Zvi Litvinoff, ist endlos. So ist beispielsweise nicht bekannt, dass er auf seiner ersten und letzten Fahrt nach New York im Herbst 1954 – als Rosa gedrängt hatte, sie sollten dorthin fahren, um einigen Verlagslektoren sein Manuskript zu zeigen – in einem überfüllten Kaufhaus so tat, als habe er seine Frau aus den Augen verloren, dass er hinausging, die Straße überquerte und in die Sonne blinzelnd im Central Park stand. Während sie zwischen Etageren mit Strümpfen und Lederhandschuhen nach ihm suchte, spazierte er durch eine Ulmenallee. Dass er in der Zeit, bis Rosa einen Geschäftsführer gefunden hatte und über den Lautsprecher eine Durchsage gemacht wurde – Mr. Z. Litvinoff, Ihre Frau erwartet Sie in der Damenschuhabteilung, Mr. Z. Litvinoff, bitte in die Damenschuhabteilung –, einen See erreichte und beobachtete, wie ein Boot mit einem rudernden jungen Paar dicht an das Schilf heranfuhr, hinter dem er stand, und das Mädchen in dem Glauben, verborgen zu sein, ihre Bluse aufknöpfte, um zwei weiße Brüste zu enthüllen. Dass der Anblick dieser Brüste in Litvinoffs Gewissen brannte und er durch den Park zurückeilte ins Kaufhaus, wo er Rosa – hochroten Kopfes und mit nass geschwitztem Nackenhaar – auf zwei Polizisten einredend fand. Dass er, als Rosa die Arme um ihn schlang, ihm sagte, er habe sie halb zu Tode erschreckt, und fragte, wo um Himmels willen er gewesen sei, erklärte, er sei zur Toilette gegangen und habe sich in der Kabine eingeschlossen. Dass die Litvinoffs später, in einer Hotelbar, den einzigen Lektor trafen, der sie hatte sehen wollen, einen nervösen Mann mit einem dünnen Lachen und nikotingebeizten Fingern, der ihnen sagte, obwohl das Buch ihm sehr gefalle, könne er es nicht veröffentlichen, weil niemand es kaufen würde. Zum Zeichen seiner Wertschätzung schenkte er ihnen ein Buch, das sein Verlag gerade herausgebracht hatte. Nach einer Stunde entschuldigte er sich, sagte, er sei zum Essen eingeladen, hastete hinaus und überließ den Litvinoffs die Rechnung.

In dieser Nacht, nachdem Rosa eingeschlafen war, schloss Litvinoff sich wirklich in der Toilette ein. Er tat das fast jede Nacht, weil ihm der Gedanke peinlich war, seine Frau müsste sein Geschäft riechen. Während er auf dem Klo saß, las er die erste Seite des Buches, das der Lektor ihnen geschenkt hatte. Und er weinte.

Es ist nicht bekannt, dass Litvinoffs Lieblingsblume die Pfingstrose war. Dass sein liebstes Satzzeichen das Fragezeichen war. Dass er schreckliche Träume hatte und, wenn überhaupt, nur mit einem Glas warmer Milch einschlafen konnte. Dass er sich oft seinen eigenen Tod vorstellte. Dass er glaubte, die Frau, die ihn liebte, tue es zu Unrecht. Dass er Plattfüße hatte. Dass er am liebsten Kartoffeln aß. Dass er sich gern als Philosophen dachte. Dass er alle Dinge, auch die einfachsten, endlos hinterfragte und, wenn ihm auf der Straße jemand entgegenkam, der seinen Hut zog und «Guten Tag» sagte, oft so lange brauchte, den Sachverhalt abzuwägen, dass der andere, bis er sich zu einer Antwort durchrang, seiner Wege gegangen war und er allein dastand. All das war in Vergessenheit geraten wie so vieles über so viele, die geboren werden und sterben, ohne dass sich jemals jemand die Zeit nähme, es alles aufzuschreiben. Dass Litvinoff eine Frau hatte, die ihm so treu ergeben war, ist ehrlich gesagt der einzige Grund, warum überhaupt irgendjemand etwas von ihm weiß.

Ein paar Monate nachdem das Buch bei einem kleinen Verlag in Santiago erschienen war, bekam Litvinoff ein Päckchen zugeschickt. In dem Augenblick, als der Postbote auf die Klingel drückte, schwebte Litvinoffs Federhalter über einem leeren Blatt Papier, ihm standen Tränen in den Augen; bewegt von einer plötzlichen Erkenntnis, war er erfüllt von dem Gefühl, er sei gerade im Begriff, etwas Wesentliches zu begreifen. Aber als es klingelte, ging der Gedanke verloren, und Litvinoff, wieder wie gewohnt, schlurfte durch den dunklen Flur und öffnete die Tür, vor der im Sonnenlicht der Briefträger stand. «Guten Tag», sagte er, indem er ihm ein großes, säuberlich in einen braunen Umschlag gepacktes Päckchen überreichte, und Litvinoff brauchte den Sachverhalt nicht lange abzuwägen, um den Schluss zu ziehen, dass der Tag, der einen Moment zuvor gerade im Begriff gewesen war, wunderbar zu werden, besser als er sich erhoffen konnte, plötzlich eine andere Richtung genommen hatte, wie ein Unwetter am Horizont. Das bestätigte sich, als Litvinoff das Päckchen öffnete und die Satzvorlage der Geschichte der Liebe mit folgendem Begleitbrief seines Verlegers fand: Das abgesetzte Manuskript wird von uns nicht mehr benötigt und geht hiermit an Sie zurück. Litvinoff zuckte zusammen, nicht wissend, dass das redigierte Manuskript üblicherweise an den Autor zurückging. Er fragte sich, ob das Rosas Meinung über das Buch beeinflussen würde. Da er es nicht herausfinden wollte, verbrannte er den Brief samt dem, was ohnehin nicht mehr benötigt wurde, und verfolgte das Zischen und Sichringeln des verglühenden Papiers im offenen Kamin. Als seine Frau vom Einkaufen zurückkehrte, die Fenster aufriss, um Licht und frische Luft hereinzulassen, und fragte, warum er an einem so wunderschönen Tag Feuer gemacht habe, zuckte Litvinoff die Achseln und klagte über eine Erkältung.

Von den zweitausend gedruckten Exemplaren der Erstauflage der Geschichte der Liebe wurden einige gekauft und gelesen, viele wurden gekauft und nicht gelesen, einige verblichen in den Schaufenstern der Buchhandlungen, wo sie Fliegen als Landeplatz dienten, in einigen wurde mit Bleistift unterstrichen, und recht viele landeten in der Papierpresse, wo sie zusammen mit anderen ungelesenen oder ungewollten Büchern zu Brei geschreddert, ihre Sätze in den sausenden Messern der Maschine zerlegt und zerkleinert werden. Aus dem Fenster starrend, stellte Litvinoff sich die zweitausend Exemplare der Geschichte der Liebe als einen Schwarm von zweitausend Brieftauben vor, die mit den Flügeln schlagen, zu ihm zurückkehren und berichten konnten über die Zahl der vergossenen Tränen, der Lacher, der laut vorgelesenen Stellen, wie oft der Buchdeckel nach kaum einer Seite Lesen brutal zugeschlagen worden war, wie viele überhaupt nie aufgeschlagen wurden.

Er konnte es nicht wissen, aber unter den Exemplaren der Erstausgabe der Geschichte der Liebe (nach Litvinoffs Tod flackerte das Interesse wieder auf, und das Buch wurde mit Rosas Einleitung kurzfristig nachgedruckt) war mindestens eines dazu bestimmt, ein Leben zu verändern – mehr als ein Leben. Dieses besondere Buch lag, Feuchtigkeit aufsaugend, länger als der Rest in einem Lagerhaus am Stadtrand von Santiago. Von dort wurde es schließlich an einen Buchladen in Buenos Aires geschickt. Der nachlässige Besitzer beachtete es kaum, und so schmachtete es einige Jahre im Regal und setzte quer über den Umschlag ein Muster aus Stockflecken an. Es war ein schmaler Band und sein Platz auf dem Regal nicht unbedingt der beste: Zur Linken von der übergewichtigen Biographie einer unbedeutenden Schauspielerin bedrängt, zur Rechten vom einstigen Bestseller eines inzwischen vergessenen Autors, war sein Rücken auch für den gründlichsten Stöberer kaum zu sehen. Als der Laden den Besitzer wechselte, fiel es einer Ausmistung zum Opfer und wurde abtransportiert in ein weiteres Lagerhaus, stickig, schmuddelig, von Weberknechten wimmelnd, wo es im Dunkeln und Feuchten blieb, bis es endlich in ein kleines Antiquariat kam, nicht weit entfernt von der Wohnung des Schriftstellers Jorge Luis Borges.

Die Besitzerin ließ sich Zeit mit dem Auspacken der Bücher, die sie billig und en gros vom Lagerhaus erworben hatte. Eines Morgens, als sie in den Kisten wühlte, entdeckte sie das stockfleckige Exemplar der Geschichte der Liebe. Sie hatte noch nie davon gehört, aber der Titel stach ihr ins Auge. Sie legte es beiseite, und in einer ruhigen Stunde, als im Laden nichts los war, las sie das erste Kapitel mit der Überschrift «Das Stummzeitalter»:

 

Die erste Sprache der Menschen waren Gesten. Diese Sprache, die ihnen aus den Händen floss, hatte nichts Primitives an sich, nichts von dem, was wir heute sagen, konnte mit dem endlosen Aufgebot an Bewegungen, die mit den feinen Knochen der Finger und Handgelenke möglich waren, nicht gesagt werden. Die komplexen und subtilen Gesten verlangten ein zartes Gespür für Bewegungen, das seither vollständig verloren gegangen ist.
Während der Stummzeit kommunizierten die Menschen mehr, nicht weniger. Um das bloße Überleben zu gewährleisten, durften die Hände fast nie still halten, und so geschah es nur im Schlaf (und manchmal nicht einmal dann), dass die Leute nicht dieses oder jenes sagten. Es wurde nicht zwischen sprachlichen Gesten und lebensnotwendigen Handgriffen unterschieden. Die Arbeit, sagen wir, ein Haus zu bauen oder eine Mahlzeit zuzubereiten, war ebenso gut ein Ausdruck wie der, das Zeichen für Ich liebe dich oder Ich meine es ernst zu machen. Wenn eine Hand schützend vors Gesicht gehalten wurde, weil jemand über ein lautes Geräusch erschrak, wurde etwas gesagt, und wenn Finger aufhoben, was jemand hatte fallen lassen, wurde etwas gesagt, und sogar wenn die Hände ruhten, sagte das etwas. Natürlich gab es Missverständnisse. Es konnte sein, dass ein Finger gehoben worden war, um an einer Nase zu kratzen, und wenn jemand zufällig genau dann Augenkontakt zu seinem Liebhaber aufnahm, mochte der es versehentlich für die keineswegs unähnliche Geste für Jetzt merke ich, dass es ein Fehler war, dich zu lieben halten. Solche Irrtümer gingen ans Herz. Trotzdem, weil die Menschen wussten, wie leicht sie passieren konnten, weil sie nicht mit der Illusion herumliefen, sie verstünden vollkommen, was andere sagten, waren sie es gewohnt, einander zu unterbrechen und zu fragen, ob sie richtig verstanden hätten. Manchmal waren Missverständnisse sogar erwünscht, da sie Gelegenheit gaben zu sagen: Verzeih mir, ich habe mich nur an der Nase gekratzt. Natürlich weiß ich, dass es immer richtig war, dich zu lieben. Wegen der Häufigkeit dieser Irrtümer nahm die Geste für das Um-Verzeihung-Bitten eine denkbar schlichte Form an. Das einfache Öffnen der Hand bedeutete: Verzeih mir.
Abgesehen von einer Ausnahme gibt es für diese erste Sprache kaum einen Beleg. Die Ausnahme, auf der alles Wissen darüber beruht, besteht in einer Sammlung von neunundsiebzig versteinerten Gesten, Abdrücken menschlicher Hände, die sich, mitten im Satz erstarrt, in einem kleinen Museum in Buenos Aires befinden. Eine macht die Geste für Manchmal, wenn der Regen, eine andere für Nach all den Jahren, noch eine andere für War es ein Fehler, dich zu lieben? Sie wurden 1903 von dem argentinischen Arzt Antonio Alberto de Biedma in Marokko entdeckt. Auf einer Wanderung durch den Hohen Atlas fand er eine Höhle, wo die neunundsiebzig Gesten im Schiefer abgebildet waren. Er studierte sie über Jahre, ohne sie auch nur annähernd zu verstehen, bis er eines Tages, schon vom Fieber der Ruhr befallen, an der er sterben sollte, plötzlich in der Lage war, die feinen Bewegungen der im Stein gefangenen Fäuste und Finger zu entziffern. Bald darauf wurde er nach Fes in ein Krankenhaus gebracht, und während er im Sterben lag, bewegten sich seine Hände wie Vögel und vollführten tausend Gesten, die all die Jahre geruht hatten.
Wenn dir auf großen Versammlungen, Festen oder inmitten von Leuten, mit denen du dich nicht vertraut fühlst, die Hände manchmal ungelenk an den Enden der Arme herabhängen – wenn du nicht weißt, wohin damit, und dich die Traurigkeit überwältigt, die mit der Erkenntnis der Fremdheit des eigenen Körpers kommt –, so, weil deine Hände sich an eine Zeit erinnern, da die Kluft zwischen Körper und Geist, Hirn und Herz, dem, was innen, und dem, was außen ist, sehr viel kleiner war. Nicht, dass wir die Sprache der Gesten vollständig vergessen hätten. Die Gewohnheit, beim Sprechen die Hände zu bewegen, ist uns geblieben. Klatschen, mit dem Finger zeigen, Daumen hoch: lauter Artefakte alter Gesten. Händchenhalten beispielsweise ist eine Art Erinnerung daran, wie es sich anfühlt, gemeinsam nichts zu sagen. Und nachts, wenn es zum Sehen zu dunkel ist, finden wir es nötig, uns einander durch Gesten auf unseren Körpern verständlich zu machen.

 

Die Besitzerin des Antiquariats stellte das Radio leiser. Sie blätterte zur hinteren Umschlagklappe, um mehr über den Autor zu erfahren, aber da stand nur, dass Zvi Litvinoff in Polen geboren und 1941 nach Chile ausgewandert sei, wo er heute noch lebe. Es gab kein Foto. Noch am selben Tag, immer wenn sie keine Kundschaft zu bedienen hatte, las sie das Buch zu Ende. Bevor sie abends den Laden schloss, stellte sie es ins Schaufenster, etwas wehmütig, sich von ihm trennen zu müssen.

Am nächsten Morgen fielen die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne quer über den Titel des Buches. Die erste von vielen Fliegen landete auf dem Schutzumschlag. Die angeschimmelten Seiten begannen in der Wärme zu trocknen, während die blaugraue Perserkatze, die das Regiment im Laden führte, an ihm vorbeistrich und Anspruch auf einen sonnigen Platz erhob. Ein paar Stunden später streifte es der flüchtige Blick des ersten von vielen Passanten im Vorbeigehen.

Die Ladenbesitzerin versuchte nicht, es irgendeinem ihrer Kunden aufzudrängen. Sie wusste, in den falschen Händen konnte so ein Buch leicht abgetan oder, schlimmer noch, nicht gelesen werden. Sie ließ es vielmehr an Ort und Stelle liegen, in der Hoffnung, der richtige Leser würde es entdecken.

Und genau das geschah. Eines Nachmittags sah ein hoch gewachsener junger Mann das Buch im Schaufenster. Er kam in den Laden, nahm es zur Hand, las ein paar Seiten und brachte es an die Registrierkasse. Als er mit der Inhaberin sprach, konnte sie seinen Akzent nicht zuordnen. Sie fragte, woher er sei, neugierig, was für ein Mensch das Buch mitnehmen würde. Israel, sagte er und erklärte, er habe soeben seinen Militärdienst abgeleistet und reise ein paar Monate durch Südamerika. Die Besitzerin wollte das Buch in eine Tüte tun, aber der junge Mann sagte, er brauche keine, und steckte es in seinen Rucksack. Die Türglocken bimmelten noch, als sie ihn unter dem Nachhall seiner schlappenden Sandalen auf der heißen, hellen Straße verschwinden sah.

An diesem Abend schlug der junge Mann, hemdlos in seinem gemieteten Zimmer, unter einem träge die heiße Luft vor sich herschiebenden Deckenventilator das Buch auf und zeichnete es in einem Schriftzug, den er jahrelang geübt hatte, mit seinem Namen: David Singer.

Erfüllt von Rastlosigkeit und Sehnsucht, begann er zu lesen.

Die Geschichte der Liebe
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