DIE TRAURIGKEIT MEINER MUTTER
1. ICH HEISSE ALMA SINGER
Als ich geboren wurde, nannte meine Mutter mich nach jedem Mädchen in dem Buch Die Geschichte der Liebe, das mein Vater ihr geschenkt hatte. Meinen Bruder nannte sie Emanuel Chaim, nach dem jüdischen Historiker Emanuel Ringelblum, der im Warschauer Ghetto Milchkannen voller Zeitzeugnisse begrub, und dem jüdischen Cellisten Emanuel Feuermann, einem der großen musikalischen Wunderkinder des zwanzigsten Jahrhunderts, und auch nach dem genialen jüdischen Schriftsteller Isaak Emmanuilowitsch Babel sowie nach ihrem Onkel Chaim, der ein Witzbold war, ein richtiger Clown, der jedermann dazu brachte, sich kaputtzulachen, und durch die Nazis starb. Aber mein Bruder weigerte sich, darauf zu hören. Wenn Leute ihn fragten, wie er heiße, dachte er sich etwas aus. Er machte fünfzehn oder zwanzig Namen durch. Einen Monat lang sprach er von sich in der dritten Person als Mr. Fruit. An seinem sechsten Geburtstag sprang er mit Anlauf aus einem Fenster im ersten Stock und versuchte zu fliegen. Er brach sich den Arm und holte sich eine bleibende Narbe an der Stirn. Von da an wurde er nur noch Bird genannt.
2. WAS ICH NICHT BIN
Es gibt ein Spiel, das mein Bruder und ich oft miteinander spielten. Ich zeigte auf einen Stuhl. «DAS IST KEIN STUHL», sagte ich. Bird zeigte auf den Tisch. «DAS IST KEIN TISCH.» – «DAS IST KEINE WAND», sagte ich. «DAS IST KEINE DECKE.» So ging es weiter. «DRAUßEN REGNET ES NICHT.» – «MEIN SCHNÜRSENKEL IST NICHT OFFEN!», kreischte Bird. Ich deutete auf meinen Ellbogen. «DAS IST KEINE SCHRAMME.» Bird hob sein Knie. «DAS IST AUCH KEINE!» – «DAS IST KEIN KESSEL!» – «KEINE TASSE!» – «KEIN LÖFFEL!» – «DIE TELLER SIND NICHT SCHMUTZIG!» Wir sprachen ganzen Räumen, Jahren, Wetterlagen die Existenz ab. Einmal, auf dem Höhepunkt unseres Geschreis, holte Bird tief Luft. Aus voller Kehle schrie er: «ICH! BIN NICHT! MEIN! GANZES! LEBEN! UNGLÜCKLICH! GEWESEN!» – «Aber du bist doch erst sieben», sagte ich.
3. MEIN BRUDER GLAUBT AN GOTT
Vor drei Jahren, als er neuneinhalb war, fand er einen kleinen roten Band mit dem Titel Das Buch jüdischen Denkens, gewidmet unserem Vater, David Singer, anlässlich seiner Bar-Mizwa. Es enthielt eine Sammlung jüdischer Gedanken mit Kapitelüberschriften wie «Jeder Israelit hält die Ehre seines ganzen Volkes in den Händen», «Unter den Romanows» oder «Unsterblichkeit». Kurz nachdem Bird es gefunden hatte, begann er, eine kippa aus schwarzem Samt zu tragen, die er überallhin aufsetzte, ohne sich darum zu kümmern, dass sie ihm nicht richtig passte und hinten eine Beule schlug, mit der er aussah wie ein Depp. Außerdem schloss er sich Mr. Goldstein an, dem Hausmeister der Hebräischen Schule, der in drei Sprachen vor sich hin murmelte und dessen Hände mehr Staub hinterließen, als sie wegwischten. Es gab Gerüchte, Mr. Goldstein schlafe nur eine Stunde pro Nacht im Keller der schul, er sei in einem Arbeitslager in Sibirien gewesen, sein Herz sei schwach, ein lautes Geräusch könne ihn töten und Schnee bringe ihn zum Weinen. Bird fühlte sich zu ihm hingezogen. Er folgte ihm auf Schritt und Tritt, sobald die Hebräische Schule aus war und Mr. Goldstein zwischen den Stuhlreihen saugte, die Toiletten putzte oder Flüche von der Tafel rieb. Es war auch Mr. Goldsteins Pflicht, die Gebetbücher, die alten siddurim, wenn sie zerfetzt oder zerfleddert waren, zu entsorgen, und eines Nachmittags, unter den Augen zweier Krähen, die groß wie Hunde von den Bäumen spähten, schob er eine ganze Schubkarre voll hinaus, über Steine und Baumwurzeln rumpelnd hinter die Synagoge, grub ein Loch, sprach ein Gebet und begrub sie. «Darf man nicht so wegwerfen», erklärte er Bird. «Nicht mit Gottes Namen drauf. Müssen ordentlich begraben werden.»
In der folgenden Woche begann Bird, die vier hebräischen Buchstaben des Namens, den niemand aussprechen und niemand wegwerfen darf, auf die Blätter seiner Hausaufgaben zu schreiben. Ein paar Tage später öffnete ich den Wäschekorb und fand ihn mit wasserfestem Marker auf die Etiketten seiner Unterwäsche geschrieben. Er schrieb ihn mit Kreide über unsere Haustür, kritzelte ihn quer über sein Klassenfoto, an die Wand im Badezimmer, und bevor es ein Ende nahm, schnitzte er ihn mit meinem Schweizer Armeemesser so hoch er konnte in den Baum vor unserem Haus.
Vielleicht deswegen, vielleicht aber auch wegen seiner Gewohnheit, sich den Arm vors Gesicht zu halten und in der Nase zu bohren, als merkten die Leute nicht, was er da tat, oder weil er manchmal seltsame Videospiel-Geräusche von sich gab – jedenfalls stellten die paar Freunde, die er gehabt hatte, in diesem Jahr ihre Besuche ein und kamen nicht mehr zum Spielen vorbei.
Jeden Morgen wacht er früh auf, um draußen nach Jerusalem gewandt zu davnen. Wenn ich ihn vom Fenster aus beobachte, bereue ich, ihm die Aussprache der hebräischen Buchstaben beigebracht zu haben, als er erst fünf war. Es macht mich traurig, weil ich weiß, dass es so nicht weitergeht.
4. MEIN VATER STARB, ALS ICH SIEBEN WAR
Was ich erinnere, sind Bruchstücke. Seine Ohren. Die verschrumpelte Haut an seinen Ellbogen. Die Geschichten, die er mir von seiner Kindheit in Israel erzählte. Wie er in seinem Lieblingssessel saß und Musik hörte und wie gern er sang. Er sprach Hebräisch mit mir, und ich nannte ihn Abba. Ich habe fast alles vergessen, aber manchmal fallen mir Wörter wieder ein, kum-kum, schemesch, chol, jam, ejtz, nischika, motek, ihre Bedeutung abgerieben wie die Motive auf alten Münzen. Meine Mutter, die Engländerin ist, hatte ihn im Sommer, ehe sie in Oxford zu studieren anfing, während eines Arbeitsaufenthalts in einem Kibbuz bei Ashdod kennen gelernt. Er war zehn Jahre älter als sie. Er war beim Militär gewesen und danach durch Südamerika gereist. Dann ging er wieder zur Schule und wurde Ingenieur. Er zeltete gern und hatte immer einen Schlafsack und zwei Kanister Wasser im Kofferraum, und wenn nötig, konnte er mit einem Flintstein Feuer machen. Er holte meine Mutter freitagabends ab, während die anderen Kibbuzniks auf Decken im Gras lagen, Hunde streichelten und schwatzten. Er fuhr mit ihr zum Toten Meer, auf dem sie seltsam schräge trieben.
5. DAS TOTE MEER IST DER TIEFSTE PUNKT AUF ERDEN
6. KEINE ZWEI MENSCHEN SAHEN EINANDER SO UNÄHNLICH WIE MEINE MUTTER UND MEIN VATER
Als der Körper meiner Mutter bräunte und mein Vater lachend sagte, sie sehe ihm von Tag zu Tag ähnlicher, war das ein Witz, denn er war eins einundneunzig, mit strahlenden grünen Augen und schwarzem Haar, während meine Mutter blass ist und so klein, dass man sie noch heute, mit einundvierzig, von der anderen Straßenseite aus für ein Mädchen halten könnte. Bird ist klein und blond wie sie, ich bin groß gewachsen wie mein Vater. Außerdem bin ich schwarzhaarig, zahnlückig, abscheulich mager und fünfzehn Jahre alt.
7. ES GIBT EIN FOTO VON MEINER MUTTER, DAS NIEMAND JE GESEHEN HAT
Im Herbst ging meine Mutter zum Studieren nach England zurück. Ihre Taschen waren voller Sand vom tiefsten Punkt auf Erden. Sie wog 104 Pfund. Manchmal erzählt sie eine Geschichte über die Zugfahrt vom Bahnhof Paddington nach Oxford, auf der sie einen fast vollständig erblindeten Fotografen traf. Er trug eine dunkle Sonnenbrille und sagte, er habe sich vor zehn Jahren bei einer Antarktis-Reise die Netzhaut verletzt. Sein Anzug war tadellos gebügelt, und er hielt seine Kamera auf dem Schoß. Er sagte, er sehe die Welt jetzt anders, und das sei nicht unbedingt schlecht. Er fragte, ob er ein Bild von ihr machen dürfe. Als er die Kamera hob und durch die Linse sah, fragte meine Mutter, was er sehe. «Dasselbe, was ich immer sehe», sagte er. «Das heißt?» – «Einen Schleier», sagte er. «Warum dann das Foto?», fragte sie. «Für den Fall, dass meine Augen wieder gesund werden», sagte er. «Damit ich dann weiß, was ich gesehen habe.» Auf dem Schoß meiner Mutter lag eine braune Papiertüte, darin ein Brot mit gehackter Leber, das meine Großmutter ihr geschmiert hatte. Sie bot es dem fast vollständig erblindeten Fotografen an. «Sind Sie nicht hungrig?», fragte er. Sie sagte, doch, aber sie habe ihrer Mutter nie gesagt, dass sie gehackte Leber hasse, und nachdem sie jahrelang nichts gesagt habe, sei es schließlich zu spät dafür gewesen. Der Zug fuhr in Oxford ein, und meine Mutter stieg aus, eine Sandspur hinter sich zurücklassend. Ich weiß, die Geschichte hat eine Moral, aber ich weiß nicht welche.
8. MEINE MUTTER IST DER STURSTE MENSCH, DEN ICH KENNE
Nach fünf Minuten war ihr klar, dass sie Oxford hasste. In der ersten Semesterwoche tat sie gar nichts, hockte nur in ihrem Zimmer in einem zugigen Steingebäude, sah den Regen auf die Kühe auf der Christ Church Meadow fallen und bemitleidete sich. Sie musste ihr Teewasser auf einer Kochplatte erhitzen. Wenn sie ihren Tutor sprechen wollte, musste sie sechsundfünfzig Steinstufen hinauf und an die Tür hämmern, bis er aufwachte und sich von dem Feldbett in seinem Arbeitszimmer erhob, auf dem er unter einem Stapel Klausuren schlief. Sie schrieb meinem Vater in Israel fast jeden Tag auf teurem französischem Briefpapier, und als das alle war, nahm sie aus einem Notizbuch gerissenes Millimeterpapier. In einem dieser Briefe (die ich in einer alten Cadbury-Dose versteckt unter dem Sofa in ihrem Arbeitszimmer fand) schrieb sie: Das Buch, das du mir geschenkt hast, liegt auf meinem Tisch, und ich lerne es jeden Tag etwas besser lesen. Lesen lernen musste sie es, weil es auf Spanisch geschrieben war. Sie sah im Spiegel zu, wie ihr Körper wieder blass wurde. In der zweiten Semesterwoche kaufte sie sich ein gebrauchtes Fahrrad, mit dem sie herumfuhr und Zettel anpinnte, auf denen stand: SUCHE HEBRÄISCHLEHRER, weil Sprachen ihr leicht fielen und sie meinen Vater verstehen wollte. Einige bewarben sich, aber nur einer kniff nicht, als meine Mutter erklärte, sie könne nichts bezahlen, ein pickliger Junge namens Nehemia, aus Haifa stammend, im ersten Studienjahr wie sie und genauso niedergeschlagen. Er fand – so stand es jedenfalls in einem Brief an meinen Vater –, die Gesellschaft eines Mädchens sei Grund genug, sich für nichts als ein bezahltes Bier zweimal die Woche im King’s Arms zu treffen. Meine Mutter lernte auch Spanisch nach einem Buch, das Selbst Spanisch lernen hieß. Sie verbrachte viel Zeit in der Bodleian Library, las Hunderte von Büchern und schloss keine Freundschaften. Sie bestellte so viele Bücher, dass der Mann an der Ausleihe sich immer schon wegduckte, wenn er sie kommen sah. Am Ende des Jahres bestand sie ihre Prüfungen mit Eins, ging trotz der Einwände ihrer Eltern von der Universität ab und fuhr nach Tel Aviv, um dort mit meinem Vater zusammenzuleben.
9. ES FOLGTEN DIE GLÜCKLICHSTEN JAHRE IHRES LEBENS
Sie wohnten in einem sonnigen, mit Bougainvilleen bedeckten Haus in Ramat Gan. Mein Vater pflanzte im Garten einen Oliven- und einen Zitronenbaum und zog um jeden einen kleinen Graben, in dem sich Wasser sammeln konnte. Nachts hörten sie auf seinem Kurzwellenempfänger amerikanische Musik. Wenn die Fenster offen standen und der Wind aus der richtigen Richtung wehte, konnten sie das Meer riechen. Schließlich heirateten sie am Strand von Tel Aviv und machten ihre Hochzeitsreise nach Südamerika, wo sie zwei Monate verbrachten. Als sie zurückkamen, begann meine Mutter, Bücher ins Englische zu übersetzen – erst aus dem Spanischen, später auch aus dem Hebräischen. So vergingen fünf Jahre, dann bekam mein Vater ein Arbeitsangebot, das er nicht ausschlagen konnte, und ging zu einem amerikanischen Unternehmen in die Raumfahrtindustrie.
10. SIE ZOGEN NACH NEW YORK UND BEKAMEN MICH
Während meine Mutter mit mir schwanger war, las sie drei Millionen Bücher über die verschiedensten Themen. Sie mochte Amerika nicht, aber sie hasste es auch nicht. Zweieinhalb Jahre und acht Millionen Bücher später bekam sie Bird. Danach zogen wir nach Brooklyn.
11. ICH WAR SECHS, ALS BEI MEINEM VATER PANKREASKREBS DIAGNOSTIZIERT WURDE
Irgendwann in diesem Jahr fuhr ich mit meiner Mutter im Auto. Sie bat mich, ihr ihre Handtasche zu geben. «Ich habe sie nicht», sagte ich. «Vielleicht ist sie hinten», sagte sie. Aber hinten war sie auch nicht. Sie fuhr an den Rand und durchsuchte das Auto, aber die Handtasche war nirgends zu finden. Sie stützte den Kopf in die Hände und versuchte sich zu erinnern, wo sie ihre Tasche gelassen haben mochte. Ständig verlor sie Sachen. «Eines schönen Tages verliere ich noch den Kopf», sagte sie. Ich stellte mir vor, was passieren würde, wenn sie ihren Kopf verlor. Doch am Ende war es mein Vater, der alles verlor: Körpergewicht, die Haare, mehrere Organe.
12. ER KOCHTE, SANG UND LACHTE GERN, KONNTE MIT DEN HÄNDEN FEUER MACHEN, KAPUTTE SACHEN REPARIEREN UND ERKLÄREN, WIE MAN SACHEN IN DEN WELTRAUM SCHIESST, ABER IN NEUN MONATEN WAR ER TOT
13. MEIN VATER WAR KEIN BERÜHMTER RUSSISCHER SCHRIFTSTELLER
Zuerst beließ meine Mutter alles genau so, wie er es hinterlassen hatte. Misha Shklovsky zufolge hält man das in Russland mit den Häusern berühmter Schriftsteller so. Aber mein Vater war kein berühmter Schriftsteller. Er war nicht einmal Russe. Dann kam ich eines Tages aus der Schule, und jedes sichtbare Zeichen von ihm war verschwunden. In den Schränken keine Kleidungsstücke mehr von ihm, seine Schuhe nicht mehr an der Tür, und draußen auf der Straße, neben einem Haufen Mülltüten, stand sein alter Sessel. Ich ging nach oben in mein Schlafzimmer und behielt ihn durchs Fenster im Auge. Der Wind ließ Blätter über den Bürgersteig an ihm vorbeiwirbeln. Ein alter Mann kam des Wegs und setzte sich. Ich ging hinaus und fischte den Pullover meines Vaters aus der Mülltonne.
14. AM ENDE DER WELT
Als mein Vater gestorben war, schickte mir Onkel Julian, der Bruder meiner Mutter, der Kunsthistoriker ist und in London lebt, ein Schweizer Armeemesser, von dem er sagte, es habe Dad gehört. Es hatte drei verschiedene Klingen, einen Korkenzieher, eine kleine Schere, eine Pinzette und einen Zahnstocher. In dem Brief, den Onkel Julian mitschickte, schrieb er, Dad habe es ihm einmal geliehen, als er zum Zelten in die Pyrenäen fuhr, und seitdem habe er es ganz vergessen, bis jetzt, und er glaube, es freue mich vielleicht, wenn ich es hätte. Du musst vorsichtig sein, schrieb er, die Klingen sind scharf. Es soll einem helfen, in der Wildnis zu überleben. Ich kenne mich da nicht aus, weil Tante Frances und ich ins Hotel gegangen sind, nachdem uns gleich in der ersten Nacht der Regen erwischt und in eingeweichte Backpflaumen verwandelt hat. Dein Dad war ein viel gewiefterer Naturmensch als ich. Einmal, im Negev, sah ich ihn mit einem Trichter und einer Plane Wasser sammeln. Er wusste auch die Namen aller Pflanzen und ob sie essbar waren. Ich weiß, es ist kein rechter Trost, aber wenn du nach London kommst, werde ich dir die Namen aller Lokale in Nordwest-London sagen, wo es Currys gibt und ob sie essbar sind. Liebe Grüße, Onkel Julian. PS: Erzähl deiner Mutter nicht, was ich dir da schicke, wahrscheinlich wäre sie mir böse und würde sagen, du seist zu jung. Ich untersuchte die verschiedenen Gerätschaften, indem ich jede einzeln mit dem Daumennagel herauspulte und die Klingen am Finger prüfte.
Ich beschloss, dass ich in der Wildnis zu überleben lernen wollte, wie mein Vater. Es würde gut sein, das zu können, falls Mom etwas zustieße und Bird und ich uns allein durchschlagen müssten. Ich erzählte ihr nichts von dem Messer, weil Onkel Julian gemeint hatte, es solle ein Geheimnis bleiben, und überhaupt, warum sollte meine Mutter mich allein im Wald kampieren lassen, wo sie mich doch kaum den halben Block hinuntergehen ließ?
15. WENN ICH SPIELEN GING, WOLLTE MEINE MUTTER IMMER GENAU WISSEN, WO ICH WAR
Sobald ich nach Hause kam, rief sie mich in ihr Schlafzimmer und herzte und küsste mich. Sie strich mir übers Haar und sagte: «Ich habe dich so lieb», und wenn ich niesen musste, sagte sie: «Gesundheit, du weißt doch, wie sehr ich dich liebe, nicht wahr?», und wenn ich aufstand, weil ich ein Taschentuch brauchte, sagte sie: «Lass nur, ich hole dir schon eins, ich habe dich so lieb», und wenn ich einen Stift für meine Hausaufgaben suchte, sagte sie: «Nimm meinen, für dich tue ich alles», und wenn es mich am Bein juckte, sagte sie: «Ist das die Stelle, komm, lass dich drücken», und wenn ich sagte, ich ginge nach oben in mein Zimmer, rief sie mir hinterher: «Was kann ich für dich tun, ich habe dich so lieb», und immer wollte ich sagen, sagte aber nie: Hab mich weniger lieb.
16. ALLES WIRD AUF NEUEN GRUND GESTELLT
Eines Tages stand meine Mutter aus dem Bett auf, in dem sie fast ein Jahr gelegen hatte. Es schien, als sei es das erste Mal, dass wir sie nicht durch all die rund um ihr Bett versammelten Wassergläser sahen, die Bird in seiner Langeweile manchmal mit einem nassen Finger, den er über die Ränder kreisen ließ, zum Singen zu bringen versuchte. Sie machte Makkaroni mit Käse, eine der wenigen Sachen, die sie kochen kann. Wir behaupteten, es sei das Beste, was wir je gegessen hätten. Eines Nachmittags nahm sie mich beiseite. «Von jetzt an», sagte sie, «werde ich dich wie eine Erwachsene behandeln.» Ich bin erst acht, wollte ich sagen, sagte es aber nicht. Sie fing wieder an zu arbeiten. In einem mit roten Blumen bedruckten Kimono wanderte sie durchs Haus, und wohin sie auch ging, zog sie eine Spur zerknüllter Seiten nach sich. Bevor Dad starb, hatte sie Ordnung gehalten. Aber jetzt brauchte man, wenn man sie finden wollte, nur den Seiten mit durchgestrichenen Wörtern zu folgen, und am Ende der Spur war sie dann und schaute aus dem Fenster oder in ein Glas Wasser, als sei ein Fisch darin, den nur sie sehen konnte.
17. KAROTTEN
Von meinem Taschengeld kaufte ich mir ein Buch mit dem Titel Essbare Pflanzen und Blüten in Nordamerika. Ich erfuhr, dass Eicheln ihren bitteren Geschmack verlieren, wenn man sie in Wasser kocht, dass Wildrosen essbar sind und dass man alles meiden soll, was nach Mandeln riecht, ein dreiblättriges Wachstumsmuster oder milchigen Saft hat. Ich versuchte, im Prospect Park so viele Pflanzen wie nur möglich zu bestimmen. Weil ich wusste, es würde lange dauern, bis ich in der Lage war, jede Pflanze zu erkennen, und weil immer die Möglichkeit bestand, dass ich irgendwo anders als in Nordamerika würde überleben müssen, prägte ich mir auch den universellen Essbarkeitstest ein. Ihn zu kennen ist eine gute Sache, weil manche giftigen Pflanzen, etwa der Schierling, ähnlich aussehen können wie andere, die essbar sind, etwa wilde Karotten oder Pastinaken. Für den Test darf man erst acht Stunden lang nichts essen. Dann zerlegt man die Pflanze in ihre Bestandteile – Wurzel, Blatt, Stiel, Knospe und Blüte – und testet von jedem ein bisschen auf der Innenseite des Handgelenks. Wenn nichts passiert, drückt man es drei Minuten von innen an die Lippe, und wenn dann nichts passiert, legt man es fünfzehn Minuten auf die Zunge. Wenn immer noch nichts passiert, darf man es kauen, ohne zu schlucken, und behält es fünfzehn Minuten im Mund, und wenn dann nichts passiert, schluckt man es hinunter und wartet acht Stunden ab, und wenn dann nichts passiert, isst man ein Viertel von dem, was in eine Tasse passt, und wenn dann nichts passiert, ist es essbar.
Ich bewahrte Essbare Pflanzen und Blüten in Nordamerika unter meinem Bett in einem Rucksack auf, der auch das Schweizer Armeemesser meines Vaters, eine Taschenlampe, eine Plastikplane, einen Kompass, eine Schachtel Granola-Riegel, zwei Tüten Erdnuss-M&Ms, drei Büchsen Thunfisch, einen Dosenöffner, Heftpflaster, ein Erste-Hilfe-Set gegen Schlangenbisse, Unterwäsche zum Wechseln und einen U-Bahn-Plan von New York City enthielt. Eigentlich hätte ein Stück Feuerstein hineingehört, aber als ich im Eisenwarenladen eins kaufen wollte, haben sie mir keins verkauft, entweder weil ich zu jung war oder weil sie mich für eine Pyromanin hielten. Im Notfall geht das Funkenschlagen auch mit einem Jagdmesser und einem Stück Jaspis, Achat oder Jade, aber ich wusste nicht, wo ich Jaspis, Achat oder Jade herbekommen sollte. Zum Ersatz nahm ich ein paar Streichhölzer aus dem2nd Street Café und tat sie in ein Täschchen mit Reißverschluss, zum Schutz gegen den Regen.
Zu Chanukka wünschte ich mir einen Schlafsack. Der, den meine Mutter mir besorgte, war aus Flanell, mit rosa Herzen drauf, und hätte mich bei Minustemperaturen ungefähr fünf Sekunden lang am Leben erhalten, ehe ich den Kältetod gestorben wäre. Ich fragte sie, ob wir ihn zurückbringen und gegen einen schweren Daunenschlafsack tauschen könnten. «Was denkst du, wo du damit schlafen willst, am nördlichen Polarkreis?», fragte sie. Ich dachte: Dort oder vielleicht in den peruanischen Anden, wo Dad mal gezeltet hat. Um das Thema zu wechseln, erzählte ich ihr von Schierling, wilden Karotten und Pastinaken, aber das war offenbar keine gute Idee, denn ihre Augen wurden feucht, und als ich sie fragte, was los sei, sagte sie, nichts, sie habe nur an die Karotten denken müssen, die Dad in Ramat Gan immer im Garten zog. Ich hätte sie gern gefragt, was er sonst noch gezogen habe außer dem Olivenbaum, dem Zitronenbaum und den Karotten, wollte sie aber nicht noch trauriger machen.
Ich legte mir ein Notizbuch an: Wie man in der Wildnis überlebt.
18. MEINE MUTTER LIESS IHRE LIEBE ZU MEINEM VATER NIE STERBEN
Sie erhielt sie so lebendig wie im Sommer ihrer ersten Begegnung. Dafür hat sie das Leben eingestellt. Manchmal ernährt sie sich tagelang von Wasser und Luft. Dafür, dass sie die einzige bekannte komplexe Lebensform dieser Art ist, müsste eine Spezies nach ihr benannt werden. Onkel Julian hat mir einmal von dem Bildhauer und Maler Alberto Giacometti erzählt, der gesagt habe, manchmal müsse man, nur um einen Kopf zu malen, die ganze Gestalt aufgeben. Für ein Blatt Laub müsse man die ganze Landschaft opfern. Zuerst möge das nach Selbstbeschränkung aussehen, aber nach einer Weile werde einem bewusst, dass ein bestimmtes Gefühl in Bezug auf das Universum leichter festzuhalten sei, wenn man nur einen Quadratzentimeter nehme, anstatt den ganzen Himmel erfassen zu wollen.
Meine Mutter wählte weder das Blatt noch den Kopf. Sie hatte meinen Vater auserwählt, und für ein bestimmtes Gefühl opferte sie die ganze Welt.
19. DIE WAND AUS WÖRTERBÜCHERN ZWISCHEN MEINER MUTTER UND DER WELT WIRD JEDES JAHR HÖHER
Manchmal lösen sich Seiten aus den Wörterbüchern und sammeln sich zu ihren Füßen, Schallwort, Schalm, Schalmei, schalmen, Schalobst, Schalom, Schalotte, schalt, wie die Blütenblätter einer riesengroßen Blume. Als ich klein war, glaubte ich, die Seiten auf dem Boden seien Wörter, die sie nie mehr benutzen könnte, und ich versuchte, sie dort wieder einzukleben, wo sie hingehörten, vor lauter Angst, sie würde eines Tages verstummen.
20. MEINE MUTTER IST NUR ZWEIMAL MIT MÄNNERN AUSGEGANGEN, SEIT MEIN VATER STARB
Das erste Mal vor fünf Jahren, als ich zehn war, mit einem dicken englischen Lektor aus einem Verlag, für den sie übersetzt. Am linken kleinen Finger trug er einen Ring mit einem Familienwappen, vielleicht sein eigenes, vielleicht auch nicht. Immer wenn er von sich selber sprach, wedelte er mit dieser Hand. Bei einer Unterhaltung war herausgekommen, dass meine Mutter und er, Lyle, zur gleichen Zeit in Oxford gewesen waren. Unter dem Eindruck dieser Fügung hatte er sie eingeladen auszugehen. Viele Männer haben meine Mutter eingeladen, aber sie sagte immer nein. Aus irgendeinem Grund willigte sie diesmal ein. Am Samstagabend erschien sie mit hochgestecktem Haar im Wohnzimmer, sie trug das rote Tuch, das mein Vater ihr in Peru gekauft hatte. «Wie sehe ich aus?» Sie sah blendend aus, aber irgendwie schien es nicht fair, das Tuch zu tragen. Es blieb keine Zeit, etwas zu sagen, weil Lyle genau in dem Moment schnaufend vor der Tür stand. Er machte es sich auf dem Sofa bequem. Ich fragte ihn, ob er etwas vom Überleben in der Wildnis verstehe, und er sagte: «Absolut.» Ich fragte, ob er wisse, was der Unterschied zwischen Schierling und wilden Karotten sei, worauf er mir einen detaillierten Bericht der finalen Momente einer Oxford-Regatta lieferte, bei der sein Boot in den letzten drei Sekunden davongezogen war und gewonnen hatte. «Heiliger Bimbam», sagte ich in einem Ton, der als sarkastisch zu verstehen war. Lyle wusste auch mit liebevollen Erinnerungen ans Stechkahnfahren auf dem Cherwell zu dienen. Meine Mutter sagte, da müsse sie passen, weil sie nie auf dem Cherwell Stechkahn gefahren sei. Ich dachte: Tja, das wundert mich nicht.
Nachdem die beiden gegangen waren, blieb ich auf und sah mir eine Fernsehsendung über Albatrosse in der Antarktis an: Sie kommen Jahre aus, ohne den Boden zu berühren, schlafen hoch oben im Himmel, trinken Meerwasser, weinen das Salz heraus und kehren Jahr für Jahr zurück, um mit demselben Partner Junge aufzuziehen. Ich muss eingeschlafen sein, denn als ich den Schlüssel meiner Mutter im Schloss hörte, war es fast ein Uhr früh. Ein paar Locken hingen ihr lose am Hals, und ihre Wimperntusche war verschmiert, aber als ich fragte, wie es gewesen sei, sagte sie, sie kenne Orang-Utans, mit denen sie sich angeregter unterhalten könne.
Ungefähr ein Jahr später brach Bird sich das Handgelenk beim Versuch, vom Balkon unseres Nachbarn abzuheben, und der hagere Doktor mit dem krummen Rücken, der ihn in der Notaufnahme behandelte, bat meine Mutter um ein Date. Vielleicht, weil er Bird zum Lächeln brachte, obwohl seine Hand schrecklich schief vom Gelenk abstand, sagte meine Mutter zum zweiten Mal ja, seit mein Vater gestorben war. Der Doktor hieß Henry Lavender, was ich viel versprechend fand (Alma Lavender!). Als es an der Tür klingelte, flitzte Bird, splitternackt bis auf den Gips, die Treppe hinunter, legte «That’s Amore» auf und flitzte wieder nach oben. Meine Mutter, ohne ihr rotes Tuch, schoss hinterher und riss den Tonarm hoch. Die Platte jaulte auf. Doch sie drehte sich geräuschlos auf dem Plattenteller, als Henry Lavender hereinkam, ein Gläschen kühlen Weißwein akzeptierte und uns von seiner Muschelsammlung mit den vielen Erinnerungsstücken erzählte, nach denen er bei seinen Reisen auf die Philippinen selbst getaucht hatte. Ich stellte mir unsere gemeinsame Zukunft vor, wie er uns zu Tauchexpeditionen mitnahm und wir vier uns unter Wasser durch unsere Masken anlächelten. Am nächsten Morgen fragte ich meine Mutter, wie es gewesen sei. Sie sagte, er sei wirklich ein sehr netter Mann. Ich sah darin ein gutes Zeichen, aber als Henry Lavender nachmittags anrief, war meine Mutter im Supermarkt und rief ihn nicht zurück. Zwei Tage später unternahm er einen neuen Versuch. Diesmal ging meine Mutter gerade im Park spazieren. Ich sagte: «Du wirst ihn nicht zurückrufen, stimmt’s?», und sie sagte: «Nein.» Als Henry Lavender zum dritten Mal anrief, war sie in ein Buch mit Erzählungen vertieft, wobei sie wiederholt ausrief, dem Autor sollte postum der Nobelpreis verliehen werden. Meine Mutter verteilt ständig postume Nobelpreise. Ich schlüpfte mit dem Hörer in die Küche. «Dr. Lavender?», sagte ich. Dann erklärte ich ihm, ich sei überzeugt davon, dass meine Mutter ihn wirklich möge, und ein normaler Mensch würde sicher glücklich sein, mit ihm zu reden und sogar wieder einmal mit ihm auszugehen, aber ich würde meine Mutter schon seit elfeinhalb Jahren kennen, und sie habe noch nie etwas Normales getan.
21. ICH GLAUBTE, SIE HABE EINFACH NOCH NICHT DEN RICHTIGEN GETROFFEN
Dass sie den ganzen Tag im Schlafanzug zu Hause saß und Bücher von zumeist toten Leuten übersetzte, schien die Sache auch nicht unbedingt voranzubringen. Manchmal blieb sie stundenlang in einem Satz stecken und lief herum wie ein Hund mit einem Knochen, bis sie plötzlich schrie: «ICH HAB IHN», und an ihren Schreibtisch eilte, um dort ein Loch zu buddeln und ihn zu vergraben. Ich beschloss, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Eines Tages kam ein Veterinär namens Dr. Tucci in meine Klasse, um für den sechsten Jahrgang einen Vortrag zu halten. Er hatte eine schöne Stimme und einen grünen Papagei namens Gordo, der ihm auf der Schulter hockte und verdrossen aus dem Fenster starrte. Er hatte auch einen Leguan, zwei Frettchen, eine Dosenschildkröte, Baumfrösche, eine Ente mit gebrochenem Flügel und eine Boa constrictor namens Mahatma, die sich kürzlich gehäutet hatte. Im Garten hinter seinem Haus hielt er zwei Lamas. Nach der Stunde, während alle anderen mit Mahatma zugange waren, fragte ich, ob er verheiratet sei, und als er mit verdutzter Miene nein sagte, bat ich um seine Visitenkarte. Darauf war ein Bild von einem Affen, und einige Kids verloren das Interesse an der Schlange und wollten auch Visitenkarten haben.
Am Abend fand ich einen attraktiven Schnappschuss von meiner Mutter im Speedo-Schwimmanzug als Beilage zu einer getippten Liste ihrer besten Eigenschaften, die Dr. Frank Tucci geschickt bekommen sollte. Die Liste enthielt: HOHER IQ, LESERATTE, ATTRAKTIV (SIEHE FOTO), WITZIG. Bird las sie durch und schlug nach einigem Grübeln vor, ich solle EIGENBRÖTLERISCH hinzufügen, ein Wort, das ich ihm beigebracht hatte, und dann noch STUR. Als ich sagte, ich glaubte nicht, dass dies ihre besten oder auch nur gute Eigenschaften seien, meinte Bird, wenn sie auf der Liste wären, könnte es scheinen, als seien es gute, und wenn Dr. Tucci sie dann treffen wolle, würde es ihn nicht stören. Das schien damals ein gutes Argument, also fügte ich EIGENBRÖTLERISCH und STUR hinzu. Dann schickte ich die Liste ab.
Eine Woche verging, und er rief nicht an. Noch einmal drei Tage, und ich fragte mich, ob ich EIGENBRÖTLERISCH und STUR vielleicht doch nicht hätte hinschreiben sollen.
Am nächsten Tag klingelte das Telefon, und ich hörte meine Mutter sagen: «Frank wer?» Es folgte ein langes Schweigen. «Wie bitte?» Wieder Schweigen. Dann begann sie hysterisch zu lachen. Sie legte den Hörer auf und kam in mein Zimmer. «Was war denn das?», fragte ich in aller Unschuld. «Was soll was gewesen sein?», fragte sie noch unschuldiger. «Wer da eben angerufen hat», sagte ich. «Ach das», sagte sie. «Ich hoffe, du hast nichts dagegen, ich habe ein Doppel arrangiert, ich und der Schlangenbeschwörer und du und Herman Cooper.»
Herman Cooper war ein Albtraum aus der Achten, der bei uns um die Ecke wohnte, jedem Pimmel hinterherrief und über die dicken Eier unseres Nachbarhundes johlte.
«Eher lecke ich den Bordstein ab», sagte ich.
22. IN DIESEM JAHR TRUG ICH DEN PULLOVER MEINES VATERS ZWEIUNDVIERZIG TAGE LANG AM STÜCK
Am zwölften Tag ging ich auf dem Schulflur an Sharon Newman und ihren Freundinnen vorbei. «WAS HAT SIE NUR MIT DIESEM EKLIGEN PULLOVER?», sagte sie. Geh Schierling fressen, dachte ich und beschloss, Dads Pullover den Rest meines Lebens zu tragen. Ich schaffte es fast bis zum Ende des Schuljahres. Er war aus Alpakawolle, und Mitte Mai wurde er unerträglich. Meine Mutter glaubte, es sei verspätete Trauer. Aber ich hatte nicht vor, irgendwelche Rekorde aufzustellen. Ich mochte nur, wie er sich anfühlte.
23. MEINE MUTTER HAT EIN FOTO MEINES VATERS AN DER WAND NEBEN IHREM SCHREIBTISCH AUFGEHÄNGT
Ein- oder zweimal ging ich an ihrer Tür vorbei und hörte sie laut mit ihm sprechen. Mag sein, dass sie sich einsam fühlt, obwohl wir um sie sind, aber manchmal bekomme ich Bauchweh, wenn ich daran denke, was aus meiner Mutter werden soll, wenn ich größer bin und fortgehe, um den Rest meines Lebens zu beginnen. Andere Male stelle ich mir vor, ich würde es überhaupt nie fertig bringen fortzugehen.
24. ALLE FREUNDE, DIE ICH JEMALS HATTE, SIND VERSCHWUNDEN
An meinem vierzehnten Geburtstag weckte Bird mich auf, indem er auf mein Bett sprang und «For She’s a Jolly Good Fellow» sang. Er schenkte mir einen geschmolzenen Hershey’s-Schokoriegel und eine rote Wollmütze, die er aus dem Fundbüro mitgebracht hatte. Ich zupfte ein lockiges blondes Haar ab und trug sie den Rest des Tages. Meine Mutter schenkte mir einen Anorak, getestet von Tenzing Norgay – dem Sherpa, der zusammen mit Edmund Hillary den Mount Everest bestiegen hat –, und eine alte lederne Pilotenkappe von der Art, wie mein Held Antoine de Saint-Exupéry sie zu tragen pflegte. Als ich sechs war, hatte mir mein Vater Der Kleine Prinz vorgelesen und von Saint-Ex erzählt, was für ein großer Pilot er gewesen sei und dass er sein Leben aufs Spiel gesetzt habe, um der Post den Weg an entlegene Orte zu erschließen. Am Ende wurde er von einem deutschen Jäger abgeschossen und ging mit seinem Flugzeug für alle Ewigkeit im Mittelmeer verloren.
Außer der Jacke und der Pilotenkappe schenkte meine Mutter mir noch ein Buch von jemandem namens Daniel Eldridge, der, wie sie meinte, einen Nobelpreis verdient hätte, wenn es einen für Paläontologen gäbe. «Ist er tot?», fragte ich. «Warum fragst du?» – «Nur so», sagte ich. Bird fragte, was ein Paläontologe sei, und Mom sagte, wenn er einen vollständigen, illustrierten Führer durch das Metropolitan Museum of Art nähme, ihn in hundert Schnipsel risse, sie von den Stufen des Museums aus in den Wind streute und ein paar Wochen vergehen ließe, dann zurückkäme und die Fifth Avenue und den Central Park nach jedem Schnipsel, der überdauert hätte, absuchte und sich schließlich die Arbeit machte, aus diesen Schnipseln die Geschichte der Malerei inklusive Schulen, Stilrichtungen, Genres und Namen der Maler zu rekonstruieren, dann wäre das wie Paläontologe sein. Mit dem einzigen Unterschied, dass Paläontologen Fossilien untersuchten, um den Ursprung und die Entwicklungsgeschichte des Lebens zu begreifen. Jede Vierzehnjährige sollte etwas darüber wissen, wo sie herkommt, sagte meine Mutter. Es reiche nicht, durch die Gegend zu spazieren, ohne die leiseste Ahnung, wie alles begonnen habe. Dann sagte sie sehr schnell, als wäre es nicht das Wichtigste von allem, das Buch habe Dad gehört. Bird lief hin und berührte den Umschlag.
Es hieß Das Leben, wie wir es nicht kennen. Auf der Rückseite war eine Abbildung von Eldridge. Er hatte dunkle Augen mit dichten Wimpern und einen Bart, und er hielt das Fossil eines gruselig aussehenden Fisches hoch. Darunter stand, er sei Professor an der Columbia. Am selben Abend fing ich an zu lesen. Ich dachte, Dad hätte vielleicht ein paar Bemerkungen an den Rand geschrieben. Hatte er aber nicht. Das einzige Zeichen von ihm war sein Name auf dem Deckblatt. Das Buch handelte davon, wie Eldridge und ein paar andere Wissenschaftler sich in einem Unterseeboot auf den Meeresgrund herabgelassen und an den Grenzen tektonischer Platten Hydrothermalquellen entdeckt hatten, die mineralreiche, bis 330 Grad heiße Gase ausstießen. Bis dahin hatten die Wissenschaftler geglaubt, der Tiefseeboden sei eine Ödnis, wo es kaum oder gar kein Leben gebe. Aber was Eldridge und seine Kollegen in den Scheinwerfern ihres Unterseeboots sahen, waren Hunderte von Organismen, die nie zuvor ein menschliches Auge erblickt hatte – ein ganzes Ökosystem, das sie als sehr, sehr alt erkannten. Sie nannten es die dunkle Biosphäre. Es gab jede Menge Hydrothermalquellen da unten, und schon bald fanden sie heraus, dass auf dem Gestein rund um die Quellen Mikroorganismen bei Temperaturen lebten, die Blei zum Schmelzen bringen konnten. Als sie einige davon an die Oberfläche brachten, rochen sie nach faulen Eiern. Es wurde klar, dass sich diese fremden Organismen von dem Schwefelwasserstoff, den die Quellen freisetzen, ernähren und auf die gleiche Weise Schwefel ausatmen wie Pflanzen an Land den Sauerstoff. Eldridges Buch zufolge hatten sie nichts Geringeres entdeckt als ein Fenster zu den chemischen Pfaden, die vor Milliarden von Jahren zu den Anfängen der Evolution führten.
Die Idee der Evolution ist so wunderbar und traurig. Seit dem ersten Leben auf Erden gab es eine unerhörte Zahl, zwischen fünf und fünfzig Milliarden Arten, von denen nur fünf bis fünfzig Millionen heute noch am Leben sind. Neunundneunzig Prozent aller Arten, die je auf Erden gelebt haben, sind somit ausgestorben.
25. MEIN BRUDER, DER MESSIAS
An jenem Abend, während ich las, kam Bird in mein Zimmer und kletterte zu mir ins Bett. Er war klein für seine elfeinhalb Jahre. Er drückte seine kalten Füßchen an mein Bein. «Erzähl mir was über Dad», flüsterte er. «Du hast vergessen, dir die Fußnägel zu schneiden», sagte ich. Er grub mir die Ballen in die Wade. «Bitte?», bettelte er. Ich überlegte, und weil mir nichts einfiel, was ich ihm nicht schon hundertmal erzählt hatte, dachte ich mir etwas aus. «Er kletterte gern», sagte ich. «Er war ein guter Kletterer. Einmal erklomm er eine Felswand, die war, na, an die sechzig Meter hoch. Irgendwo im Negev, glaube ich.» Bird atmete seinen heißen Atem auf meinen Hals. «Masada?», fragte er. «Kann sein», sagte ich. «Er mochte es einfach. Es war ein Hobby», sagte ich. «Tanzte er gern?», fragte Bird. Ich hatte keine Ahnung, ob er gern getanzt hatte, aber ich sagte: «Und wie. Er konnte sogar Tango. Den hat er in Buenos Aires gelernt. Er und Mom tanzten die ganze Zeit. Er rückte den Kaffeetisch an die Wand, und dann ging es durch den ganzen Raum. Er hob sie, schwang sie und sang ihr ins Ohr.» – «War ich da dabei?» – «Klar warst du dabei», sagte ich. «Er warf dich in die Luft und fing dich wieder auf.» – «Wie wollte er wissen, dass er mich nicht fallen lassen würde?» – «Er wusste es einfach.» – «Wie nannte er mich?» – «Ganz verschieden. Kumpel, kleiner Mann, Kasper.» Ich sprach aus, was mir eben in den Sinn kam. Bird schien unbeeindruckt. «Judas Makkabäus», sagte ich. «Einfach Makkabi. Mac.» – «Wie nannte er mich meistens?» – «Ich nehme an, Emanuel.» Ich tat so, als dächte ich nach. «Nein, warte. Manny. Meistens nannte er dich Manny.» – «Manny», sagte Bird zur Probe. Er kuschelte sich dichter an mich. «Ich möchte dir ein Geheimnis erzählen», flüsterte er. «Weil du Geburtstag hast.» – «Was?» – «Erst musst du versprechen, dass du mir glaubst.» – «In Ordnung.» – «Sag: Ich verspreche es.» – «Ich verspreche es.» Er holte tief Atem. «Ich glaube, ich könnte vielleicht ein lamed wownik sein.» – «Ein was?» – «Einer von den lamed wowniks», flüsterte er. «Den sechsunddreißig Gerechten.» – «Was für Gerechte?» – «Die, von denen die Existenz der Welt abhängt.» – «Ach die. Sei nicht …» – «Du hast es versprochen», sagte Bird. Ich sagte nichts. «Es gibt immer sechsunddreißig zu einer Zeit», flüsterte er. «Niemand weiß, wer sie sind. Nur ihre Gebete erreichen Gottes Ohr. Sagt Mr. Goldstein.» – «Und du glaubst, du könntest einer von ihnen sein», sagte ich. «Was sagt Mr. Goldstein sonst noch?» – «Er sagt, wenn der Messias kommt, wird er ein lamed wownik sein. In jeder Generation gibt es einen Menschen, der die Fähigkeit besitzt, der Messias zu sein. Vielleicht schafft er es, vielleicht nicht. Vielleicht ist die Welt bereit für ihn, vielleicht nicht. Das ist alles.» Ich lag im Dunkeln und überlegte, was zu sagen nun angebracht wäre. Ich bekam Bauchweh.
26. DIE SITUATION WURDE LANGSAM KRITISCH
Am nächsten Samstag steckte ich Das Leben, wie wir es nicht kennen in meinen Rucksack und nahm die U-Bahn zur Columbia-Universität. Ich lief eine Dreiviertelstunde auf dem Campus herum, bis ich Eldridges Büro im Gebäude für Geowissenschaften fand. Als ich ankam, sagte der Fast Food futternde Sekretär, Dr. Eldridge sei nicht da. Ich sagte, ich würde warten, und er sagte, ich solle vielleicht besser ein andermal kommen, Dr. Eldridge sei mindestens noch für ein paar Stunden weg. Ich sagte, das mache mir nichts. Er widmete sich wieder seinem Essen. Während ich wartete, las ich eine ganze Nummer der Zeitschrift Fossil. Dann fragte ich den Sekretär, der laut über etwas auf seinem Computer lachte, ob er glaube, dass Dr. Eldridge nun bald zurück sei. Er hörte auf zu lachen und sah mich an, als hätte ich ihm gerade den wichtigsten Moment seines Lebens verpatzt. Ich setzte mich wieder hin und las eine ganze Nummer von Paleontologist Today.
Ich wurde hungrig, also ging ich den Flur hinunter und holte mir ein Päckchen Devil Dogs aus einem Automaten. Dann schlief ich ein. Als ich aufwachte, war der Sekretär gegangen. Die Tür zu Dr. Eldriges Büro stand offen, das Licht brannte. Drinnen stand ein sehr alter, weißhaariger Mann neben einem Aktenschrank unter einem Poster mit den Worten: DARUM OHNE ELTERN, DURCH SPONTANE GEBURT, ENTSPRINGEN DIE ERSTEN PARTIKEL BELEBTER ERDE – ERASMUS DARWIN.
«Nun, um ehrlich zu sein, an diese Möglichkeit hatte ich gar nicht gedacht», sagte der alte Mann ins Telefon. «Ich zweifle, ob er sich überhaupt bewerben will. Jedenfalls glaube ich, wir haben unseren Mann schon. Ich muss mit dem Fachbereich reden, aber sagen wir, die Sache sieht gut aus.» Er sah mich an der Tür stehen und deutete mit einer Geste an, er sei gleich fertig. Ich wollte sagen: Schon gut, ich warte auf Dr. Eldridge, aber er kehrte mir den Rücken zu und starrte aus dem Fenster. «Gut, schön zu hören. Ich muss mich beeilen. In Ordnung. Alles Gute. Bis dann.» Er wandte sich mir zu. «Tut mir furchtbar leid», sagte er. «Womit kann ich helfen?» Ich kratzte mich am Arm und bemerkte den Schmutz unter meinen Fingernägeln. «Sie sind nicht Dr. Eldridge, oder?», fragte ich. «Doch, der bin ich», sagte er. Mir wurde ganz blümerant. Seit der Entstehung des Fotos auf dem Buch mussten dreißig Jahre vergangen sein. Ich brauchte nicht lange nachzudenken, um zu wissen, dass er mir in der Sache, um derentwillen ich gekommen war, nicht helfen konnte, denn selbst wenn er als der größte aller lebenden Paläontologen einen Nobelpreis verdient hätte, hätte er auch einen als der älteste verdient.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. «Ich habe Ihr Buch gelesen», brachte ich heraus, «und überlege mir, Paläontologin zu werden.» Er sagte: «Schön, und warum klingt das so enttäuscht?»
27. EINES WERDE ICH NIE TUN, WENN ICH GROSS BIN
Mich verlieben, das College abbrechen, lernen, von Wasser und Luft zu leben, eine Spezies nach mir benannt bekommen und mein Leben ruinieren. Als ich klein war, bekam meine Mutter oft dieses gewisse Etwas in die Augen und sagte: «Eines Tages wirst du dich verlieben.» Ich wollte sagen, sagte aber nie: Nicht in tausend Jahren.
Der einzige Junge, den ich je geküsst habe, ist Misha Shklovsky. Seine Cousine hatte es ihm in Russland gezeigt, wo er lebte, bevor er nach Brooklyn zog, und er zeigte es mir. «Nicht so viel Zunge», war alles, was er sagte.
28. HUNDERT DINGE KÖNNEN DEIN LEBEN VERÄNDERN, EINES IST EIN BRIEF
Fünf Monate vergingen, und ich hatte schon fast aufgegeben, jemanden zu finden, der meine Mutter glücklich machte. Dann geschah es: Mitte Februar letzten Jahres kam ein Brief, auf blaues Luftpostpapier getippt und in Venedig abgestempelt, durch den Verleger meiner Mutter weitergeleitet an sie. Bird sah ihn zuerst und brachte ihn Mom, um zu fragen, ob er die Marken haben könne. Wir waren alle in der Küche. Sie öffnete ihn und stand auf, während sie las. Dann las sie ihn ein zweites Mal, im Sitzen. «Das ist verblüffend», sagte sie. «Was?», fragte ich. «Jemand schreibt mir über Die Geschichte der Liebe. Das Buch, aus dem Dad und ich deinen Namen haben.» Sie las uns den Brief laut vor.
Liebe Ms. Singer,
soeben habe ich die Lektüre Ihrer Übersetzung der Gedichte von Nicanor Parra abgeschlossen, der, wie Sie schreiben, «am Revers einen kleinen russischen Astronauten trug und in der Tasche die Briefe einer Frau, die ihn wegen eines anderen verließ». Ihre Übersetzung liegt hier neben mir auf dem Tisch meines Zimmers in einer Pension mit Blick über den Canal Grande. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, außer dass sie mich so berührt hat, wie man jedes Mal berührt zu werden hofft, wenn man ein Buch anfängt. Will sagen, sie hat mich irgendwie verändert, in einer Weise, die ich nicht recht beschreiben kann. Aber genug. In Wahrheit schreibe ich Ihnen nicht, um mich zu bedanken, sondern möchte eine Bitte an Sie richten, die vielleicht ungewöhnlich scheinen mag. In Ihrer Einleitung erwähnen Sie einen kaum bekannten Schriftsteller, Zvi Litvinoff, der 1941 von Polen nach Chile geflohen ist und dessen einziges veröffentlichtes, auf Spanisch geschriebenes Werk Die Geschichte der Liebe heißt. Meine Frage ist: Könnten Sie sich vorstellen, es zu übersetzen? Es wäre nur für meinen persönlichen Gebrauch; ich habe keinerlei Absicht, es zu veröffentlichen, und falls Sie es selbst tun möchten, lägen die Rechte bei Ihnen. Ich wäre bereit, jeden Preis zu bezahlen, der Ihnen für Ihre Arbeit angemessen scheint. Mir sind solche Dinge immer peinlich. Könnten wir sagen, 100 000 Dollar? Also. Wenn Ihnen das zu wenig vorkommt, lassen Sie es mich bitte wissen.
Ich stelle mir Ihre Reaktion vor, wenn Sie diesen Brief lesen – der dann schon ein bis zwei Wochen hier gelegen und einen weiteren Monat das Chaos der italienischen Post überstanden haben wird, ehe er schließlich den Atlantik überquert hat, der Obhut des US Post Office anheim gegeben und in einen Sack verfrachtet wurde, damit der Briefträger ihn, durch Regen oder Schnee stapfend, zu Ihnen karren und in den Briefschlitz werfen konnte, wo er auf dem Boden liegen blieb, bis Sie ihn fanden. Nachdem ich mir das vorgestellt habe, bin ich auf das Schlimmste gefasst, und das wäre, Sie hielten mich für einen Irren. Aber vielleicht muss es nicht so kommen. Vielleicht verstehen Sie, wenn ich Ihnen sage, dass jemand mir vor langer Zeit beim Einschlafen ein paar Seiten aus einem Buch vorgelesen hat, das Die Geschichte der Liebe hieß, und dass ich diese Nacht und diese Seiten in all den Jahren nicht vergessen habe.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir Ihre Antwort hierher, an die obige Adresse, schicken könnten. Sollte ich bis dahin abgereist sein, wird der Portier mir die Post nachsenden.
In gespannter Erwartung,
Ihr Jacob Marcus
Heiliger Bimbam!, dachte ich. Ich konnte unser Glück kaum fassen und erwog, Jacob Marcus selbst zurückzuschreiben, unter dem Vorwand, ihm zu erklären, dass es Saint-Exupéry gewesen war, der 1929 den südlichsten Abschnitt des Postweges nach Südamerika eingerichtet hatte, bis an die Spitze des Kontinents. Jacob Marcus schien ein Interesse an Postdingen zu haben, und außerdem hatte meine Mutter einmal darauf hingewiesen, es sei größtenteils dem mutigen Saint-Ex zu danken, dass Zvi Litvinoff, der Autor der Geschichte der Liebe, später die letzten Briefe seiner Familie und Freunde aus Polen bekam. Am Ende des Briefes hätte ich etwas über meine Mutter, die allein stehende Frau, hinzugefügt. Aber ich ließ das Schreiben dann doch, denn wenn sie es irgendwie spitzgekriegt hätte, hätte es verdorben, was so gut und ohne jede Einmischung begonnen hatte. Hunderttausend Dollar waren eine Menge Geld. Aber ich wusste, selbst wenn Jacob Marcus ihr ein Almosen angeboten hätte, wäre meine Mutter bereit gewesen, es zu machen.
29. OFT LAS MEINE MUTTER MIR AUS DER GESCHICHTE DER LIEBE VOR
«Die erste Frau mag Eva gewesen sein, aber das erste Mädchen wird immer Alma heißen», sagte sie, das spanische Buch aufgeschlagen auf dem Schoß, während ich im Bett lag. Ich war damals vier oder fünf, bevor Dad krank und das Buch in ein Regal gesteckt wurde. «Als du sie das erste Mal gesehen hast, warst du vielleicht zehn. Sie stand in der Sonne und kratzte sich am Bein. Oder schrieb mit einem Stock Buchstaben in den Matsch. Jemand zog sie an den Haaren. Oder sie zog jemanden an den Haaren. Etwas in dir fühlte sich zu ihr hingezogen, und etwas in dir widerstand – wollte mit dem Fahrrad los, einen Stein herumkicken, unkompliziert bleiben. In ein und demselben Atemzug empfandest du Manneskraft und ein Selbstmitleid, das dich klein und verletzt erscheinen ließ. Etwas in dir dachte: Bitte sieh mich nicht an. Wenn du es nicht tust, kann ich mich noch abwenden. Und etwas in dir dachte: Sieh mich an.
Wenn du dich erinnerst, wie du Alma das erste Mal gesehen hat, erinnerst du dich auch an das letzte Mal. Sie schüttelte den Kopf. Oder verschwand über ein Feld. Oder durch dein Fenster. Komm zurück, Alma!, riefst du. Komm zurück!
Aber sie kam nicht zurück.
Und obwohl du damals schon erwachsen warst, fühltest du dich verloren wie ein Kind. Und trotz deines gebrochenen Stolzes fühltest du dich so unermesslich groß, wie deine Liebe zu ihr war. Sie war fort, und es blieb nur der leere Raum, um den herum du gewachsen warst, wie ein Baum, der um einen Zaun wächst.
Lange würde er leer bleiben. Jahre vielleicht. Und wenn er sich endlich wieder füllte, würdest du wissen, dass diese neue Liebe zu einer Frau ohne Alma unmöglich gewesen wäre. Ohne sie hätte es nie einen leeren Raum gegeben oder das Bedürfnis, ihn zu füllen.
Natürlich gibt es gewisse Situationen, in denen besagter Junge einfach nicht aufhört, aus Leibeskräften nach Alma zu schreien. In Hungerstreik tritt. Fleht. Ein Buch mit seiner Liebe füllt. Weitermacht, bis sie keine andere Wahl mehr hat, als zurückzukommen. Jedes Mal, wenn sie zu gehen versucht, im Wissen, dass es sein muss, hält der Junge sie auf, indem er bettelt wie verrückt. Und so kehrt sie immer zurück – egal, wie oft sie ihn verlässt oder wie weit sie fortgeht –, taucht lautlos hinter ihm auf, hält ihm mit den Händen die Augen zu und verdirbt ihn für alle, die je nach ihr kommen könnten.»
30. DIE ITALIENISCHE POST BRAUCHT EWIG; DINGE GEHEN VERLOREN, UND LEBEN WERDEN FÜR IMMER ZERSTÖRT
Es muss weitere Wochen gedauert haben, bis die Antwort meiner Mutter in Venedig ankam; da war Jacob Marcus offenbar schon abgereist und hatte Anweisungen zum Nachsenden seiner Post hinterlassen. Anfangs stellte ich ihn mir sehr groß und dünn vor, mit chronischem Husten und einem schrecklichen Akzent beim Aussprechen der wenigen Wörter, die er auf Italienisch sagen konnte, eine jener traurigen Gestalten, die nie irgendwo zu Hause sind. Bird malte ihn sich als John Travolta in einem Lamborghini mit einem Koffer voller Geldscheine aus. Sofern sich meine Mutter überhaupt ein Bild von ihm machte, sagte sie es nicht.
Aber sein zweiter Brief kam Ende März, sechs Wochen nach dem ersten, gestempelt in New York und per Hand auf die Rückseite einer alten Schwarzweißpostkarte mit einem Zeppelin darauf geschrieben. Meine Vorstellung von ihm entwickelte sich. Anstelle eines Hustens gab ich ihm einen Stock, an dem er ging, seit er mit Anfang zwanzig einen Autounfall gehabt hatte, und beschloss, seine Traurigkeit komme daher, dass seine Eltern ihn als Kind zu viel allein gelassen hätten, dann gestorben wären und ihm ihr ganzes Geld vermacht hätten. Auf der Rückseite der Postkarte stand:
Liebe Ms. Singer,
ich bin hocherfreut über Ihre Antwort und beglückt zu hören, dass Sie die Übersetzungsarbeit vornehmen werden. Bitte teilen Sie mir Ihre Bankverbindung mit, dann überweise ich unverzüglich die ersten 25 000 Dollar. Darf ich fragen, ob es möglich wäre, mir den Text im Zuge der Arbeit in Vierteln zu schicken? Bitte entschuldigen Sie meine Ungeduld, sie ist Zeichen meiner aufgeregten Vorfreude, endlich Litvinoffs Buch – und Ihres – zu lesen. Aber auch meiner Vorliebe, Post zu empfangen, und der Absicht, eine Erfahrung, von der ich annehme, dass sie mich tief bewegen wird, so lange wie möglich auszudehnen.
Mit freundlichem Gruß
J . M .
31. JEDER ISRAELIT HÄLT DIE EHRE SEINES GANZEN VOLKES IN DEN HÄNDEN
Eine Woche später war das Geld da. Zur Feier des Tages lud meine Mutter uns ins Kino ein, ein französischer Film mit Untertiteln über zwei von zu Hause weggelaufene Mädchen. Abgesehen von uns saßen nur drei andere im Saal. Einer davon war der Platzanweiser. Bird aß schon während des Vorspanns seine Milk Duds auf und raste im Zuckerrausch die Gänge rauf und runter, bis er in der ersten Reihe einschlief.
Nicht lange danach, in der ersten Aprilwoche, kletterte er aufs Dach der Hebräischen Schule, fiel herunter und verstauchte sich das Handgelenk. Zum Trost stellte er vor unserem Haus einen Spieltisch auf und malte ein Schild, auf dem stand FRISCHES LEMON-AID 50 CENT BITTE SELBST EINSCHENKEN (VERSTAUCHTES HANDGELENK). Ob Regen oder Sonnenschein, er war draußen mit seinem Krug voller Limonade und einem Schuhkarton zum Geldsammeln. Als er die Kundschaft in unserer Straße abgeschöpft hatte, zog er ein paar Blocks weiter und stellte sich vor einem verwilderten Grundstück auf. Er verbrachte mehr und mehr Zeit dort. In flauen Stunden überließ er den Spieltisch sich selbst und streifte umher, spielte auf dem Grundstück. Jedes Mal, wenn ich vorbeikam, hatte er etwas zu dessen Verschönerung getan: den verrosteten Zaun zur Seite gezerrt, Unkraut weggehackt, einen Müllsack mit Abfall gefüllt. Bei Einbruch der Dunkelheit kam er mit zerschürften Beinen und schiefer kippa auf dem Kopf nach Hause. «Was’n Dreck», sagte er. Aber als ich fragte, was er dort vorhabe, zuckte er nur die Achseln. «Ein Ort gehört jedem, der ihn nutzen kann», erklärte er. «Danke, Mr. Dalai Lamed Wownik. Hat Mr. Goldstein dir das gesagt?» – «Nein.» – «Und, wozu nutzt du ihn denn großartig?», rief ich ihm nach. Statt zu antworten, ging er zum Türrahmen, reckte sich, um etwas zu berühren, küsste seine Hand und lief die Treppe hinauf. Es war eine Plastikmesusa; er hatte welche an sämtliche Türrahmen im Haus geklebt. Sogar an der Badezimmertür war eine.
Am nächsten Tag fand ich den dritten Band von Wie man in der Wildnis überlebt in Birds Zimmer. Er hatte Gottes Namen mit wasserfestem Marker oben auf jede Seite gekritzelt. «WAS HAST DU MIT MEINEM NOTIZBUCH GEMACHT?», schrie ich. Er schwieg. «DU HAST ES RUINIERT.» – «Nein, hab ich nicht. Ich war ganz vorsichtig …» – «Vorsichtig? Vorsichtig? Wer hat dir erlaubt, es überhaupt anzufassen? Hast du noch nie das Wort PERSÖNLICH gehört? Wann hast du dich eigentlich das letzte Mal wie ein normaler Mensch benommen?» – «Was ist denn da unten los?», rief Mom vom obersten Treppenabsatz. «Nichts!», sagten wir gleichzeitig. Kurz darauf hörten wir sie in ihr Arbeitszimmer zurückgehen. Bird hielt sich den Arm vors Gesicht und bohrte in der Nase. «Verdammte Scheiße, Bird», flüsterte ich durch die Zähne. «Versuch doch wenigstens, normal zu sein. Du musst es wenigstens versuchen.»
32. ZWEI MONATE LANG GING MEINE MUTTER KAUM AUS DEM HAUS
Eines Nachmittags in der letzten Woche vor den Sommerferien kam ich von der Schule nach Hause und fand meine Mutter in der Küche, mit einem Päckchen in der Hand, das unter einer Adresse in Connecticut an Jacob Marcus gerichtet war. Sie hatte das erste Viertel der Geschichte der Liebe fertig übersetzt und wollte, dass ich es zur Post brachte. «Gern», sagte ich, indem ich es unter den Arm klemmte. Stattdessen ging ich in den Park und fummelte den Daumennagel unter die Lasche. Obenauf lag ein Brief, ein einziger Satz, geschrieben in der winzigen englischen Handschrift meiner Mutter:
Lieber Mr. Marcus,
ich hoffe, diese Kapitel enthalten alles, was Sie sich erhoffen; weniger wäre allein meine Schuld.
Ihre
Charlotte Singer
Mir wurde ganz blümerant. Fünfzehn langweilige Wörter ohne auch nur den leisesten Hinweis auf eine Romanze. Ich wusste, dass ich es abschicken sollte, dass es nicht meine Sache war, dass es nicht recht ist, sich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen. Aber es gibt eben vieles, das nicht recht ist.
33. DIE GESCHICHTE DER LIEBE, 10. KAPITEL
Während der Glaszeit glaubte jeder, irgendetwas an ihm oder ihr sei überaus zerbrechlich. Für manche war es die Hand, für andere der Oberschenkelknochen, wieder andere glaubten, ihre Nase sei aus Glas. Die Glaszeit folgte der Steinzeit als evolutionäres Korrektiv, denn sie vermittelte den menschlichen Beziehungen einen neuen Sinn für Zerbrechlichkeit, der das Mitgefühl förderte. In der Geschichte der Liebe dauerte diese Periode verhältnismäßig kurze Zeit – ein Jahrhundert ungefähr –, bis ein Arzt namens Ignacio da Silva darauf kam, die Menschen zur Behandlung auf eine Couch zu legen und ihnen einen anregenden Klaps auf den fraglichen Körperteil zu geben, wodurch sich die Wahrheit offenbarte. Die anatomische Illusion, die so real erschienen war, verschwand allmählich und wurde – wie so vieles, was wir nicht mehr brauchen, aber nicht aufgeben können – rudimentär. Doch ab und zu, aus manchmal unverständlichen Gründen, taucht sie wieder auf, was vermuten lässt, dass die Glaszeit, genau wie die Stummzeit, nie ganz zum Abschluss gekommen ist.
Nimm beispielsweise den Mann, der dort die Straße entlanggeht. Du würdest ihn nicht unbedingt bemerken, er gehört nicht zu der Sorte, die man bemerkt; alles an seiner Kleidung und Haltung schreit danach, in der Menge nicht aufzufallen. Gewöhnlich – das würde er dir selbst bestätigen – wird er übersehen. Er trägt nichts bei sich. Zumindest scheint er nichts bei sich zu tragen, keinen Schirm, obwohl es nach Regen aussieht, keine Aktentasche, obwohl Hauptverkehrszeit ist und die Leute um ihn her nach Hause streben, vornüber gegen den Wind gebeugt, ins warme Heim am Rand der Stadt, wo die Kinder am Küchentisch über ihren Hausaufgaben sitzen, wo duftend das Abendessen wartet und vermutlich ein Hund, weil in solchen Häusern immer ein Hund ist.
Eines Abends, als der Mann noch jung war, beschloss er, zu einem Fest zu gehen. Dort traf er ein Mädchen, mit dem er seit der Grundschule in eine Klasse ging, ein Mädchen, in das er immer ein bisschen verliebt gewesen war, obgleich er sicher annahm, dass sie von seiner Existenz nichts wusste. Sie hatte den schönsten Namen, den er je gehört hatte: Alma. Als sie ihn an der Tür stehen sah, strahlte sie und durchquerte den Raum, um mit ihm zu reden. Er konnte es nicht glauben.
Eine oder zwei Stunden vergingen. Es muss eine gute Unterhaltung gewesen sein, denn ehe er sich versah, sagte Alma, er solle die Augen schließen. Dann küsste sie ihn. Ihr Kuss war eine Frage, mit deren Beantwortung er sein ganzes Leben verbringen wollte. Er fühlte seinen Körper zittern. Er fürchtete, die Kontrolle über seine Muskeln zu verlieren. Für jeden anderen wäre das in Ordnung gewesen, aber für ihn stellte es sich als nicht so einfach dar, weil dieser Mann glaubte – und, solange er sich erinnern konnte, immer geglaubt hatte –, etwas an ihm sei aus Glas. Er stellte sich jene falsche Bewegung vor, die ihn zu Fall bringen und vor ihr zersplittern lassen würde. Widerwillig entzog er sich Alma. Er lächelte zu ihren Füßen hinunter, in der Hoffnung, sie würde verstehen. Sie redeten stundenlang.
An diesem Abend ging er frohgemut nach Hause. Er konnte nicht schlafen, so aufgeregt erwartete er den nächsten Tag. Er und Alma hatten eine Verabredung, wollten ins Kino. Am nächsten Abend holte er sie ab und schenkte ihr einen Strauß gelbe Osterglocken. Im Kino bekämpfte – und besiegte! – er die Gefahren des Sitzens. Er sah sich den ganzen Film nach vorn gebeugt an, sodass sein Gewicht auf der Unterseite der Oberschenkel ruhte und nicht auf dem Teil von ihm, der aus Glas war. Sofern Alma es bemerkte, sagte sie nichts. Er bewegte sein Knie ein wenig, und ein wenig mehr, bis es an ihrem lehnte. Er schwitzte. Als der Film vorbei war, hatte er keine Ahnung, um was es darin gegangen war. Er schlug vor, einen Spaziergang durch den Park zu machen. Diesmal war er es, der stehen blieb, Alma in die Arme nahm und sie küsste. Als seine Knie anfingen zu zittern und er sich in Glassplittern liegen sah, kämpfte er gegen den Drang an, sich zu entziehen. Er fuhr ihr mit den Fingern über ihrer dünnen Bluse das Rückgrat hinunter, und einen Augenblick vergaß er die Gefahr, in der er sich befand, dankbar für die Welt, die absichtlich scheidet, damit wir Trennendes überwinden, voller Freude darüber, uns einander anzunähern, auch wenn wir im tiefsten Inneren die Trauer über die Unüberwindlichkeit unserer Unterschiede nie vergessen können. Unversehens zitterte er heftig. Er spannte die Muskeln, damit es aufhörte. Alma spürte sein Zögern. Sie beugte sich zurück und sah ihn an, etwas wie Verletztheit in den Augen, und da hätte er beinahe, tat es aber dann doch nicht, die beiden Sätze gesagt, die er seit Jahren hatte sagen wollen: Etwas an mir ist aus Glas, und: Ich liebe dich.
Er sah Alma ein letztes Mal. Er hatte keine Ahnung, dass es das letzte Mal sein würde. Er glaubte, alles finge gerade erst an. Er verbrachte den Nachmittag damit, ihr eine Halskette zu basteln, winzige Vögel aus gefaltetem Papier, die auf einem Faden aneinander gereiht waren. Unmittelbar bevor er aus der Tür ging, schnappte er sich, einer spontanen Regung folgend, ein Gobelinkissen von der Couch seiner Mutter und stopfte es sich als Schutzmaßnahme in den Hosenboden. Kaum war das getan, fragte er sich, warum er nicht früher darauf gekommen war.
An diesem Abend – nachdem er Alma die Halskette geschenkt und sie ihr, während sie ihn küsste, behutsam um den Hals gebunden hatte, nur ein leichtes, gar nicht so schreckliches Beben empfindend, als sie nun ihm mit den Fingern das Rückgrat hinunterfuhr und einen Moment innehielt, ehe sie die Hand in seinen Hosenboden gleiten ließ, um sie alsbald zurückzuziehen, und ein Blick sie überkam, der zwischen Lachen und Entsetzen schwankte, ein Blick, der ihn an einen von jeher gekannten Schmerz erinnerte – sagte er ihr die Wahrheit. Jedenfalls versuchte er, die Wahrheit zu sagen, aber was herauskam, war nur die halbe Wahrheit. Später, viel später, wurde ihm bewusst, dass ihn zwei Dinge reuten, die er nicht loswerden konnte: erstens, dass er, als sie sich zurückbeugte, im Schein der Lampe gesehen hatte, wie seine selbst gebastelte Kette ihr den Hals zerkratzte, und zweitens, dass er im wichtigsten Moment seines Lebens den falschen Satz gewählt hatte.
Lange saß ich da und las die von meiner Mutter übersetzten Kapitel. Als ich mit dem zehnten fertig war, wusste ich, was ich zu tun hatte.
34. ES GAB NICHTS MEHR ZU VERLIEREN
Ich zerknüllte den Brief meiner Mutter und warf ihn in den Müll. Ich rannte nach Hause, in mein Schlafzimmer hinauf, um einen neuen Brief an den einzigen Mann zu entwerfen, von dem ich glaubte, er könnte meine Mutter ändern. Ich arbeitete Stunden daran. Spätabends, als sie und Bird längst schlafen gegangen waren, stand ich aus dem Bett auf, schlich auf Zehenspitzen über den Flur und holte die Schreibmaschine meiner Mutter, die sie für über fünfzehn Wörter lange Briefe noch immer gern benutzt, in mein Zimmer. Ich musste viele Male tippen, ehe mir ein fehlerfreies Exemplar gelang. Ich las ihn ein letztes Mal durch. Dann unterschrieb ich mit dem Namen meiner Mutter und ging schlafen.