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Das Angebot an bezahlbaren 2-Zimmer-Wohnungen war nicht gerade umwerfend. Als ich am nächsten Morgen wieder denken konnte, entdeckte ich gerade mal drei Angebote im Anzeigenteil der zwei stadtbekannten Zeitungen. Unter zwei Nummern erreichte ich jemanden und konnte mir die Objekte sofort ansehen. Das erste war so klein, daß ich mir vorkam wie in einer Puppenstube. Die zweite Wohnung lag an einer vielbefahrenen Umgehungsstraße. Da keine doppeltverglasten Fenster eingebaut waren, hatte man das Gefühl, sämtliche LKWs wollten ihre Waren im Badezimmer abladen. Unmöglich – eher würde ich den Rest meines Lebens bei den Dreisams verbringen, bevor ich wegen klaustrophobischer Anfälle in meiner winzigen Wohnung in Behandlung mußte oder unter ständiger Angst litt, in meinem eigenen Schlafzimmer überfahren zu werden. Nach diesen Pleiten beschloß ich, ein zweites Mal meine zukünftige Arbeitsstätte heimzusuchen. Vielleicht würde ich diesmal in den Besitz der Unterlagen gelangen, die Schwester Wulfhilde mir hatte hinterlegen wollen. Sie selbst verbrachte die ersten zwei Wochen der Osterferien bei ihrem Bruder, wie sie mir erzählt hatte.

Ich machte mich zu Fuß auf den Weg zur Schule und mußte feststellen, daß die Stadt mehr als übersichtlich war: die Hauptkirche, in deren Schatten das alte Rathaus lag, der Stadtbrunnen, ein Weinkeller, den Max mir am Abend zuvor nähergebracht hatte. Über das Kopfsteinpflaster schnaufte ich bergauf, über eine Kreuzung, bis ich den Eingang zu einem Friedhof entdeckte. Ich überlegte. Wenn ich nachher quer marschierte, mußte ich doch auch auf die Schule zukommen. Ich versuchte mein Glück. Der Weg verlief wunderschön unter alten riesig hohen Pappeln hindurch. Ich setzte mich auf eine Bank und atmete durch. Ein paar Vögel randalierten über mir in den Ästen. Wahrscheinlich stritten sie sich um eine Frau. Ich schloß die Augen und fing ein paar Sonnenstrahlen auf. Nach einiger Zeit schlenderte ich faul weiter, blieb dann vor ein paar Gräbern stehen. Paul Hagelücken, Erna Filthaut, Bernhard Kemper, Konrad Edelkötter, Bruno Langensiep – ich stutzte. Bruno Langensiep. War das nicht? Ja, es war. 28.2.1954 – 17.1.1998 stand unter dem Namen. Das Grab war mit einer Art Natursteinkiesel belegt. Als einziger Schmuck stand ein Gesteck darauf. Der Grabstein war ziemlich edel, verglichen mit den Nachbargräbern, nur hatte man sich dort mehr Mühe mit einer Bepflanzung gegeben. Mit vierundvierzig in einen Steinbruch zu fallen, war ein ziemlich tragisches Schicksal, fand ich. Ob Bruno Langensiep betrunken gewesen war, daß dieser Unfall passieren konnte? Nun ja, vielleicht würde ich noch mehr über diesen seltsamen Fall erfahren. Bruno Langensieps Grab erinnerte mich an die Schule und ich lief nun schnellen Schrittes in die Richtung, wo ich die Schule vermutete. Ich hatte recht gehabt. Man brauchte vom Seitenausgang des Friedhofs aus nur die nächste Querstraße zu nehmen und lief dann automatisch auf das Schultor zu. An der Schule angekommen, versuchte ich mein Glück an der Glastür. Diesmal ließ sie sich öffnen, und als ich drinnen war, sah ich ein offenes Büro vor mir. Von meinem allerersten Aufenthalt her erkannte ich das Sekretariat wieder, aus dem heute allerdings laute Radiomusik schallte. Ich klopfte an den Türrahmen, obwohl mir klar war, daß man bei der Musiklautstärke noch nicht einmal sein eigenes Husten hätte hören können. Nichts tat sich. Ich schaute um die Ecke, aber es war niemand zu sehen. Ich überlegte und beschloß, das Lehrerzimmer zu suchen. Ich lief geradewegs die Treppe hinauf nach oben, da das Lehrerzimmer in einem Obergeschoß untergebracht war, und stand dann ziemlich hilflos vor einem endlos langen Flur mit unendlich vielen Türen. Intuitiv ging ich weiter die Treppe hoch und stand wiederum vor einem endlos langen Flur mit unendlich vielen Türen. Irgendwie fand ich es unheimlich, daß ich als quasi Fremder ganz allein hier im Gebäude rumlaufen konnte. Ich versuchte mein Glück auf dieser Etage und entdeckte in der Mitte des Ganges eine Tür, die sich von den anderen unterschied. Sie war zweiflüglig und aus schwerem, dunklem Holz. Ich kramte gerade in meinem Gedächtnis, als ich neben der Tür ein kleines Schildchen mit der Aufschrift »Lehrerzimmer I« entdeckte. Ich klopfte, doch es kam keine Antwort. Die Tür ließ sich öffnen. Ich erkannte den riesigen holzgetäfelten Raum wieder, den ich bei meiner Führung als ziemlich nobel empfunden hatte. An einem Regal am anderen Ende des Raums stand jemand mit dem Rücken zu mir. Ich räusperte mich so laut ich konnte. Die Person drehte sich um, und ich sah in das erschrockene Gesicht einer Frau, ungefähr in meinem Alter. Ich versuchte möglichst ungefährlich auszusehen, um nicht den Anschein zu erwecken, ich wolle zwanzig Mark aus der Kaffeekasse klauen.

»Guten Tag, ich bin Vincent Jakobs! Ich soll hier nach den Ferien Geschichte und Deutsch unterrichten.« Das Gesicht entspannte sich.

»Haben Sie mich aber erschreckt!«, sagte die Frau mit einer tiefen Stimme und kam auf mich zu. »Wissen Sie, man kennt sonst eigentlich jeden, der hier in der Schule rumläuft. Und wenn man jemanden nicht kennt, hat er meistens einen Arbeitskittel an und ist zu Handwerksarbeiten hier.«

»Dann bin ich natürlich verdächtig«, entgegnete ich, »soll ich mich ausweisen?« Mein Gegenüber lächelte.

»Nicht nötig. Ich glaube Ihnen auch so. Mein Name ist Roswitha Breding, Bio und Mathe.« Roswitha streckte mir freundlich eine Hand entgegen. Als sie meine Hand drückte, ging ich beinahe in die Knie. Wie Schwester Dorothea war Roswitha ganz offensichtlich von der kernigen Sorte. Sie war nicht allzu groß, aber kräftig und trug ihr dunkelblondes Haar in einem Kurzhaarschnitt.

»Sie sind bestimmt der Nachfolger von Bruno Langensiep, oder?«

»Bis gestern wußte ich zwar auch noch nichts davon. Aber es scheint so zu sein.«

»Eine ziemlich tragische Geschichte.«

»Und eine geheimnisvolle obendrein«, setzte ich hinzu. »Schwester Dorothea deutete gestern an, daß sie sich durchaus auch einen Mord vorstellen könnte.«

»Einen Mord?« Roswitha platzte heraus. »Da lachen ja die Hühner! In dieser Stadt gehören Kirchenaustritte und wilde Ehen zu den spektakulärsten Ereignissen des Jahres. Ein Mord ist hier einfach undenkbar.« Als gewiefter Krimileser wollte ich meiner neuen Kollegin gerade mitteilen, daß die meisten Morde in malerischen Pfarreien und auf einsam gelegenen Landsitzen passieren und daß ich mir auch ihre geschätzte Stadt durchaus als Ort des Verbrechens vorstellen könnte, doch Roswitha Breding ließ mich nicht zu Wort kommen.

»Wenn Sie mich fragen oder besser – wenn du mich fragst – wir duzen uns nämlich unter den jungen Kollegen – dann leidet Schwester Dorothea unter Schüben übersteigerter Phantasie. Sie liest eindeutig zu viele Krimis. Aber die sind ja als Alternative zur Bibel auch eine gelungene Abwechslung.«

»Was war dieser Langensiep denn für ein Mensch?« Nachdem ich schon einmal mit Friederike Glöckner darüber gesprochen hatte, interessierte mich diesmal das Urteil einer Kollegin. »Warst du mit ihm näher bekannt?«

»Mit Langensiep? Gott bewahre! Im Vertrauen, der Typ war ein wirkliches Ekel. Er machte Kollegen runter, wo er nur konnte, schaffte es aber andererseits, sich bei der Schulleitung lieb Kind zu machen. Ein wirklich unangenehmer Mensch, mit dem keiner im Kollegium viel zu tun hatte. Wenn es danach ginge, könnte ich mir schon vorstellen, daß ein Mord möglich wäre. Aber wechseln wir lieber das Thema.«

»Ja, vielleicht kannst du mir helfen«, lenkte ich ein. »Hast du eine Ahnung, wo ich Sachen finden kann, die für mich hinterlegt worden sind?«

»Die müßten in den namenlosen Fächern liegen«, antwortete Roswitha und steuerte auf die Wand mit einer Unmenge von Fächern zu. »Hier werden die Sachen für alle reingelegt, die kein festes Fach haben oder noch eins bekommen sollen – Referendare und so.« Roswitha stöberte durch die Blätter, die in drei unbeschrifteten Fächern abgelegt waren. »Hier ist nichts.« Sie ließ ihren Blick über die restlichen Fächer schweifen. »Ah, man hat dir schon ein eigenes Fach eingerichtet.« Roswitha hatte recht. ’JAKOBS’ stand in dicken handgeschriebenen Lettern auf einem Papieraufkleber. Leider war das Fach absolut leer.

»Hm, ich will ja nicht unken«, sagte Roswitha grinsend, »aber ich schätze, Wulfhilde hat dich einfach vergessen. Das kommt schon mal vor, wenn sie auf Fahrt geht. Am besten fragst du mal bei Schwester Gertrudis nach. Sie arbeitet im Sekretariat und hat den besten Überblick.«

Enttäuscht verabschiedete ich mich von Roswitha und machte mich wieder auf den Weg zum Sekretariat. Es fiel nicht schwer, den Weg zurückzufinden, denn die Musik schallte mir schon im Treppenhaus entgegen. Als ich näher kam, hörte ich auch, daß die Musik von nicht minder lautem Gesang begleitet wurde.

»Rote Lippen, roter Wein – ja, die Welt, sie ist so klein«, trällerte eine Frauenstimme und stellte dabei den eigentlichen Sänger in den Schatten. Da hatte ich es wohl mit einer eingefleischten WDR 4 – Hörerin zu tun. »Und wir zwei sind ganz allein«, schmetterte es mir entgegen, als ich gerade durch die offene Bürotür trat – Klopfen wäre sinnlos gewesen –.

»Guten Morgen«, sagte ich unsicher. Auf dem Boden kniete eine runde, grau gewandete Schwester mit üppigen Körpermaßen und packte Kopierpapier aus einem Karton in einen Schrank.

»Und wir zwei sind ganz allein–«

»Guten Morgen!« schrie ich diesmal, um die Musik und die holde Sängerin zu übertönen. Ihr Kopf schoß nach oben. Einen Augenblick lang dachte ich, die Sache sei ihr peinlich, weil sie so rot im Gesicht war, aber das war ein Irrtum. Die Arbeit und der Gesang schienen ihr das Blut in den Kopf getrieben zu haben. Die Schwester sagte etwas, das ich nicht verstand. Stöhnend hievte sie sich hoch und stellte das Transistorradio aus, das auf einem Regal deponiert war.

»Guten Morgen!« flötete mir die Sängerin entgegen, »kann ich etwas für Sie tun?«

»Ja, ich glaube schon«, antwortete ich, »mein Name ist Vincent Jakobs, ich bin bei Ihnen als Lehrer eingestellt worden.«

»Ach, Sie sind das? Herzlich willkommen!«, sagte die Schwester, »Ich bin Schwester Gertrudis, ich arbeite hier im Sekretariat.« Das runde Gesicht strahlte mich an. »Ich soll Ihnen etwas ausrichten. Schwester Wulfhilde hat gestern aus dem Urlaub angerufen. Sie möchten vielmals entschuldigen, aber sie hat vergessen, Ihnen die versprochenen Unterlagen zurechtzulegen.«

»Oh nein!«, stöhnte ich, »ich brauche unbedingt irgendetwas, um mich in den drei Ferienwochen auf den Unterricht vorbereiten zu können. Ich weiß ja gar nicht, was mich erwartet – welche Klassen, welcher Stoff – ich weiß wirklich überhaupt nichts.«

Schwester Gertrudis schaute mich verständnisvoll an. »Hm, was machen wir denn da? Ich glaube, ich rufe in dem Fall mal bei Herrn Radebach an. Er ist der stellvertretende Schulleiter. Er soll Ihnen alles Nötige raussuchen.«

Auf dem Weg zurück zu meiner Pension hatte ich die Zusicherung, am kommenden Tag »irgendwas« in meinem Fach zu finden. Immerhin. Schwester Gertrudis hatte den genervten Herrn Radebach mit ihrer süßlichsten Stimme dazu gebracht, sich darum zu kümmern. Am nächsten Tag sollte ich endlich mehr über meine Arbeit wissen. Ich überlegte, wie ich die Zeit bis dahin nutzen konnte. Natürlich könnte ich es mit der Wohnungsanzeige versuchen, bei der ich vorher niemanden erreicht hatte. Als ich bei den Dreisams ankam und mich ihr kleiner Dackel begrüßte, hatte ich aber eine viel bessere Idee.