3

Idylle. Nach und nach entstand dieses Bild eines sauerländischen Städtchens in meinem Kopf. War es nicht eine anrührende Vorstellung, daß man sich hierzulande noch so nahe war? Daß man auf dem Markt ein Schwätzchen halten konnte und in der Kneipe immer ein paar Bekannte traf? Hier gab es noch Heimat! Und ich würde demnächst dabei sein, denn ich wurde hier als Lehrer gebraucht. Mit diesem Gedanken wollte ich mich nun auf den Weg zu meiner künftigen Arbeitsstätte machen.

Mein Aktionismus wurde gebremst, als ich an meinem Auto ein Knöllchen über dreißig Mark fand. Ich hatte einen Anwohnerparkplatz benutzt. Das Knöllchen sollte nicht das letzte gewesen sein. Nachdem ich mich aus den Altstadtgäßchen hinausgeschlängelt hatte, fand ich den Weg zur Schule ziemlich schnell. »Immer nach oben« traf eigentlich von jedem Ausgangspunkt aus zu.

Ich ließ meinen Wagen über das letzte Stück Kopfsteinpflaster rumpeln und fuhr dann links durch das geöffnete Schultor hindurch. Ich hielt auf dem Lehrerparkplatz, wo außer mir nichts und niemand zu sehen war. Kein Mensch, kein Auto, kein Lebenszeichen. Ich blieb einen Augenblick im Auto sitzen und starrte auf das Schulgebäude, das sich ebenfalls nicht gerade als Hort fröhlichen Lebens und Lernens präsentierte. Zugegeben, die Osterferien hatten gerade begonnen. Aber war das ein Grund, daß alle Angehörigen diesen Ort fluchtartig verlassen hatten? Warum war die Öko-AG nicht gerade damit beschäftigt, einen neuen Schulteich anzulegen? Und warum nutzten nicht ein paar nette Kollegen die Ruhepause der Ferien, um ihre Lernziele und Methoden zu diskutieren? Nichts, kein Mensch! Ein tiefer Seufzer entfuhr meiner empfindsamen Junglehrerbrust. Nun, ich würde mich der kalten Realität dieser gottverlassenen Schule stellen. Gottverlassen. Ich schmunzelte, während ich unter Kraftanstrengungen die Autotür öffnete und meine Glieder aus dem Auto schälte. Menschenleer war wohl der passendere Ausdruck für ein Gymnasium, das von einem katholischen Orden geführt wurde. Mein Blick schweifte über den Gebäudekomplex. Als ich wegen des Vorstellungsgesprächs hier gewesen war, hatte ja alles in der Dämmerung eines ungemütlichen Februarabends gelegen. Ein verschwommenes, riesiges Etwas, an dem ich nicht einmal die Eingangstür auf Anhieb gefunden hatte. Erst heute nahm ich die Aufteilung des Ganzen richtig wahr. Hier stand ich wohl vor dem Hauptgebäude, einem alten, dunklen Gemäuer, das durch große, weiß gestrichene Fenster einigermaßen aufgehellt wurde. Na ja, den Club der toten Dichter hätte man hier nicht drehen können, aber so eine gewisse altersbedingte Würde war schon vorhanden. Turnhalle, Fachtrakt – ja, so langsam kam die Erinnerung wieder. Ich ließ meinen Blick weiter schweifen. Der Schulkomplex war von einem gewaltigen Park umgeben, und ich versuchte mich an dem Gedanken hochzuziehen, daß es ungemein sinntragend aussehen würde, wenn ich über pädagogische Probleme grübelnd durch das hauseigene Grün wandeln würde.

»He, Sie da!« Ich drehte mich um, herausgerissen aus meinen romantischen Träumereien. Die Quelle menschlicher Lautbildung war ein typischer »He Sie da« – Rufer, das sah ich auf den ersten Blick. Ob ich es mit dem Hausmeister zu tun hatte? Ich ging langsam auf ihn zu.

»Haben Sie das Schild da nicht gesehen?« fuhr der vermeintliche Hausmeister mich an.

»Ein Schild?« Hatte ich ein Hinweisschild übersehen, das wegen einer Ordensmeditation Eindringlinge für unerwünscht erklärte? Ich wollte mich gerade zu dieser Erklärung für die absolute Regungslosigkeit an der Schule beglückwünschen, als der »He Sie da« – Rufer mich weiter anraunzte.

»Dies ist ein Lehrerparkplatz! Dort drüben hinter dem Schultor steht ein Hinweisschild, das ausdrücklich darauf aufmerksam macht, daß nur Lehrkörper ihre Autos hier abstellen dürfen.« Ich blickte über den riesigen Parkplatz, auf dem einzig und allein mein Auto ein winziges Plätzchen beanspruchte.

»Wissen Sie, ich wollte eigentlich–«

»Man sollte annehmen, daß das Schild dort drüben gut lesbar ist. Im übrigen möchte ich darauf hinweisen …«

Ich ließ HeSieda weiterreden und widmete mich seinem Äußeren. Er war klein und stämmig, hatte lichtes schwarzes Haar und trug einen gestutzten schwarzen Vollbart, der lediglich seinen Mund umgab. Ich überlegte gerade, wie ein solcher Bart hieß. Angie hätte es bestimmt gewußt. Das Entscheidende bei diesen Bärten war, daß die Verbindung zwischen Bart und Haupthaar fehlte. Das Wort lag mir wirklich auf der Zunge. HeSieda, dem ich schon seit geraumer Zeit in seinen Ausführungen nicht mehr gefolgt war, machte eine Pause. Ob er mir eine Frage gestellt hatte?

»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, versuchte ich es, »Ruhe und Ordnung sind das Wichtigste an einer Schule wie der Ihren. Ich werde Ihren Rat beherzigen und mich in der Zukunft immer an Ihren gut gemeinten Vorschlägen orientieren.« HeSieda schaute mich fassungslos an. »Und übrigens«, merkte ich noch an, »Ihr Bart, der ist echt chic!« HeSieda stand mit offenem Mund da, als sei er im Teer verwurzelt. Ich nutzte die Gelegenheit und verschwand um die nächste Ecke. Die Glastür, an der ich rüttelte, blieb gnadenlos verschlossen. Ich lief um das Hauptgebäude herum. Wo war denn jetzt die Holzpforte geblieben? HeSieda hatte mich gründlich verwirrt. Endlich, da war sie. Ich lief im Laufschritt die Treppenstufen nach oben und versuchte die Tür zu öffnen, vorsichtig natürlich. Tatsächlich gab die Pforte nach einigem Bemühen nach, und ich stand in einem halbdunklen Vorraum. Von dort führte eine Tür in eine Art Vestibül. Langsam kam mir die Erinnerung an diesen Gebäudeteil wieder. Die lebensgroße Madonnenstatue, die von einem Mosaikbogen an der Wand eingefaßt war, erkannte ich auf Anhieb wieder.

»Haben Sie sich verlaufen?« Eine hochgewachsene Schwester blickte mich durch ihre dicke Brille neugierig an. Sah ich eigentlich wie ein aufdringlicher Zeitschriftenaboverkäufer aus, oder warum traute niemand in diesem ehrwürdigen Schulgebäude mir zu, daß ich ein ernsthaftes Anliegen hatte?

»Ich hoffe nicht«, antwortete ich in einem gewollt lockeren Tonfall. Die in dezent graue Tracht gekleidete Schwester beäugte mich weiter mißtrauisch, was ihr leicht fiel, da sie mich um einige Zentimeter überragte.

»Um genau zu sein, soll ich von nun an hier arbeiten.«

Ein wohlwollendes Lächeln huschte über das Gesicht meines Gegenüber. »Na, dann werden Sie sich wohl noch öfter hierhin verlaufen.« Schwester Unbekannt lachte herzlich, und ich stimmte höflich ein. Meine Empfangsdame war nicht nur extrem groß, sondern auch sehr dünn. Sie hatte schwarzes Haar, das sich unter ihrer Haube herauskräuselte. Wieviel Zentimeter Haar wohl bei einer Schwester des Elisabeth-Gymnasiums sichtbar sein durften?

»Ich bin Schwester Dorothea«, stellte sie sich nun vor und reichte mir sogar die Hand.

»Vincent Jakobs.« Beinahe wäre ich unter ihrem Händedruck in die Knie gegangen.

»Ich bin für die Buchhaltung des Hauses zuständig. Mit mir werden Sie zu tun haben, wenn es um Ihre Gehaltsabrechnung geht. Darf ich fragen, was Sie unterrichten?«

»Deutsch und Geschichte.«

»Na, daß es nicht Sport ist, hatte ich mir schon gedacht.« Mir blieb das Lächeln zwischen den Zähnen stecken. Dorothea versteckte ihr eigenes Lachen unter einem Hüsteln und schaute dann auf die Uhr.

»Um Himmels willen, die heilige Sext beginnt gleich. Wenn Sie mich entschuldigen wollen!«

»Die Sext?« Ich mußte feststellen, daß es Wörter gab, die ich noch nie gehört hatte.

»Unser Mittagsgebet in der Kapelle«, erklärte Schwester Dorothea. »Kann ich noch etwas für Sie tun?«

»Für mich sind Unterlagen hinterlegt worden«, erklärte ich. »Haben Sie eine Ahnung, wo ich die finden kann?«

»Wahrscheinlich gar nicht«, meinte Dorothea grinsend. »Nein, im Ernst. Vermutlich im Lehrerzimmer. Allerdings muß ich jetzt die Pforte verschließen, und dann können Sie anschließend nicht mehr heraus. Würde es Ihnen etwas ausmachen, später noch einmal wiederzukommen?« Ich schüttelte den Kopf. Es machte mir wirklich nichts aus, nicht auf Anhieb mit der anstehenden Arbeit konfrontiert zu werden.

»Ach übrigens, Deutsch und Geschichte.« Schwester Dorothea folgte mir zur Pforte. »Dann sind Sie bestimmt der Nachfolger von Bruno Langensiep, oder?«

»Der Name sagt mir nichts. Ich hörte nur, daß ein Kollege bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist.«

»Verkehrsunfall?« Dorothea schmunzelte. »Eine interessante Umschreibung.«

»Wie meinen Sie das? Was ist denn nun wirklich passiert?« Ich wurde langsam ungeduldig, was diese Angelegenheit betraf.

»Eine schreckliche Geschichte. Langensiep ist bei einem Spaziergang gestürzt. Um genau zu sein, er ist in einen Steinbruch gefallen und dabei zu Tode gekommen.«

Ich schluckte. »Einfach so?«

Schwester Dorothea zog die Augenbrauen hoch. »Auf jeden Fall lautete so das Ergebnis der Ermittlungen, die nach dem Tod in Gang gesetzt worden sind. Aber –« Dorothea senkte die Stimme, als sie weitersprach, »man weiß ja nie.« Ich fragte mich gerade, wie ich die Idee fand, daß mein Vorgänger vielleicht kaltblütig um seine Restlebensjahre gebracht worden war.

»Das war natürlich nicht ernst gemeint«, lachte Schwester Dorothea indes. »Es war kein Mord, sondern eben ein tragischer Unfall. In einem Städtchen wie unserem passiert doch kein Mord.« Ich lächelte Schwester Dorothea gequält an und trat hinaus ins Freie.

»Wenn Sie meinen!«

»Na ja, Ihnen wünsche ich jedenfalls mehr Glück!« Dorothea ließ die Pforte ins Schloß fallen. Als der Schlüssel im Schloß klimperte, hörte es sich einen Moment lang wie ein leises Kichern an.

Das mulmige Gefühl, das sich bei mir eingestellt hatte, ging nicht nur auf die zwei Stück Eissplittertorte zurück, die ich zuvor gegessen hatte. Ob mein Vorgänger vielleicht ein paar Fünfen zuviel verteilt hatte? Hatten Eltern oder Schüler in Eigenregie für einen zügigen Lehrerwechsel gesorgt? Natürlich spann ich herum, aber ganz im Ernst begann dieser seltsame Vorfall mich zu interessieren – und zu beunruhigen.

Schnellen Schrittes ging ich zu meinem Auto und nahm dankbar zur Kenntnis, daß HeSieda inzwischen anderweitig im Einsatz war. Als ich hinter dem Steuer saß, ließ ich die Tür einen Augenblick auf und atmete tief durch.

»He Sie da, Sie sind ja immer noch da! Habe ich Sie nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, daß dieser Parkplatz ausschließlich Lehrpersonen dieses Gymnasiums zur Verfügung steht?« HeSieda stand mit knallrotem Kopf neben meinem Auto. Wo hatte er sich bloß versteckt? Unter meinem Wagen? War er aus einem Gulli gekrochen?

»Haben Sie irgend etwas zu Ihrer Rechtfertigung zu sagen?«

»Allerdings! Aber ich habe ernsthafte Befürchtungen, daß Ihr Blutdruck das nicht verkraftet!« Zum Glück verstand ich mich auf Schnellstarts.