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Warum sie in diesem Fall zu einem Hausbesuch hatte anrücken sollen, war ihr immer noch nicht ganz klar. Hasenkötter hatte etwas von »ein wenig eigen« gemurmelt, aber das schien eher untertrieben. Als Alexa geklingelt hatte, war schon einige Sekunden später die Tür von einer verklemmt aussehenden Frau geöffnet worden. Zunächst hatte Alexa gedacht, es handle sich vielleicht um eine Hausangestellte, weil die Person sie so professionell hereinbat, gleichzeitig aber einen irgendwie schüchternen Eindruck machte: »Frau Schnittler? So kommen Sie doch bitte herein!«
Die Frau war nicht alt, aber sie wirkte wie aus einem vergangenen Jahrhundert. Ihr grauer Rock, ihre rosa Bluse sowie ihr schmuckloser Haarschnitt hätten Hendrik mit Sicherheit zu dem Urteil »alte Jungfer« veranlaßt. Alexa fühlte sich an eine Gouvernante aus einem viktorianischen Roman erinnert. Naja, die waren ja auch meist alte Jungfern. Als Alexa in das Innere der Wohnung eintrat, stellte sie fest, daß die Einrichtung völlig in Einklang mit dem Äußeren der Wohnungseigentümerin war – altmodisch, eingerichtet mit dunklen, fast schwarzen Möbeln. Das Wohnzimmer war mit hochlehnigen Stühlen ausstaffiert, der Tisch mit einer feinen Spitzendecke bedeckt, die Vorhänge aus dunklem Samt, so als hätten sie früher einmal in einem alten Schloß gehangen. Eine Wanduhr tickte so durchdringend laut, daß die sonstige Stille im Zimmer noch mehr hervortrat. Alexa fragte sich, ob im nächsten Moment wohl ein Butler zur Tür hereintreten würde. Statt dessen bot ihr die Dame im unschätzbaren Alter eine Tasse Tee an. Alexa nahm dankend an, froh allein deshalb, weil sonst nichts zu passieren schien. Während ihr in eine filigrane Tasse eingeschenkt wurde, ertönte plötzlich ein Klingeln, nicht von der Wohnungsschelle, sondern eher wie von einer Klingel, wie man sie gelegentlich in alten Filmen an Hotelrezeptionen sah.
»Einen Moment bitte, meine Mutter ruft mich.« Alexa schaute erstaunt hinter der Gouvernante her. Sie stand wieder auf, als sie allein war, und blickte sich noch einmal um in diesem Zimmer mit seiner gespenstischen Atmosphäre. Sie mußte sich erneut bewußt machen, daß sie nicht versehentlich in die Requisite eines Agatha-Christie-Films getapert war, sondern sich in einer Eigentumswohnung in der Innenstadt befand. Wie um sich zu vergewissern, trat sie einen Schritt ans Fenster und sah direkt auf die Fußgängerzone hinunter, wo, wie immer um diese Uhrzeit, ein reges Treiben herrschte. Als die Tür mit einem Stoß aufging, zuckte Alexa zusammen. Sie fühlte sich ertappt, so als wäre sie unartig gewesen. Schnell stellte sie ihre Tasse auf den Tisch, um einer alten Frau im Rollstuhl entgegenzutreten, die von ihrer Tochter hereingeschoben wurde. Die alte Frau war sicherlich weit über achtzig, saß jedoch kerzengerade in ihrem Stuhl. Sie trug die grauen Haare ebenfalls kurz und glatt und hatte ähnliche Züge wie die Tochter. Nur die Augen unterschieden sich deutlich. Die der Tochter waren groß und ernst, die der Mutter hart wie zwei Steine. Die Mutter musterte Alexa mit einem kurzen Blick und hielt dann eine Katze hoch, die Alexa vorher noch gar nicht auf ihrem Schoß bemerkt hatte.
»Das ist sie«, sagte die Alte mit einer klaren, scharfen Stimme.
»Ich habe euch noch gar nicht vorgestellt«, versuchte die Tochter zu vermitteln, »Mutter, das ist Frau Schnittler. Das ist meine Mutter.«
»Hör auf mit dem Geschwätz«, fuhr die Alte sie an. »Hier ist die Katze«, wandte sie sich jetzt nun wieder an Alexa.
»Na, dann wollen wir mal.« Alexa versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie unwohl sie sich mittlerweile fühlte. Sie nahm der Alten die Katze ab und ging damit zu einem kleinen Beistelltisch. Der Einfachheit halber kniete sie sich davor und setzte die Katze auf dem Tischchen ab, um sie besser untersuchen zu können. Das Tier miaute fragend, als Alexa es hinlegte. Es dauerte nicht lange, bis Alexa das Geschwulst im Bauchraum getastet hatte. Es lag in unmittelbarer Nähe der Säugeleiste.
»Sie ißt und trinkt weniger als sonst«, sagte die Tochter, die nun hinter Alexa getreten war. »Das haben wir schon vor längerer Zeit beobachtet, aber Mutter war sicher, daß es vorübergehen würde.«
»Wie heißt sie denn?« fragte Alexa, während sie das schwarze Tier vorsichtig streichelte.
»Rolande.«
Alexa drehte sich um und wandte sich gleichermaßen an Mutter und Tochter. »Ich habe hier am Gesäuge ein kleines Geschwür ertastet. Ohne weitere Röntgenuntersuchungen kann ich dazu leider nichts sagen. Es könnte sich einerseits um eine Leukose handeln, eine infektiöse Erkrankung, die in vielen Fällen relativ leicht zu behandeln ist. Aber es könnte eben auch ein bösartiger Tumor sein. In beiden Fällen müßten wir herausfinden, wie weit die Krankheit fortgeschritten ist, im letzteren natürlich, ob sich Metastasen gebildet haben. Ihr Allgemeinzustand ist ja nicht allzu schlecht und, soweit ich sehe, ist sie auch noch nicht sehr alt. Andererseits kann ich Ihnen für nichts garantieren.«
»Röntgen?« Die Stimme der Alten ertönte schrill von der Tür her. »Das kommt gar nicht in Frage! Nehmen Sie sie mit, und – Sie wissen schon!«
»Mutter!« Die Tochter war entsetzt. »Ich würde nicht sagen, daß–«
»Haben Sie nicht gehört? Schicken Sie uns die Rechnung!«
»Mutter, laß es uns doch versuchen! Frau Schnittler meint doch–«
»Hast du mich nicht verstanden, Gisela?« Die Alte wandte sich jetzt wieder an Alexa. »Nehmen Sie das Tier mit, Sie brauchen es nicht länger zu untersuchen! Und jetzt bring mich nach nebenan, Gisela! Ich bin erschöpft.«
Die Tochter, Gisela mit Namen, ging langsam auf ihre Mutter zu, als überlegte sie, ob Widerstand angebracht sei. Im Schneckentempo drehte sie dann den Rollstuhl um und fuhr ihn aus dem Zimmer heraus. Alexa kniete vor dem Tisch mit dem mitleiderregenden Geschöpf darauf und war sprachlos. Sie packte ihre Tasche und nahm das Tier auf den Arm. Dann sah sie neben dem Tischchen einen Transportkorb für Katzen. Alexa legte das Tier vorsichtig hinein. Einen Moment überlegte sie, was jetzt zu tun sei. In der einen Hand den Katzenkorb, in der anderen ihre Tasche, öffnete sie mit dem Ellbogen die Tür zum Flur, doch überall war es gespenstisch still. Es war, als hätten alle Bewohner die Wohnung verlassen. Plötzlich hatte Alexa nur noch das Bedürfnis, hier raus zu wollen. Sie drückte die Wohnungstür auf, schob sie mit dem Fuß hinter sich zu und hastete die Treppe hinunter. Als sie fast unten angekommen war, hörte sie eine Tür oben wieder aufgehen und die Stimme der Tochter. Sie war aufgeregt.
»Hallo? Frau Schnittler? Sind Sie noch da?« Alexa überlegte einen Augenblick, ob sie antworten sollte.
»Ja, ich bin hier unten.«
Die Tochter hastete die Treppe herunter.
»Bitte entschuldigen Sie!« brachte sie heraus, mehr vor Aufregung, nicht weil sie außer Atem war. »Meine Mutter ist sehr, sehr – Sie ist nicht wirklich so. Sie hat viel mitgemacht im Leben. Im Grunde liebt sie die Katze.«
Alexa schaute ihr direkt in die Augen. Die Tochter wich dem Blick aus und guckte zu den Briefkästen, die im Flur angebracht waren. Alexa folgte ihrem Blick, der auf ein Namensschild gerichtet war.
»Untersuchen Sie die Katze, bitte, und behalten Sie sie da. Ich werde Sie anrufen und dann besprechen wir, wie es weitergehen soll. Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde alles bezahlen.«
Ihr Blick wandte sich wieder dem Namen der Mutter zu, als helfe er ihr beim Formen ihrer Gedanken. Dann sagte sie langsam, fast bedächtig: »Wissen Sie, manchmal könnte ich sie umbringen!«
Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und stieg langsam die Treppe hinauf. Alexa suchte noch einmal mit dem Blick das Namensschild der alten Mutter. Es war aus Messing, oval geformt. »Antonia Erkens« stand dort in geschwungener Schrift. Der Name der Tochter fehlte.