20

Leos Vorschläge zur Ausspionierung der »Motivträger«, wie er sie nannte, waren ziemlich behämmert, aber mir war selbst nichts Besseres eingefallen, und so war ich machtlos. Zu den Motivträgern gehörten natürlich Erkens und Sondermann sowie Feldhausen. Als ich am Rande erwähnte, daß uns für Feldhausen ja noch gar kein Motiv bekannt sei, teilte Leo mich prompt ein, ein solches zu finden.

»Und wie?« fragte ich wie Watson an der Grenze seiner intellektuellen Fähigkeiten.

Holmes stöhnte. »Du mußt dir halt selbst mal Gedanken machen! Ich kann doch nicht alles übernehmen.« Nach dieser Bemerkung wagte ich nicht, weitere dumme Fragen zu stellen, und hoffte auf eine gnädige Eingebung oder darauf, daß Holmes einfach vergessen würde, nach Ergebnissen zu fragen.

Für den nächsten Morgen hatte ich sowieso Wichtigeres geplant und konnte so meinen Auftrag vorerst verdrängen. Alexa hatte einen freien Vormittag, und wir hatten uns zum Badminton verabredet. Nicht, daß ich diese Sportart beherrscht hätte, aber als Alexa mich danach gefragt hatte, hatte ich nicht zugeben wollen, daß ich kaum Erfahrungen aufweisen konnte. Einmal hatte ich mein Glück mit Robert versucht, aber da wir beide die Regeln nicht richtig kannten, hatten wir uns auf ein lockeres Übers-Netz-Ballern beschränkt und uns dabei gut unterhalten. Ich stand deshalb an diesem Morgen früh auf und las in meinem Sportlexikon die Kurzfassung der Badmintonregeln durch, um nicht ganz blöd dazustehen. Ganz frühzeitig machte ich mich auf den Weg zur Halle, die Alexa ausgesucht hatte (jedes Zuspätkommen wäre das Ende unserer zarten Kennenlernversuche gewesen) und lieh mir dort einen Schläger. Während ich mich umzog, ärgerte ich mich, daß ich kein Geld in einen neuen Sportanzug investiert hatte. Die kurze Hose war einfach zu eng geworden. Der erste Versuch, sie anzuziehen, endete jäh über den Knien. Ich verfluchte einmal mehr mein Hinterteil und packte die Hose schamvoll wieder ein. Meine Jogginghose, die ich zum Waldlauf trug, ließ sich zwar locker anziehen, endete aber zu meinem Entsetzen in der Mitte meiner Waden. Sie sah aus, als hätte ich sie zur Erstkommunion geschenkt bekommen. Für meine Sprints mit Leo mochte sie es ja noch tun, aber für mein Treffen mit Alexa hätte ich mir schon etwas Besseres gewünscht.

Ich verfluchte meine Waschmaschine, wie ich zuvor meinen Allerwertesten verflucht hatte. Was sollte ich tun? Ich mußte mich mit meiner Knickerbocker-Jogginghose begnügen. Als ich mich auf den Weg zum Court machte, begegnete ich prompt zwei Sportlern, die mit ihrem perfekten Outfit auf mich abstoßend wirkten. Wie konnte man einen solch makellosen Körper besitzen, noch dazu als Mann? Und wenn schon, warum wirkten diese Kerle dann nicht wie zwei hirnlose Muskelprotze, sondern wie Typen, mit denen man wahrscheinlich sogar ein Gespräch führen konnte? Ich ignorierte ihre lässigen Sportklamotten, die zu den gebräunten Beinen einfach grandios wirkten, und marschierte aufs Spielfeld. Alexa war immer noch nicht da, obwohl unsere Spielzeit in zwei Minuten begann. Ich machte ein paar Aufwärmübungen, bis sie plötzlich mit wehenden Haaren in die Halle gerannt kam. Ihre Sportsachen hatte sie schon an, im Laufen zog sie ihre Jacke aus, band sich ein Gummi in die Haare und pfefferte ihre Sporttasche auf die Bank am Rande des Feldes. »Es kann losgehen«, rief sie außer Atem und positionierte sich in der Mitte ihrer Hälfte. Ich schaute auf die Uhr an der Hallenwand. Die Genugtuung wollte ich mir nicht nehmen lassen. Ich zeigte stumm nach oben.

»Drei Minuten!« sagte ich grinsend.

»O.K., wir sind quitt, aber jetzt mach endlich.« Der Schwung, mit dem meine Spielpartnerin aufs Feld gelaufen war, setzte sich im Match fort. Nachdem sie mir dreimal den Ball um die Ohren geschlagen hatte und ich lässig ein »Spielen wir uns mal langsam ein!« gerufen hatte, ging es erst richtig los. Alexa war mir haushoch überlegen. Im blinden Bemühen, wenigstens den einen oder anderen Ball zurückzuspielen, wurde ich so hampelig, daß ich nicht mal mehr bei der Angabe den Ball übers Netz brachte.

»Ich bin wohl heute nicht so gut in Form!«, versuchte ich das Problem nun verbal anzugehen und gleichzeitig eine Verschnaufpause herauszuschinden.

»Mhm.« Alexa war unerbittlich und setzte mir bei dieser Antwort einen Stoppball knapp hinters Netz. Zwischenzeitlich fragte ich mich, ob es lächerlich wirkte, daß ich trotz meiner haushohen Unterlegenheit jedem noch so aussichtslosen Ball hinterherrannte. Ich hoffte jedoch, daß ich ihr wenigstens durch meinen Ehrgeiz, wenn schon nicht durch meine Sportlichkeit, imponierte. Das Ganze wurde zu einem schrecklichen Desaster. Ich strengte mich an wie ein balzender Truthahn und mußte doch wirken wie jemand, der im Sportunterricht immer als letzter in die Völkerballmannschaft gewählt wurde. Nach einer Dreiviertelstunde war ich mit Nerven und Kräften am Ende.

»Sollen wir jetzt mal zählen?« Alexas Frage traf mich wie ein Hammer. Ich sank in die Knie.

»Bitte, ich flehe dich an! Verschone mich! Raube mir nicht auch noch mein letztes Quentchen Selbstwertgefühl!«

Alexa lachte laut und kam ans Netz. »Warum hast du denn nicht gleich gesagt, daß du gar nicht spielen kannst?«

»Weil ich kein Versager sein wollte. Weil ich ein sportlicher Held sein möchte. Und weil ich-«

-weil ich dich wiedersehen wollte. Zum Glück hatte ich es nicht ausgesprochen. Wahrscheinlich hätte mich Alexa als echte Sauerländerin gefragt, warum. Sie lachte.

»Sollen wir Schluß machen für heute?« Ich war glücklich. So konnte ich das Debakel beenden, ohne am Ende von Sanitätern vom Platz getragen zu werden. Wir setzten uns auf die Bank und plauderten ein bißchen.

»Was macht die Schule?«

»Der Countdown läuft. Noch fünf Tage bis zum Schulbeginn, aber ich habe bei weitem noch nicht alles geschafft, was ich an Vorbereitung machen wollte. Ein bißchen habe ich auch noch an meiner neuen Wohnung zu tun – Lampen aufhängen und so. Hast du nicht mal Lust, mich zu besuchen? Kochen kann ich besser als Badminton spielen.« Ich lud Alexa für den kommenden Abend ein und fragte auch, ob sie jetzt noch Zeit für ein gemeinsames Mittagessen habe.

»Tut mir leid, ich bin schon verabredet. Aber wir sehen uns ja dann morgen.« Wir gingen zum Duschen, getrennt natürlich, und sahen uns nachher im Eingangsbereich. Als wir uns verabschiedeten, roch ich ihre Haare. Sie dufteten nach Bäumen, so meinte ich jedenfalls.

»Bis morgen dann und nicht traurig sein wegen der leichten sportlichen Defizite!«

»Danke, danke.« Alexa verschwand nach draußen, und ich nahm das Kribbeln im Bauch deutlich wahr, das ich gespürt hatte, seitdem Alexa die Sporthalle betreten hatte. Morgen würden wir uns wiedersehen. Mein Herz hüpfte und ging mit dem Kribbeln ein harmonisches Duett ein. Ich öffnete die Tür nach draußen. Im selben Moment fuhr ein blauer Wagen mit offenem Verdeck an mir vorbei. Ich traute meinen Augen nicht. Auf dem Beifahrersitz saß Alexa und neben ihr der Typ aus dem Q. Warum all die Gedanken über eine neue Beziehung? Alexa schien glücklich liiert. Wahrscheinlich traf sie sich nur zur Abwechslung mal mit dem ein- oder anderen netten Bekannten, um sich von ihm bekochen zu lassen oder ihn im Badminton zu demütigen. Wutentbrannt marschierte ich zu meinem Auto und beschloß, auch in Zukunft ein glückliches Singledasein zu führen.

Zu Hause angekommen, entschied ich, daß ich mich mit dem Fall von Feldhausen befassen wollte, um mich von der Enttäuschung abzulenken. Ich grübelte, wie ich mit dem feinen Aristokraten ins Gespräch kommen könnte. Alle Möglichkeiten schienen mir arg gekünstelt, doch plötzlich fiel mir Regine Langensiep ein. Sie mußte doch wissen, warum ihr Mann bei von Feldhausen gewesen war. Ja, sie mußte es natürlich auch der Polizei mitgeteilt haben. Die hätte dann aber bei Feldhausen nachbohren müssen. Das hieße also: entweder wußte die Frau des Verstorbenen nichts von dem Treffen oder sie hatte ebenfalls Grund, es zu verschweigen. Die Sache machte mich neugierig, und ich suchte nach einem Vorwand, nochmal bei ihr aufzukreuzen. Ich würde einfach sagen, ich suchte noch nach einem bestimmten Manuskript für den Unterricht. Das würde sie mir schon abnehmen. Anstatt vorher anzurufen, startete ich einen Überraschungsangriff und fuhr unangemeldet zu ihr nach Hause.

Die Frühlingssonne schien ziemlich stark und machte mich zusammen mit der verschmutzten Windschutzscheibe beinahe blind. Das schöne Wetter hatte die Leute nach draußen gelockt. Überall arbeiteten Menschen im Garten, fegten die Straße oder gingen einfach nur spazieren. Die Sonnenstrahlen hatten wohl auch Regine Langensiep verführt. Sie hockte im Vorgarten und hob Erde aus, neben sich einen Strauch, dessen Wurzeln noch in Papier eingewickelt waren. Sie bemerkte mich nicht auf Anhieb, und ich hatte Gelegenheit, sie zu beobachten. Sie wirkte ernst, ja angespannt, als wolle sie die Erde bezwingen, die sie mit ihrem Spaten aushob. Ich sprach sie über das Mäuerchen hinweg an, das den Vorgarten vom Bürgersteig trennte.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?« Regine schaute nach oben und sah im ersten Augenblick verstört aus. Dann löste sich ihr Gesicht

»Ach, Sie sind es! Ich möchte diesen Busch einpflanzen, den ich eben in der Baumschule gekauft habe. Ich hätte nie gedacht, daß Mutterboden so hart und schwer sein kann.«

Ich kletterte über das Mäuerchen. »Darf ich?«

»Bitte!« Regine reichte mir den Spaten. Der Boden war tatsächlich noch ziemlich hart und außerdem nicht im besten Zustand. Regine Langensiep war sicher nicht die Frau, die ihr Gärtchen alle paar Tage jätete und harkte. Als das Loch groß genug war, rann mir der Schweiß von der Stirn. Ich versenkte die Wurzel in der Erde und füllte dann zusammen mit Regine Torf nach. Als sich unsere Hände dabei flüchtig berührten, schaute ich sie an.

»Entschuldigung!« Sie färbte sich purpurrot.

»Macht doch nichts!« Ich versuchte die Situation zu überspielen. »Was hat Sie denn in den Garten gerufen?

Wollen Sie dem Frühling ein Geschenk bereiten?« Meine Frage hätte nicht blöder sein können, aber Regine Langensiep war zu nett, sich das anmerken zu lassen.

»Ja, das kann man so sehen. Außerdem möchte ich das Küchenfenster zuwachsen lassen. Es stört mich, daß Hinz und Kunz zusehen können, wie ich meinen Kaffee koche.«

»Das kann ich verstehen.«

»Apropos. Soll ich uns einen Kaffee machen?«

»Gern. Ich bin sowieso nicht zufällig vorbeigekommen. Ich bin auf der Suche nach einem von Schülern verfaßten Manuskript eines Theaterstücks, das in meinem Elferkurs gespielt werden soll. Ein Schüler sagte mir, er habe die Endfassung Ihrem Mann gegeben, und die hätte ich ganz gerne – selbstverständlich nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Nein, nein, natürlich nicht. Im Arbeitszimmer herrscht immer noch dasselbe Chaos wie bei Ihrem letzten Besuch. Nehmen Sie sich nur, was Sie benötigen! Am besten gehen Sie gleich hin, und ich mache indes Kaffee.« Ich verschwand im Arbeitszimmer und setzte mich an den Schreibtisch, ohne zu wissen, was ich jetzt tun sollte. Die Sachen hatte ich schließlich schon durchgeguckt, und ich hatte keine große Hoffnung, bei einem zweiten Durchgang doch noch etwas Wichtiges zu entdecken. Mein Blick fiel erneut auf das Foto von Regine und Bruno Langensiep. Warum sie wohl keine Kinder hatten? Wollten sie nicht oder hatte es nicht geklappt? War Regine ein Karrieremensch? Hatte sie zugunsten ihres Jobs auf Nachwuchs verzichtet? Nachdem ich das Bild erneut studiert hatte, fiel mein Blick auf den Bilderrahmen, in dem die Aufnahme steckte. Ich hatte ihn für einen kitschigen Goldverschnitt gehalten. Als ich den Rahmen allerdings umdrehte, war eine kleine Gravur auf der Rückseite erkennbar: 585. Das Gewicht paßte dazu. Ich pfiff durch die Zähne. Ein goldener Rahmen in dieser Größe war sicherlich kein Flohmarktschnäppchen. Auf der Vorderseite entdeckte ich nun in dem verschnörkelten Blätterwerk, das den Rahmen verzierte, eine weitere Gravur in der rechten unteren Ecke. FuF stand in geschwungenen Lettern dort. »F und F« kam mir direkt in den Sinn. Vielleicht eine neckische Liebeserklärung? Vielleicht gehörte das u aber auch zum F. Ich überlegte, aber mir fiel kein Vorname ein, der mit Fu begann. Ich mußte mal Regine danach fragen. Ich schaute mir jetzt die übrigen Ziergegenstände im Raum an. Es interessierte mich, mit wie viel Geld mein verstorbener Gastgeber gesegnet gewesen war. Vielleicht lauerte ja doch noch irgendwo ein habgieriger, erbfreudiger Neffe – oder vielleicht sogar ein geheimnisvoller, weil unehelicher Sohn? Die Utensilien im Zimmer waren zwar stilvoll, aber nicht so kostbar wie der Bilderrahmen. Meine Aufmerksamkeit wurde erst wieder durch ein echt silbernes Tablett erregt, auf dem ein paar ausgeschnittene Briefmarken verstreut lagen. Das Tablett war unendlich schwer und daher für seinen eigentlichen Zweck völlig unbrauchbar. Interessanterweise waren auch hier die Initialen FuF eingraviert.

»Haben Sie gefunden, was Sie suchten?« Mein Herz rutschte wieder einmal quer an allen spürbaren Organen vorbei. Konnte diese Frau nicht ein einziges Mal mit einer normal menschlichen Lautstärke ein Zimmer betreten? Warum mußte sie immer umherschleichen wie eine Katze? Warum mußte ich auch immer so trottelig herumspionieren, als sei ich auf der Suche nach dem rosaroten Panther?

»Ich kann das Manuskript leider überhaupt nicht finden«, jammerte ich, »vor lauter Verzweiflung suche ich schon hier auf dem Seitenregal.«

»Ich glaube, in diesem Bereich sind überhaupt keine Schulsachen zu finden«, belehrte mich Regine. Sie klopfte auf das Regal. »Hier verwahrte mein Mann ausschließlich private Sachen – Fotoalben, alte Theaterprogrammhefte und so was.«

»War Ihr Mann ein Briefmarkensammler?« Ich zeigte auf das Tablett.

»Nein, gar nicht. Wir haben nur für den Nachbarjungen gesammelt. Er holte sich alle paar Wochen ab, was wir für ihn ausgeschnitten hatten.«

»Darf ich Sie noch was fragen?«

»Bitte! Ob ich antworte, kann ich mir ja dann immer noch überlegen.«

»Beginnt Ihr Mädchenname mit F?«

Regine schaute mich verdutzt an. »Mein Mädchenname? Wie kommen Sie darauf?« Sie stotterte herum »Ich bin eine geborene Seidenbach.«

»Ich bin nur auf die Idee gekommen, weil die Initialen FuF an mehreren sehr schönen Gegenständen zu finden sind: hier auf dem Tablett und dort auf dem Bilderrahmen.«

»Die Sachen gehören meinem Mann.« Regine Langensieps Stimme klang plötzlich sehr hart. »Ich schätze, er hat sie bei einem Antiquitätenhändler gekauft. Vielleicht sind Sie aus einem Haushalt, der als Ganzes aufgelöst wurde.«

»Ja, das ist gut möglich.« Ich wollte nicht weiter auf der Sache herumreiten. Sie schien Regine emotional anzurühren. Sie war plötzlich kühl und unnahbar, noch unnahbarer als sie ohnehin schon wirkte. Vielleicht hatte ihr Mann die Sachen ohne ihr Mitwissen gekauft, und sie hatte sich über die unnötigen Ausgaben geärgert. So etwas sollte ja in den besten Ehen vorkommen.

»Was das Manuskript angeht«, versuchte ich mich mit einem anderen Thema, »muß ich die Hoffnung wohl aufgeben. Ich weiß zwar nicht, wie ich ohne den Text weiter vorgehen soll- Na, vielleicht müssen wir das Projekt einfach sterben lassen.« Die Doppeldeutigkeit dieses Satzes wurde mir einen Moment zu spät bewußt.

Regine räusperte sich. »Gehen wir doch jetzt unseren Kaffee trinken.« Regine versuchte, aufmunternd zu klingen. Wir verließen das Zimmer und nahmen unseren Platz wieder im Eßzimmer vor dem hohen Fenster mit Blick auf den Garten ein. Regine hatte unsere Kaffeetassen schon hingestellt.

»Wie gefällt Ihnen denn eigentlich die Schule, an der Sie jetzt arbeiten?«

»Die Arbeit mit den Schülern hat ja noch gar nicht richtig begonnen. Was die Kollegen angeht, so habe ich schon viele nette kennengelernt, allerdings auch einige eher skurrile Gestalten.« Ich hüstelte. »Aber das wäre mir sicherlich an jeder Schule so gegangen, oder meinen Sie nicht?«

»Ja, das glaube ich auch.«

»Mit welchen Kollegen war denn Ihr Mann befreundet?« Ich sah plötzlich die Möglichkeit zu einer geschickten Überleitung.

»Um ganz ehrlich zu sein: Mein Mann war ein ziemlicher Einzelgänger. Er arbeitete so vor sich hin und war mit keinem der Kollegen wirklich befreundet. Natürlich traf man sich schon mal bei offiziellen Gelegenheiten – beim Schulball zum Beispiel. Aber ich kann mich kaum erinnern, daß einer von ihnen ganz privat bei uns gewesen wäre.« Kein Wunder. Langensiep war ja in der ganzen Schule als Ekel verschrien.

»Vielleicht ist es gar nicht schlecht, seinen Bekanntenkreis außerhalb des Arbeitsplatzes zu haben.«, sagte ich diplomatisch. »So gerät man nicht in Gefahr, immer nur mit Schulangelegenheiten konfrontiert zu sein. Man kommt einfach häufiger auf andere Gedanken und kann besser abschalten.« Regines Gesichtsausdruck war zu entnehmen, daß der Bekanntenkreis ihres Mannes auch außerhalb der Schule nicht gerade gigantische Größen erreicht hatte, doch sie antwortete nicht.

»Allerdings wundert es mich doch, daß Ihr Mann nicht mit Dr. von Feldhausen, seinem Spanisch und Französisch-Kollegen, befreundet war.« Ich hatte Regine bei dieser Bemerkung ganz bewußt beobachtet. Die Reaktion war unverkennbar. Ein Flackern ging durch ihre Augen, das sie nicht direkt unter Kontrolle bekam.

»Wieso sagen Sie das?«

»Irritiert Sie das?« Ich gab mich erstaunt. »Als ich vom Unfall Ihres Mannes erfuhr, erzählte man mir, er sei noch am Samstag abend vor seinem Tod bei seinem Kollegen von Feldhausen gewesen. Ich nahm daher an, die beiden seien gute Freunde.«

»Wie bitte?« Regine Langensieps Reaktion erstaunte mich, aber sie erschien mir echt. »Davon habe ich gar nichts gewußt. Weiß die Polizei denn davon?«

»Ich nehme es an. Wenn das gesamte Kollegium Bescheid weiß, werden die ja wohl auch einen Schimmer haben.« Regine sank in sich zusammen und starrte auf ihre Hände.

»Warum sind Sie so erstaunt? Sind die beiden denn nicht miteinander bekannt gewesen?«

»Das ist es ja.« In Regines Stimme klang zum ersten Mal hilflose Verzweiflung. »Die beiden haben sich in letzter Zeit häufiger gesehen, oder besser: Bruno ist gelegentlich zu ihm hingefahren, aber er hat mir nie sagen wollen, worum es ging. Wirklich befreundet waren sie jedenfalls nicht. Ganz im Gegenteil! Bruno fand den Feldhausen immer schon sehr arrogant.«

»Vielleicht hatten sie schulisch mehr miteinander zu tun, als Sie dachten?«

»Nein, das hatten sie nicht.« Regines Stimme war jetzt von Tränen erstickt. »Verstehen Sie denn nicht? Da stimmte etwas nicht. Bruno fuhr immer nur abends zu Feldhausen. Er blieb nicht lange, aber er war jedesmal ganz verändert anschließend. Ich habe ihn immer wieder gefragt, was, denn los sei, aber er hat sich nur in Andeutungen ausgedrückt. Er habe sein persönliches Ziel bald erreicht und solche Sachen.« Der Damm war gebrochen, Regine Langensiep brach in Tränen aus. Sie hielt sich die Hände vor das Gesicht und schluchzte wie ein Kind. Ich hockte mich vor ihren Stuhl und hielt ihre Schultern fest. Als ich merkte, daß ihr das nicht unangenehm war, legte ich meinen Arm um sie und hielt sie ganz still. Es dauerte einige Minuten, bis sie sich einigermaßen wieder in der Gewalt hatte. Ich konnte jetzt nicht aufhören. Ich mußte einfach mehr wissen.

»Glauben Sie, die beiden haben – nun ja, wie soll ich sagen, haben sie etwas zu verbergen gehabt?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht! Bruno war mir auf einmal so fremd. Er antwortete mir nicht auf meine Fragen. Die kostbaren Gegenstände, die Sie in seinem Zimmer gefunden haben, hat er von einem Besuch bei von Feldhausen mitgebracht. Ich dachte zuerst wirklich, die beiden seien irgendwo eingebrochen. Aber Bruno sagte nur, sie seien ein Geschenk. Ein Geschenk, ja, so drückte er sich aus.« Regine zitterte am ganzen Körper. Ich wußte, daß sie Ruhe brauchte. Seit dem Tod ihres Mannes hatte sie genug mitgemacht, und wahrscheinlich auch schon vorher. Nur eine Frage, eine Frage mußte ich noch stellen.

»Glauben Sie, daß Ihr Mann einen Unfall hatte? Regine, glauben Sie, daß es ein Unfall war? Oder war es«, ich schluckte, »war es Mord?«

Regine starrte mich an. Durch ihre tränenüberfluteten Augen und ihr verschmiertes Gesicht starrte sie mich an. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß gar nichts!«