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Nachdem Alexa endlich einen Parkplatz gefunden hatte, warf sie noch einen kurzen Blick in den Spiegel. Sie sah ungefähr so aus wie der Pudel, den sie gerade behandelt hatte, und hätte am liebsten vor Verzweiflung gebellt. Sie versuchte, noch ein paar Haarsträhnen zu ordnen, aber es war vergebens. Fluchend stieß sie die Autotür auf und machte sich auf den Weg zum Q. Natürlich war sie wieder zu spät dran. Aber was konnte sie dafür, wenn ein magenempfindlicher Pudel nach der offiziellen Sprechstunde noch einen Durchfallschub bekam, der die Besitzerin zu wahren Hysterieanfällen veranlaßt hatte? Manchmal fragte Alexa sich, ob in vielen Fällen nicht eher die Tierbesitzer eine Therapie brauchten als ihre vier- und zweibeinigen Lieblinge.
Als sie die Eingangstür öffnete, dachte sie immer noch über die passenden Entschuldigungsworte nach. Hendrik saß direkt am Eingang. Er grinste sie an.
»Laß mich raten!«, kam er ihr zuvor. »Eine Kuh hat den Melkschlauch verschluckt? Oder eine Stute hat überraschend Zwillinge geboren und ihr fiel kein zweiter Name ein.«
»Haha!«, brummte Alexa, ließ alle Entschuldigungsfloskeln fallen und plumpste auf einen Stuhl. »Wie du siehst, habe ich drei Stunden vorm Schminkspiegel gestanden, um mich schön für dich zu machen.«
»Wenn das das Resultat für drei Stunden Mühe ist, solltest du dir zu Weihnachten einen neuen Kosmetikkoffer wünschen.« Alexa verpaßte ihrem Gegenüber einen Tritt vors Schienenbein und versuchte gleichzeitig, Lutz’ Aufmerksamkeit zu erhaschen.
»Ein Baguette Toulouse – nein, lieber zwei – und eine Cola!«, rief sie ihm zu. Hendrik, der nur ein Glas Wein vor sich stehen hatte, konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen.
»Na, ißt du heute wieder für deinen Hund mit?« Sie verdrehte die Augen und unterbrach die stilvolle Konversation, um zu sehen, ob Bekannte da waren. Es war noch ziemlich leer um diese Uhrzeit. An der Theke standen zwei Männer und eine Frau, die sie vom TaT, der lokalen Theatertruppe, her kannte. An den Nachbartischen saßen keine bekannten Gesichter. Nur am hintersten Tisch in der Ecke entdeckte Alexa Peter Wüstenberg, den Zweiten Vorsitzenden des Reitervereins. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte er ihr verschmitzt zu. Alexa hätte sich am liebsten innerlich übergeben und guckte schnell weg.
»Na, hast du einen alternativen Gesprächspartner gefunden?« unterbrach Hendrik ihren Rundblick.
»Leider nicht«, seufzte sie, »da muß ich wohl weiterhin mit dir vorlieb nehmen.«
»Ich bin gerührt, wo ich mich doch schon die ganze Woche auf den neuesten Klatsch aus der heimischen Tierwelt gefreut habe. Erzähl, was macht das liebe Vieh?« Wenngleich Hendrik sich nicht gerade für Kuhmägen interessierte, war er ein geduldiger Zuhörer, und Alexa nutzte die Gelegenheit, um den angestauten Frust der gesamten letzten Woche abzuladen. Als sie bei ihrem Streit mit Frau Dr. Junker angelangt war, hatte sich die Kneipe schon gut gefüllt.
»Es ist ein Unding«, wetterte Alexa, »nur wegen ihrer Sturheit muß ich jeden zweiten Tag Bereitschaftsdienst machen. Hasenkötter selbst ist total begeistert von der Idee, die Bereitschaftsdienste der Tierarztpraxen zusammenzulegen. Schließlich ist er ja auch froh, wenn er etwas mehr Zeit für seine Kinder hat. Dr. Reisloh hat nach einigem Zögern auch zugestimmt, nur diese blöde Junker hat Angst, daß ihre Kunden beim Bereitschaftsdienst merken, daß die Konkurrenz besser ist. Es ist zum Heulen. Wenn wir uns zusammentäten, wären wir sechs Ärzte mit voller Stelle und brauchten nur alle sechs Tage Dienst zu machen. Aber so? Das ist doch kein Leben.« In ihrer Erregung hatte Alexa gar nicht gemerkt, daß ihr Glas leer war. Sie schluckte Luft, als sie trinken wollte, und wandte sich um zur Theke, doch Lutz sprach gerade mit jemandem, den sie nicht kannte. Sie wartete einen Moment, aber Lutz schaute nicht hoch.
»Warum machen dieser Reisloh und dein Hasenkötter die Sache dann nicht alleine?« fragte Hendrik, »Das wäre immerhin schon mal etwas an Erleichterung.« Alexa antwortete nicht, sondern wartete weiterhin, daß Lutz sie wahrnahm. Endlich lachte er und guckte hoch – blitzschnell winkte sie ihm zu. Sein Gesprächspartner an der Theke schaute ebenfalls herüber. Er hatte dunkelblonde Haare, sehr kurz geschnitten. Sein Gesicht war offen und hatte etwas Jungenhaftes an sich. Er trug eine beige Jeans und einen anthrazitfarbenen Pullover, unter dem ein weinrotes T-Shirt hervorlugte. Da er Alexa unverwandt anschaute, fragte sie sich, ob sie ihn nicht vielleicht doch kannte. Einen Moment später ging an der Theke die Klingel, und Alexas Baguettes wurden durch die Durchreiche geschoben. Lutz brachte sie zusammen mit ihrer Cola an den Tisch. Auch er grinste angesichts ihrer Portion.
»Na, dann hau mal rein!«, sagte er und verschwand wieder hinter der Theke.
»Was hattest du nochmal gefragt?« wandte Alexa sich wieder an Hendrik.
»Warum ihr euch nicht wenigstens mit der Praxis von Reisloh zusammentut.«
»Reisloh macht nur mit, wenn Junker auch ihr Ja-Wort gibt. Er möchte nicht weniger Service bieten als sie. Es ist so paradox«, fuhr Alexa aufgeregt fort, »bei Apothekern und normalen Medizinern ist es selbstverständlich, daß ein zentraler Notdienst eingerichtet wird. Nur die Tierärzte machen sich das Leben selber schwer. Aber jetzt erzähl du erstmal von dir, sonst werden meine Baguettes kalt.« Hendrik hatte vor zwei Jahren in einem stillgelegten Bahnhofsgebäude eine Galerie eröffnet. Zur Zeit bereitete er eine Ausstellung mit zwei Künstlern aus Norddeutschland vor. Er berichtete vom Stand der Dinge, und Alexa konnte in Ruhe ihre Baguettes verspeisen. Hendrik erzählte ausführlich von seiner Ausstellung, bis Alexa langsam die Augen zufielen.
»Tut mir leid, Hendrik, aber ich muß ins Bett!«, sagte sie, wohlwissend, wie ihr Gegenüber darauf reagieren würde. Hendrik schaute theatralisch auf die Uhr.
»Oh, etwa schon zehn Uhr?«
»Hör auf! Ich bin schon seit halb sechs auf den Beinen. Ich melde mich in den nächsten Tagen bei dir!« Sie umarmte Hendrik kurz zum Abschied und ging dann zur Theke. Der blonde Typ war immer noch da und unterhielt sich nun mit den Leuten vom TaT. Während sie bei Lutz bezahlte, schaute er sie mit seinen großen braunen Augen an, und sie fragte sich erneut, ob sie ihn schon mal gesehen hatte. Aber das konnte eigentlich nicht sein, dachte Alexa beim Hinausgehen. Dieser Typ sah ziemlich attraktiv aus. Und für attraktive Männer hatte sie nun einmal ein Gedächtnis. Damit konnte man schließlich nicht die Straße pflastern. Jedenfalls nicht in dieser Stadt.