26
Genauso hatte er sich Dr. Ignaz von Feldhausen vorgestellt. Dünne, fein geschnittene Haare und ein tadelloses Gesicht, das immer gut gepflegt worden war. Er trug ein seidenes Halstuch, das er sich lässig in den Ausschnitt seines weißen Hemdes gesteckt hatte. Die beigefarbene Cordhose vollendete das Bild des intellektuellen Landedelmannes, das von Feldhausen mit seinem Äußeren zu verkörpern versuchte.
»Kann ich etwas für Sie tun?« Feldhausens Stimme klang freundlich, aber distanziert.
»Das können Sie allerdings. Darf ich mich vorstellen? Rüdiger Langensiep.« Von Feldhausen fuhr ein Schrecken durch Gesicht und Glieder, den er nicht verstecken konnte.
»Darf ich reinkommen?« Feldhausen überlegte einen Augenblick.
»Bitte.« Er führte Robert durch die mit Waidstücken behängte Diele in sein Arbeitszimmer. Feldhausen bot seinem Gast einen Platz auf dem Ledersofa an, aber Robert hielt es für besser, das Gespräch im Stehen zu führen. Als er wie selbstverständlich auf das Fenster zutrat, um einen Blick nach draußen zu werfen, eröffnete von Feldhausen die Partie. Offensichtlich hatte er den Schreck fürs erste verwunden und spielte den souveränen, aber unwissenden Gastgeber.
»Ich vermute, Sie sind ein Verwandter meines verstorbenen Kollegen Langensiep.«
»Sein Cousin, um genau zu sein. Und außerdem sein engster Vertrauter!« Robert ging die Sache langsam an.
»Es tut mir leid, was Ihrem Cousin widerfahren ist. Ich kann nur für mich sprechen, aber ich denke, das gesamte Kollegium war tief betroffen über seinen tragischen Unfall.«
Robert schwieg. Sollte Feldhausen erstmal aus seinem Loch kommen.
»Darf ich fragen, ob Sie mich in dieser Sache aufgesucht haben?«
»In welcher Sache ich Sie aufsuche, dürfte Ihnen klar sein.« Robert versuchte, in seine Stimme soviel Abgeklärtheit und Coolness zu legen, wie irgend möglich war. Zusätzlich spielte er lässig mit einem silbernen Feuerzeug, das auf der Fensterbank gelegen hatte. »Ich habe mit meinem Cousin am Abend vor seinem Tod ein sehr interessantes Telefongespräch geführt. Vielleicht erinnern Sie sich an den Abend? Bruno war kurz vorher bei Ihnen gewesen.« Feldhausens Gesicht versteinerte bei diesen Worten. Robert machte wieder eine Pause, um von Feldhausen zappeln zu lassen und um gleichzeitig die Gedanken in seinem eigenen Kopf zu sortieren, die wie wild umherflogen.
»Was wollen Sie von mir?« Feldhausens Gesichtszüge hatten inzwischen eine unnatürliche Spannung angenommen.
»Was ich will? Ganz einfach: Das, was jeder will: Geld! Ich weiß genauso viel wie mein Cousin. Deshalb habe ich doch genau wie er eine Belohnung verdient, oder etwa nicht?« Von Feldhausen ging zum Schrank und goß sich einen Drink ein. Er wandte sich beim Sprechen nicht um, und Robert überlegte, ob er wohl einen Revolver zwischen seinen Flaschen aufbewahrte. Feldhausens Stimme klang verhalten.
»Bruno Langensiep ist tot, und mit Ihnen habe ich nichts zu tun.«
»Sie können aber sehr viel mit mir zu tun bekommen! Das wissen Sie so gut wie ich. In einem Nest wie diesem hier sind Sie morgen dran, wenn mir heute noch das eine oder andere Geheimnis über das Gut Feldhausen entschlüpft.« Robert betete, daß er nichts Falsches gesagt hatte. Es war unwägbar, wie weit er sich mit seinen Provokationen wagen durfte. Feldhausen drehte sich um. Sein Gesicht war blaß. Was Robert als erstes feststellte, war, daß er keine Pistole in seinen zittrigen Händen hielt.
»Sie sind Ihrem Cousin verdammt ähnlich«, brachte Feldhausen mit einer heiseren Stimme heraus. »Sie sind ein genauso fieser, ekelhafter Typ wie er. Wahrscheinlich sind Sie auch ebenso unfähig wie er.« Feldhausen lachte höhnisch. »Na, haben Sie ein kleines selbst gemaltes Kunstwerk mitgebracht, für das Sie dringend einen Käufer suchen?« Robert versuchte, nicht zu überrascht auszusehen, und schwieg eisern. »Wer es nötig hat, einen Verleger für sein Buch nur durch Erpressung zu gewinnen, der sollte sich in einem dunklen Loch verkriechen und nicht wieder hervortreten.« Von Feldhausen kam jetzt richtig in Fahrt. Kein Wunder! Er hatte sich gleich noch einen Drink eingegossen, den er jetzt in einem Zug herunterkippte. »Na, haben Sie das Meisterstück Ihres Cousins gelesen? Soll ich Ihnen sagen, wie es ist? Es ist lächerlich, schlechter als jeder Schüleraufsatz, den ich in den letzten Jahren in die Finger bekommen habe. Kein normaler Mensch würde auch nur eine Mark ausgeben, um es zu drucken. Daß mein Bruder, der seit Jahren kein Wort mehr mit mir spricht, sich darauf einlassen sollte, ist genauso töricht wie dieses lächerliche, stinkende Manuskript.« Feldhausens Augen waren glasig, weniger vom Alkohol als von der Aufregung. »Soll ich Ihnen sagen, was Ihr Cousin war?« Feldhausen kam nun auf Robert zu und starrte ihn mit seinen glasigen Augen an. »Ein Versager. Er war ein Versager in der Schule und er war ein Versager beim Schreiben. Wissen Sie eigentlich, was seine Schüler über ihn gedacht haben? Sie haben ihn ausgelacht, weil er so eine mickrige Kreatur war. Sie haben ihn ausgelacht, weil er sich im Unterricht nicht im mindesten durchsetzen konnte, weil er ihnen nicht das Geringste vermitteln konnte, weil er ein Mensch ohne Persönlichkeit war.«
Robert fühlte plötzlich, in was für einer verabscheuungswürdigen Situation er sich befand. Nicht nur, daß er unter einem Vorwand in die Privatsphäre eines anderen eindrang. Nein, jetzt wurde über einen verstorbenen Menschen in einer abstoßenden Weise geredet.
»Und was sind Sie?« Seine Emotionen machten Robert eine Reaktion leichter. »Sind Sie etwa kein Versager? Als was würden Sie sich bezeichnen? Als würdigen Nachfolger eines edlen Geschlechts? Daß ich nicht lache!« Robert spürte sofort, daß er von Feldhausen damit am Nerv gepackt hatte, und machte weiter. »Sie wissen selbst, was Sie sind. Ein verarmter alter Hund! Wann müssen Sie diesen Schuppen hier verkaufen? Morgen? Übermorgen?« Feldhausen war auf einem Sessel zusammengesunken. Er hatte die Hände vor die Augen gelegt.
»Sind das hier Ihre Eltern?« Robert hatte das Foto auf dem Seitenschrank entdeckt. »Na, die werden ja vielleicht stolz auf Sie sein! Oder haben Sie Ihre vielseitigen Begabungen etwa von ihnen geerbt?«
»Lassen Sie meine Eltern da raus! Mein Vater hat nicht gespielt. Ich habe damit angefangen.« Feldhausens Stimme war nur noch ein Wimmern. Robert atmete tief durch. Die Wahrheit war heraus. Mehr wollte er nicht hören.
»Es hat mit Pferderennen angefangen.« Von Feldhausen ließ sich jetzt nicht mehr stoppen. Er saß auf dem Sessel, nach vorne gebeugt und sprach durch seine gespreizten, weißen Hände, die er immer noch vor sein Gesicht hielt. »Mit harmlosen Pferderennen. Da kannte ich mich schließlich gut aus. Ich hatte am Anfang auch viel Glück.
Ehrlich!« Feldhausen weinte sich aus, als sähe er seinen Vater leibhaftig vor sich stehen. »Ich habe anfangs vorsichtig gespielt, nur zwei Wetten am Tag, keine hohen Summen. Dann hat es mich gepackt.« Feldhausen wischte sich mit seinen Händen die Tränen notdürftig weg. Robert konnte sein verweintes, rotes Gesicht sehen. Es war das Gesicht eines Kindes. »Ich ging immer öfter hin, ließ Termine ausfallen, um zur Rennbahn gehen zu können. Ich weiß, an einem Tag habe ich auf einen Schlag sechzigtausend Mark gewonnen. Allein wegen eines Außenseitertips bei den Trabern.« Feldhausen rieb sich die Hände an einem Taschentuch. »Die sechzigtausend habe ich am Tag drauf komplett verspielt. Leider ließ ich mich auf den Rennbahnen zu häufig sehen, ich wurde dort als Dauerspieler bekannt. Deshalb wechselte ich das Terrain. Ich begann mit Roulette und Black Jack. Ich wollte nur noch das auf den Rennplatz verlorene Geld zurückgewinnen und geriet in den Sog der Spielcasinos. Als ich es nicht schaffte, an Geld zu kommen, nahm ich die ersten Kredite auf. Ich gab bei der Bank vor, ich wolle das Haus renovieren. Dabei habe ich bis auf diesen Raum gar nichts verändert.« Von Feldhausen lehnte sich steif zurück. »Meine Möglichkeiten bei der Bank waren bald ausgeschöpft. Ich spielte weiter, jedes Wochenende und verschuldete mich tiefer und tiefer. Ich nahm Geld bei einem Kredithai auf, der mir jetzt auf der Pelle sitzt. Ich konnte nicht aufhören. In der Woche konnte ich es kaum erwarten, bis es endlich Freitag wurde und ich loskam. Natürlich habe ich nie in der Nähe gespielt. Ich bin weit gefahren, um bloß keine Bekannten zu treffen. Nur einmal bin ich zur Hohensyburg gefahren. Das war der Fehler. Wissen Sie, was es bedeutet, in solch einem Nest hier unten durch zu sein? Wenn Ihr Cousin geplaudert hätte, wären zwei Stunden später meine Geldgeber hier gewesen. Und glauben Sie nicht, daß die alle so gute Manieren haben wie die Herren von der städtischen Sparkasse!« Feldhausens wimmernder Tonfall bekam jetzt wieder eine erstaunliche Härte. »Ihr Cousin war ein Idiot.
Ich konnte ihn zunächst mit diesen Familienerbstücken abwimmeln. Doch er wurde immer besessener von der Idee, daß ich ihm zu einer Veröffentlichung verhelfen sollte. Er wollte mich benutzen.« Feldhausen war aufgestanden und blitzte Robert mit wutentbrannten Augen an. Aus dem weinenden Kind war plötzlich ein zorniger Mann geworden. Robert wäre am liebsten nach draußen gerannt, hätte alles hinter sich gelassen, die Erinnerung an diesen furchtbaren Besuch. Aber er war hier. Er wurde von Feldhausen haßerfüllt angestarrt, und jetzt mußte er einfach alles wissen, ob er wollte oder nicht.
»Und deshalb haben Sie ihn umgebracht?«
»Umgebracht?« Von Feldhausens Stimme klang sehr kalt. »Nein, ich habe ihn nicht umgebracht. Ich wäre dazu fähig gewesen, wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte. Aber ich habe es nicht getan.«
Feldhausen wandte sich um und ging langsam auf die Getränke zu. Robert nutzte die Gelegenheit und machte sich mit eiligen Schritten davon. Er verließ das Zimmer und er verließ das Haus. Dr. Ignaz von Feldhausen drehte sich nicht ein einziges Mal nach ihm um.
Als Robert aus dem Haus war, beschleunigte er seine Schritte noch. Nur weg hier, war sein einziger Gedanke, nur weg hier! Er sprang ins Auto und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Das Auto, das ihm an der Toreinfahrt entgegenkam, nahm er gar nicht wahr.
Alexa stieg eilig aus ihrem Fiat und schaute verdutzt hinter dem Auto her, das ihr entgegengekommen war. Sie schüttelte erstaunt den Kopf, nahm ihre Tasche vom Rücksitz und ging müde in Richtung Wohnhaus. Als sie geschellt hatte, dauerte es eine Weile, bis geöffnet wurde. Von Feldhausen stand vor ihr und sah deutlich angeschlagen aus.
»Frau Schnittler, ich habe gar nicht mehr mit Ihnen gerechnet.«
»Komme ich ungelegen?«
»Nein, gar nicht. Ich bin nur sehr erkältet. Allerdings sind Sie womöglich umsonst gekommen. Titus’ Augen sind so gut wie wieder in Ordnung. Ich habe ihm eine Augensalbe aufgetragen, die ich noch herumliegen hatte. Die hat auf Anhieb gewirkt.«
»Das freut mich. Aber soll ich nicht trotzdem nochmal nach ihm schauen?«
»Nein, es ist wirklich nicht nötig. Wenn die Entzündung wiederkommt, melde ich mich bei Ihnen. Ehrlich.« Von Feldhausen lächelte gequält. Sie kam also doch ungelegen.
»Wie Sie wollen!« Alexa machte sich langsam auf den Rückweg zum Auto. »Ihnen wünsche ich gute Besserung. Ach, und noch eins: War das gerade nicht Robert?«
Von Feldhausen schaute sie verständnislos an. Alexa verstaute die Tasche auf dem Rücksitz ihres Autos.
»Na, er ist doch gerade hier vom Hof gefahren.«
Feldhausen stotterte. »Robert? Robert? Woher, woher kennen Sie ihn?«
»Ich habe ihn gestern erst bei einem Bekannten kennengelernt. Um ehrlich zu sein, es war ein ziemlich feuchtfröhlicher Abend. Ich mach’ mich deshalb lieber auf den Weg nach Hause. Zum Ausschlafen.« Alexa wendete den Wagen und winkte fröhlich zum Haus herüber. Als sie jedoch Feldhausens Gesicht sah, gefror ihr das Blut in den Adern. Er sah aus, als habe er dem Tod in die Augen geblickt.