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»Sie ist mein Schicksal«, sagte ich noch, bevor ich am Schultor aus dem Taxi stieg. »Das hat es in meinem Leben noch nie gegeben. Hast du das gehört? Ich habe einen unheimlich scharfen, runden Puschelpopo. Die Frau ist mein Schicksal.« Max schüttelte nur den Kopf und fuhr ab.

Den Weg über den Parkplatz nahm ich im Dauerlauf. Die Schule sah völlig verändert aus, jetzt wo Hunderte von Schülern sich vor allen Eingängen, in Fluren und Klassenräumen aufhielten. Der Geräuschpegel, den diese Scharen verursachten, war enorm. Eilig bahnte ich mir einen Weg durch die Schülermassen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als das Lehrerzimmer aufzusuchen, da ich keinen blassen Schimmer hatte, wo in meiner ersten Stunde der Unterricht stattfinden würde. Immer gleich vier Stufen auf einmal nehmend hastete ich nach oben, lief über den Flur und warf die Tür zum Lehrerzimmer auf. Innen war es totenstill, mal abgesehen von der Stimme Schwester Wulfhildes, die gerade eine Rede hielt. Alle Augenpaare richteten sich auf mich, der ich, fast im Erdboden verschwindend, einen Schritt in den Raum machte.

»Und so hoffe ich, daß auch die kommende Unterrichtsperiode von der Harmonie geprägt sein wird, die in der Vergangenheit unser Lehrerkollegium beherrscht hat. Da sehe ich ja auch gerade unseren neuen Kollegen, Herrn Vincent Jakobs, hereinkommen, der von nun an Geschichte und Deutsch unterrichten wird. Herr Jakobs ist in Wallendorf am Niederrhein geboren, hat in Köln studiert und in Leverkusen seinen Referendardienst angetreten. Er wird hier zum ersten Mal eine Stelle als Lehrer wahrnehmen.«

Vergeblich versuchte ich, mein unrasiertes Kinn hinter meiner Hand zu verbergen.

»Ich hoffe, unser junger Kollege wird sich bald in unserem Kreise wohl fühlen. Und jetzt werde ich Sie nicht länger aufhalten«, Wulfhilde blickte wie zur Bestätigung auf ihre Uhr, »in zwei Minuten beginnt der Unterricht, meine Herrschaften.«

Es folgte ein kleiner Applaus und ein allgemeiner Rummel. Einige Kollegen verließen das Lehrerzimmer, andere unterhielten sich noch, während ich mich zum schwarzen Brett durchkämpfte, wo die Lehrerstundenpläne ausgehängt waren. ’10a,R242’, da hatte ich es endlich gefunden. Wenn ich jetzt noch wüßte, wo R242 war. Ich blickte mich verzweifelt um, bis ich endlich Leo auf mich zuschlendern sah.

»Hallo Vincent!« Er klopfte mir auf die Schulter und musterte mich dann. »Nichts für ungut, aber machst du gerade den Test, ob man dich trotzdem liebt?«

»Wieso?« fragte ich trotzig.

»Du stinkst wie verschimmelt und trotzdem in Damenparfum getaucht.«

»Herrgott, ich hab nur unter einer Hundedecke geschlafen.« Leo sah mich fragend an.

»Es gibt viel zu erzählen, aber jetzt reicht die Zeit nicht«, flüsterte ich ihm zu. »Sag mir erstmal, wo Raum 242 ist!«

»Komm mit, ich muß auf denselben Flur.« Ich folgte ihm dankbar. »Ich hab auch was zu erzählen«, murmelte Leo hinter vorgehaltener Hand, als wir gemeinsam die Treppe heruntergingen. »Weißt du, wo unsere liebe Kollegin Gisela Erkens in den Morgenstunden des 17. Januar war, am Todestag von Bruno Langensiep?«

»Woher soll ich das wissen? Bei mir war sie nicht.«

»Ich habe nochmal mit der Nachbarin gesprochen. Die Nachbarin hatte sich inzwischen selbst bei Frau Erkens erkundigt – ganz diskret, wie sie sagte.« Ich verdrehte die Augen. »Sie hat leider durchscheinen lassen, ihre Kollegen bemühten sich, etwas über ihre außerschulischen Aktivitäten zu erfahren. Auf jeden Fall hat Madame Erkens gestanden, an besagtem Sonntag früh morgens nach Düsseldorf aufgebrochen zu sein. Dort hat sie an einem Wochenendseminar teilgenommen. Mit dem Thema ’Weg von Mutters Schürze’ – ein Selbsthilfekurs für Frauen, die nicht von ihren Müttern loskommen.«

Ich prustete los. »Leo, du wirst nicht drum herumkommen, jetzt tatsächlich im Jahrbuch ein Portrait über sie zu schreiben. Sonst machst du dich unmöglich.«

Leo nickte betrübt. »Das habe ich mir auch schon gedacht. Was soll’s? Hier mußt du rein!« Er zeigte auf eine Tür, vor der vier Schülerinnen herumgammelten, die mich neugierig beäugten.

»Bis nachher!« Leo winkte im Weitergehen. Ich scheuchte die Schüler in den Klassenraum und wollte gerade die Tür schließen, als Schwester Wulfhilde vorbeischwirrte.

»Ach, Herr Jakobs, viel Glück beim Schulstart!« Sie hielt den Daumen hoch, um mir Mut zu machen.

»Danke«, wollte ich sagen, bekam aber nur ein Krächzen heraus. Ich hustete stark, bis ich den Hals wieder frei hatte.

»Ach, das habe ich ganz vergessen! Ich habe ja noch ein Einstandsgeschenk für Sie!« Schwester Wulfhilde wühlte in den Untiefen ihrer grauen Tracht. Ich wartete verdutzt ab. »Hier für Sie!« Sie drückte mir eine Zitrone in die Hand. »Ich hab mir sagen lassen, die wirken noch besser als Apfelsinen!« Schwester Wulfhilde knipste mir ein Auge und war im Moment darauf in der Klasse gegenüber verschwunden. Ich mußte grinsen. Schwester Wulfhilde und ich, wir würden noch viel Spaß miteinander haben!

Lächelnd schloß ich die Tür hinter mir.

Jeder andere gute Pädagoge hätte jetzt wohl souverän seine Tasche auf das Pult gestellt, seine Bücher herausgenommen und eine lockere Einführung gestartet. Ich aber stand da ohne Tasche, ja, ohne überhaupt irgendetwas, woran ich mich hätte festhalten können. Ich stank wie ein Otter und fühlte mich zerknittert wie eine weggeworfene Zigarettenschachtel. Darüber hinaus starrten mich etwa dreißig Augenpaare erwartungsvoll an.

»Guten Morgen!« rief ich fröhlich in den Raum und verdrängte den Gedanken, daß meine Haare wahrscheinlich an das Outfit eines wildgewordenen Igels erinnerten. Zurück kam nicht ein im Chor geschmetterter Guten-Morgen-Gruß, sondern ein lahmes, mehrstimmiges Gebrumm, bei dem sich keine einzelnen Worte identifizieren ließen.

»Darf ich mal was fragen?« Der Schüler in der ersten Reihe wandte sich an mich, ohne seine Neugier auch nur im geringsten zu verbergen. »Haben Sie gerade die Camel Trophy hinter sich?« Die Klasse gröhlte.

Ich versuchte ein Grinsen, um die Situation zu retten, und blickte an mir herunter. Die Schuhe völlig eingestaubt, die Hose zerknittert. Der Pullover erinnerte mich an die Waschmittelreklame, bei der die Hausfrau kurz vorm Nervenzusammenbruch steht, weil der zehnjährige Sohn sich mit seinem neuen Pullover drei Stunden im Dreck gesuhlt hat. In der Reklame wird dann alles wieder gut, aber hier?

Ich versuchte den muffigen Geruch zu ignorieren, der von mir ausging und den ich durch eine Überdosis Damenparfum zu vertuschen versucht hatte. Wie sollte ich all das erklären? Wie sollte ich diese Klasse nach diesem Auftritt jemals dazu bringen, sich für das Schreiben einer Erörterung zu begeistern? Ich räusperte mich und bekam Zuversicht, daß meine Stimme sich stabilisierte.

»Mein Name ist Vincent Jakobs. Ich werde euch von nun an in Deutsch unterrichten.« Welch origineller Einstieg. Im Vergleich mit Dr. Specht hatte ich schon alles verloren, was es zu verlieren gab. Mein Gehirn arbeitete trotzdem auf Hochtouren, und das, obwohl die letzten vierundzwanzig Stunden der reine Horror gewesen waren. Mir kam eine Idee. Pfeif was auf Erörterungen!

»Wir werden uns in den nächsten Stunden mit einer literarischen Gattung beschäftigen, die vielerorts nicht als ernst zu nehmende Literatur behandelt wird. Was wir uns genauer ansehen werden, sind Krimis!« Ein Raunen ging durch die Reihen, das ich optimistisch als ein Mittelding zwischen Überraschung und Zustimmung interpretierte. Das spornte mich an.

»Jeder kennt sie, jeder liest sie, jeder liebt sie. Und doch haben sie in der Literaturwissenschaft oftmals einen schlechten Ruf. Habt ihr eine Ahnung, woran das liegen könnte?«

Mehrere Finger gingen hoch. Ich nahm ein Mädchen in der letzten Reihe dran.

»Also, was mich an Krimis immer richtig aufregt, sind die Stories. Da denken sich die Autoren oftmals Geschichten aus, die nie in der Realität passiert sein könnten.«

Ich spann meine Idee weiter. »Ich mache euch einen Vorschlag. Laßt uns zum Einstieg experimentellen Unterricht machen! Schließt euch in Gruppen zu jeweils vier Leuten zusammen und denkt euch eine Geschichte aus, die sich für einen Krimi eignen würde! Im zweiten Schritt überlegen wir dann gemeinsam, nach welchen Kriterien man einen Kriminalroman erzählen könnte.«

Nach einigen Minuten war alles organisiert. Die Schüler saßen in Gruppen und wetteiferten mit ausgefallenen Ideen.

Ich nutzte den Augenblick und stellte mich ans Fenster, um etwas zur Ruhe zu kommen. Über den Schulpark hinweg hatte ich einen guten Blick auf die Stadt. Dahinter taten sich die sauerländischen Wälder auf – und nicht zu vergessen – die sanften Hügel des Sauerlandes. Berge und Berge und Berge – bestimmt tausend Stück.

Plötzlich stand eine Schülerin neben mir. »Nur mal ’ne Frage«, sagte sie mit den Händen in den Hosentaschen. »Sind Sie nur ’ne Vertretung oder bleiben Sie länger?«

Ich blickte nach draußen, auf die Berge, und dachte an Regine, aber auch an Max und Leo und natürlich an Alexa.

»Ich bleibe natürlich!« sagte ich bestimmt. »Etwas Besseres kann mir doch gar nicht passieren.«

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