27

Robert saß auf dem Stuhl, als habe er gerade seinen eigenen Vater im Leichenschauhaus identifizieren müssen. »Ihr könnt euch ja gar nicht vorstellen, wie schrecklich das war!« Leo und ich schwiegen betroffen. Natürlich, wir hatten die Wahrheit wissen wollen, doch die gesamte menschliche Tragödie, die in diesem Stück Wahrheit steckte, hatten wir uns vorher nicht so lebendig ausgemalt.

»Spielsucht also«, Leo hatte wohl das Gefühl, irgendetwas sagen zu müssen. »Da wäre ich nie drauf gekommen.«

»Langensiep hat ihn einmal beim Spiel beobachtet und sich Informationen über Feldhausens finanzielle Situation verschafft«, Robert schaute Leo an, »man sieht ja, wie leicht das hierzulande ist. Dann hat er die Informationen genutzt, um seinen allergrößten Wunsch zu realisieren. Feldhausen sollte forcieren, daß sein Buch in dem namhaften Verlag seines Bruders erscheinen konnte.«

»Die Sache ist ziemlich klar«, meinte Leo. »Feldhausen sollte die Sache bis Januar unter Dach und Fach haben; ansonsten wollte Langensiep die Bombe eben platzen lassen. Er wußte ganz genau: Wenn Feldhausens Spielsucht publik würde, dann wäre er weg vom Fenster, nicht nur an der Schule, seiner letzten Einnahmequelle, sondern in der ganzen Umgebung.«

»Die Banken wurden ja schon unruhig«, stimmte ich zu, »und diese Kredithaie kennen bestimmt keinen Spaß.«

»Sonst Ende.« Robert rieb sich das Kinn. »Vielleicht meinte Langensiep damit auch sein eigenes Ende. Sprich, wenn sein ehrgeiziges Unterfangen trotz Erpressungsversuchen nicht hinhauen sollte, würde er seinem Leben ein Ende bereiten.« Robert wollte ganz offensichtlich die Idee des Selbstmordes nicht fallen lassen.

»Was hast du denn für einen Eindruck von Feldhausen?« Ich lenkte das Gespräch etwas um. »Traust du ihm einen Mord zu?«

Robert nahm sich viel Zeit zum Überlegen. Mit der Hand massierte er weiter seine Unterlippe. »Ja, ich traue ihm den Mord an Langensiep zu«, sagte er dann. »Von Feldhausen hat ja selbst zugegeben, daß er in seinem Haß dazu in der Lage gewesen wäre. Aber ich glaube trotzdem nicht, daß er es war. Er war heute in einem Zustand, daß er mir sogar einen Mord gestanden hätte, wenn er ihn denn begangen hätte.«

Noch eine Stunde später zermarterte ich mir das Gehirn. Hatte Langensiep Feldhausen so in Rage versetzt, daß dieser doch zugeschlagen hatte? Vielleicht hatte Langensiep ja Feldhausens Eltern beleidigt und damit den ganz wunden Punkt berührt. Vielleicht vielleicht vielleicht. Jetzt, wo ich allein war, spekulierte ich wie wild in der Luft herum und wußte nicht, wie jemals Licht in diese Angelegenheit fallen sollte. Robert hatte sich ins Auto gesetzt und war nach Köln zurückgefahren. Er brauchte wohl etwas Erholung von seinem Besuch bei Feldhausen. Außerdem hatte er an der Uni einen wichtigen Termin. Immerhin hatte sein Ausflug ins Sauerland etwas Gutes gehabt. Seine Ex-Freundin Sonja war eine Zeit lang aus seinem Kopf verschwunden. Wenn sie das nächste Mal in seinen Gedanken auftauchte, so würde das Robert hoffentlich nur an den Kauf einer Glückwunschkarte erinnern.

Leo hatte sich ebenfalls vom Acker gemacht. Obwohl auch ihn die Geschichte mit Feldhausen mitgenommen hatte, wollte er der »Sache Erkens« näher auf den Grund gehen. »Auch wenn Feldhausen ein ganz heißer Kandidat ist, dürfen wir die anderen Spuren nicht aus den Augen verlieren«, hatte er im professionellsten Detektivjargon gefordert und mir das Versprechen abgenommen, mich an der Schule umzusehen. Uns war aufgefallen, daß Langensiep sein Manuskript wahrscheinlich nicht zu Hause geschrieben hatte. Auf jeden Fall hatte sich in seinem Arbeitszimmer kein Computer befunden. Nur eine alte, tattrige Schreibmaschine hatte ich bei meinen zwei Besuchen entdeckt. Nun wollte ich herausfinden, ob auf einem der Schulcomputer eine einschlägige Langensiep-Datei existierte, die womöglich den Schluß des Textes beinhaltete. Zuvor versuchte ich es noch bei Alexa. Sie war nicht da, wahrscheinlich noch bei der Arbeit. Schließlich war es erst später Nachmittag. Ich machte mich schleunigst auf den Weg zur Schule. Die Haupteingangstür war noch auf, so daß ich nicht extra an der Pforte schellen mußte, um hereingelassen zu werden. Als ich am Sekretariat vorbeilief, bremste mich eine Stimme von drinnen.

»Herr Jakobs, wie günstig, daß ich Sie treffe!« Schwester Wulfhilde. »Endlich kann ich Ihnen Schwester Edelgarda vorstellen. Sie ist gerade erst von Besinnungstagen in unserem Mutterhaus zurückgekommen. Sie ist Ihre Kollegin in Geschichte. Was ist gleich noch Ihr zweites Fach, Schwester?«

Schwester Edelgarda, wie ihre Mitschwestern altersmäßig unschätzbar, gab mir schüchtern die Hand. »Religion, Schwester.«

»Wie konnte ich das vergessen! Herr Jakobs, Sie sehen so blaß aus! Sind Sie etwa erkältet?«

»Ich bin wohl nur etwas müde. Die viele Arbeit vor Schulbeginn, Sie verstehen?«

»Herr Jakobs, nehmen Sie sich in acht. Fangen Sie sich keine Erkältung ein. Frau Erkens sah gestern auch derartig blaß aus, daß ich sie ermahnen mußte. Frau Erkens, habe ich gesagt, nehmen Sie sich in acht! Wir können zu Schulbeginn keine Krankmeldungen gebrauchen. Ach, was sage ich da, Herr Jakobs! Wir können nie Krankmeldungen gebrauchen.. Ach, Schwester Edelgarda, wir stehen hier und schwatzen! Dabei müßten wir längst bei Schwester Lucia sein und ihr mit den Gesangbüchern helfen.« Schwester Edelgarda nickte schwach. »Machen Sie’s gut, Herr Jakobs, und nehmen Sie sich vor einer Erkältung in acht. Eine Apfelsine am Tag wirkt Wunder, hat meine Mutter immer gesagt. Obwohl, damals gab es ja noch nicht Apfelsinen so wie heute. Da war man froh, wenn man zu Weihnachten mal eine geschenkt bekam. Aber heute sind wir ja gesegnet mit Apfelsinen. Deshalb eine Apfelsine am Tag, denken Sie daran!« Schwester Wulfhilde verschwand mit Edelgarda um die Ecke. Ich atmete tief durch und eilte dann die Treppe hinauf. Im Lehrerzimmer war so gut wie nichts los. Bernhard Sondermann saß an einem der langen Tische und kritzelte emsig in ein paar Papieren herum. Am schwarzen Brett stand Petra Werms, die flotte Sportlehrerin, die ich auf Roswithas Party kennengelernt hatte, und las ganz versunken in einer Bekanntmachung. Sie hatte mein Eintreten noch nicht bemerkt, während Sondermann mich von seinem Stuhl aus stumm zur Kenntnis genommen hatte. Als ich auf Petra zuging, hörte ich, daß sie leise mit sich selbst sprach.

»Die spinnen ja wohl! Drei Konferenzen in einer Woche, wie soll ich das denn schaffen?«

»Höre ich da die leise Vorfreude auf den Schulbeginn?«

Petra Werms fuhr herum und schaute erschrocken. »Ach, du bist es!« Sie lachte erleichtert. »Ich dachte schon, Wulfhilde hätte mich beim Fluchen erwischt. Schau dir das mal an!« Sie zeigte erbost auf den Zettel am Brett. »In der zweiten Woche soll montags die allgemeine Schulkonferenz stattfinden, mittwochs die Erprobungsstufenkonferenz und am Donnerstag die Fachkonferenz Erdkunde. Da ich dienstags und freitags am Nachmittag Sportunterricht habe, verbringe ich alle Nachmittage der Woche in der Schule. Kannst du mir mal sagen, wie ich das meiner Babysitterin beibringen soll?«

»Kannst du mir im Gegenzug mal erzählen, ob es für Lehrer eine Möglichkeit gibt, hier in der Schule am Computer zu arbeiten?«

»Na klar, wir haben ein Bildschirmarbeitszimmer, das kann ich dir zeigen!« Petra ging zum Seitenbord, wo der Vertretungsplan und andere wichtige Dinge zugänglich waren. Sie zog an einer Schublade. »Das hier ist der Schlüssel. Jeder Lehrer nimmt ihn bei Bedarf heraus und bringt ihn nachher wieder zurück.« Sie steckte ihn ein und ging mit mir auf den Flur. Von dort aus führte sie mich zu einer Tür am Ende des Gangs. »Hier ist das gute Stück!«, Petra schloß die Tür auf. »Übrigens der ganze Stolz des Lehrerrats, der sich lange Zeit darum bemüht hat.« Hinter der Tür befand sich ein kleines Zimmerchen mit topmoderner Computeranlage.

»Ich kenne mich nicht allzu gut aus, aber soviel ich weiß, ist alles auf dem neuesten Stand. Internet-Anschluß und so.« Ich staunte und wunderte mich, daß Schwester Wulfhilde mir diese Schatztruhe nicht schon bei ihrer ersten Führung präsentiert hatte.

»Ist das der einzige Ort, wo man als Lehrer am Computer arbeiten kann?«

Petra überlegte. »Natürlich gibt es noch im Sekretariat einen Rechner für Schwester Gertrudis, im Schulleitungsbüro steht noch einer, ach ja, und dann haben wir natürlich noch den Informatikraum für die Schüler. Der steht voll mit alten Kisten. Die Informatiklehrer nutzen manchmal die Computer im Informatikraum, aber im Grunde nutzen alle übrigen Kollegen dieses Gerät, wenn sie in der Schule arbeiten wollen.«

»Kann ich mir die Programme wohl mal in Ruhe anschauen?« fragte ich Petra, während ich mich schon verdächtig der Tastatur näherte.

»Klar, du gehörst doch jetzt zum Stamm. Bring nur nachher bitte den Schlüssel zurück!« Petra hatte schon die Türklinke in der Hand. »Eins habe ich noch vergessen. Kollege Reinke hat einen kleinen Überblick über die Anlage geschrieben, damit auch so Ahnungslose wie ich Mut finden, die Programme mal anzutesten. Da steht auch, wie du dir selbst eine Datei anlegen kannst. Einige unserer Kollegen haben ein eigenes Register unter ihrem Namen angelegt. Schau dir Reinkes Wisch einfach mal an!«

»Vielen Dank!« Ich hatte den Computer schon angeschaltet. Gleichzeitig warf ich einen Blick in die Wundermappe. Reinke schien wirklich einer von der sorgfältigen Sorte zu sein. In einzelnen Schritten hatte er auch für den Unerfahrensten erklärt, wie er vorgehen sollte, um eine Datei anzulegen, wie ein Verschluß per Codewort möglich war, wie man ins Internet gelangte und und und. Ich fragte mich, wie viele Kollegen sich wohl in ihren Freistunden vor dem Computerraum drängelten, um gratis Internetspielchen zu betreiben. Ich ging genau nach Reinkes vorgegebenen Schritten vor, um in eine Übersichtsdatei zu gelangen. Schon geschehen. Ich klickte das Feld Einzeldateien an. Es folgte eine Liste mit Namen. Ahrens, Breding, Brussner, Döring, Erlisch, ich suchte weiter und pfiff durch die Zähne, als ich auf Langensiep stieß. Ich klickte ihn an, dann kam die Enttäuschung:

Enter password please. Verdammt, er war auf Nummer Sicher gegangen. Ich versuchte alles an Wörtern, was mir einfiel: Bruno, Regine, Schule, Arbeit, Buch, Roman, Kunst – nichts paßte. So kam ich nicht weiter. Ich mußte Leo fragen, ob es eine andere Möglichkeit gab, in die Datei einzusteigen. Enttäuscht beendete ich meinen Suchvorgang und stellte den Rechner aus. Als ich ins Lehrerzimmer kam, um den Schlüssel zurückzubringen, hörte ich schon frühzeitig Wulfhildes Stimme. Einen weiteren Vortrag über Maßnahmen bei Erkältungskrankheiten konnte ich mir nicht antun. Ich wollte nur eben den Schlüssel in die Schublade zurückbringen und mich dann vom Acker machen. Aber so leicht konnte man einer erfahrenen Schulleiterin nicht entrinnen.

»Herr Jakobs, ich sehe, Sie haben sich schon mit unserem neuen Computerraum vertraut gemacht.«

»Ach, im Grunde habe ich nur-«

»Das finde ich ganz großartig, ganz großartig! Immer auf der Höhe der Technik bleiben, sage ich. Wenngleich ich selbst in Computerdingen recht unbefleckt bin.« Wulfhilde kicherte neckisch. »Aber dafür kämpft unser lieber Herr Sondermann ja ganz vorne an der Computerfront, nicht wahr, Herr Sondermann?« Der Angesprochene schaute betreten nach unten. Er war handzahm, wenn er mit seiner Chefin zusammen war

»Ach übrigens, Herr Jakobs«, Wulfhilde zwitscherte weiter, »ich habe Ihnen eben Ihren Arbeitsvertrag ins Fach gelegt. Wenn Sie so freundlich wären, ihn in den nächsten Tagen unterschrieben mitzubringen.« Ich griff mir das in eine Klarsichthülle gesteckte Papier, verabschiedete mich hastig von den beiden und verließ dann flugs das Lehrerzimmer. Draußen war es schon ein bißchen dämmrig geworden. Ich schaute auf die Uhr, halb sieben. Die Zeit lief mir weg. Heute war Freitag. Samstag und Sonntag hatte ich nur noch zur Unterrichtsvorbereitung. Wie sollte ich das schaffen? Vor allem, wie sollte ich das schaffen, wenn ich nichts anderes tat, als mich mit Bruno Langensieps Tod zu beschäftigen?

Schon im Auto ging mir wieder alles durch den Kopf. Mir fiel plötzlich ein, daß ich mich noch gar nicht um die zweite Notiz gekümmert hatte, die ich in Langensieps Unterlagen gefunden hatte. Um 15 Uhr Dr. E. anrufen wegen »Befund.« Was hatte das zu bedeuten? Ich dachte daran, mich bei allen Ärzten mit dem Anfangsbuchstaben E. nach Langensiep zu erkundigen. Doch das würde nichts bringen. Ärzte waren schließlich an ihre Schweigepflicht gebunden. Na ja, Bankangestellte waren das wahrscheinlich auch. Leo würde ich zutrauen, auch bei Medizinern etwas herauszufinden. Allerdings konnte es genauso gut sein, daß Langensiep bei einem Spezialisten von außerhalb in Behandlung gewesen war. Damit würde die Auswahl an Ärzten unübersichtlich werden. Dann fiel mir etwas ein. Ich konnte mich bei Regine Langensiep nach etwaigen Krankheiten ihres Mannes erkundigen, oder ich konnte zumindest fragen, bei wem er in Behandlung gewesen war. Da würde mir schon etwas einfallen. Nachdem ich diesen Punkt auf den folgenden Tag verschoben hatte, richteten sich meine Gedanken wieder auf Feldhausen. Hatte Robert recht gehabt? Hatte er mit Langensieps Tod tatsächlich nichts zu tun? Außerdem fiel mir meine Kollegin Erkens wieder ein. Ich mußte unbedingt Leo anrufen und fragen, ob er etwas über ihren dubiosen Ausflug an besagtem Sonntag morgen herausgefunden hatte. Darüber hinaus fiel mir natürlich auch Alexa ein. Ob sie versucht hatte, mich zu erreichen?

Als ich die Wohnungstür öffnete, hörte ich schon das Telefon schellen. Ich hastete zum Hörer. Leider vernahm ich nicht Alexas Stimme am anderen Ende, sondern Frau Dreisams.

»Ich wollte nur mal eben nachhören, ob mit heute abend alles in Ordnung geht?«

»Heute abend? Wieso, was ist denn da?«

»Aber Herr Jakobs, haben Sie denn unsere Mitteilung nicht erhalten?« Mir schwante das Schlimmste.

»Eine Mitteilung? Ich weiß von gar nichts.«

»Aber wir haben Ihnen doch gestern abend eine Einladung in den Briefkasten geworfen.« Frau Dreisams Stimme hörte sich ganz verzweifelt an. »Wir haben Sie für heute um acht zum Abendessen eingeladen und Sie gebeten, daß Sie sich melden, wenn Sie nicht können.« Ich überlegte, ob ich einen Herzanfall simulieren sollte, der mich auf weiteres lahmlegen würde.

»Herr Jakobs, sind Sie noch dran?« Frau Dreisams Stimme klang inzwischen, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.

»Ja, ja, ich habe heute morgen die Post nicht genau durchgeguckt. Ich dachte, es wäre eh nur Werbung im Briefkasten.«

»Aber Herr Jakobs, Sie können doch kommen? Ich stehe seit zwei Stunden in der Küche, und Sigrid freut sich doch auch schon so.« Ich hatte es befürchtet. Frau Dreisam hatte die Nummer wirklich durchgezogen, nur wesentlich schneller, als ich jemals für möglich gehalten hatte.

»Wissen Sie, das kommt jetzt etwas plötzlich. Ich bin gerade erst-«

»Aber Herr Jakobs, das können Sie mir doch nicht antun!« Natürlich konnte ich das nicht. Ich wollte ja schließlich nicht schuld sein, wenn Mutter Dreisam ihre ersten Depressionen bekam. Ich sagte zu und legte seufzend den Hörer auf.