16

Nicki erwartete mich an der Auffahrt. Sie trug eine Kostümjacke mit einem dazu passenden Rock und hatte sich das Haar zu einem Knoten hochgesteckt. Mir lag schon auf der Zunge zu sagen: »Du bist ja aufgestylt wie meine Mutter«, aber das verkniff ich mir. Stattdessen fragte ich: »Warum hast du dich denn so angezogen?«
»Weil ich älter aussehen will. Das letzte Medium hat mich nicht respektiert, weil sie mich für ein Kind gehalten hat.«
Ich warf einen Blick auf den Truck, anschließend auf meine Jeans und mein T-Shirt. Der Truck und ich passten in keiner Weise zum Image – ganz abgesehen davon, dass auch Nicki nicht hundertprozentig überzeugend wirkte. »Aber … ich finde, du hast es übertrieben. Dadurch siehst du noch jünger aus.«
Sie funkelte mich wütend an, öffnete die Tür des Trucks und machte sich daran, alte Plastikbecher und Einwickelpapier aus dem Wagen zu werfen. Ich trat hinter sie und zog ihr die Spange aus dem Haar.
»Hey!« Ihre Hände fuhren zum Kopf, während ihre Locken nach unten fielen und sich um ihren Hals ringelten.
»So siehst du viel besser aus. Auch älter, falls es dir darauf ankommt.«
Sie spähte in den Seitenspiegel. »Na ja, kann schon sein.« Sie zeigte rüber zur Beifahrertür. »Geh du auf die andere Seite und hol dort den Müll raus. Einfach nicht zu fassen, wie viel Mist Matt hier in nur zwei Tagen hinterlassen hat.«
Nachdem wir im Wagen aufgeräumt hatten, fuhren wir los. »Wo geht’s denn hin?«, fragte ich, als Nicki zum Highway abbog.
»Nach Harrisville.« Sie gab mir einen Zettel. »Lies mir die Wegbeschreibung vor, sobald wir bei der Ausfahrt 23 sind.«
Am Fenster zog eine endlose Kette von Tankstellen und Minimärkten vorbei. Ich verbrachte die Fahrt weitgehend damit, mir wieder und wieder die Szene in Vals Zimmer in Erinnerung zu rufen, vor allem den Teil, als sie vor mir zurückgewichen war. Vielleicht wollte ich die Szene dadurch entschärfen, wollte zu einem Punkt gelangen, wo das Ganze nicht mehr schmerzte, doch nach einer Weile stellte ich fest, dass mir das nicht gelang. Als ich es satthatte, mich damit zu quälen, dachte ich daran, was ich mit meiner Mutter im Diner erlebt hatte. Nun ja, ich verstand es durchaus, mir einen vergnüglichen Tag zu machen.
Und dann fragte ich mich: Was spricht eigentlich dagegen, dass wir uns einen vergnüglichen Tag machen? Die Sonne schien, Nicki und ich hatten den Truck, niemand wusste, wo wir waren.
»Heute ist es viel zu heiß«, sagte ich. »Lass uns doch lieber zum Strand fahren!« Das Meer war in drei Stunden zu erreichen. Natürlich hätte mir klar sein müssen, dass Nicki sich durch nichts von ihrer großen übersinnlichen Mission abbringen lassen würde. Trotzdem stellte ich mir vor, wie wir weit von hier entfernt unsere Zehen in nassen Sand gruben und dem Rauschen der Wellen zuhörten.
»Zum Strand! Wie kommst du denn jetzt darauf?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich weil es so heiß ist.«
»Das ist es jeden Tag. Deshalb nennt man diese Jahreszeit Sommer.« Sie leckte sich über die Lippen. »Ich hoffe wirklich, dass dieses Medium was von ihrer Sache versteht.«
»Erwarte nicht zu viel.«
»Hör mal, Ryan, irgendwas muss an diesem übersinnlichen Zeug doch dran sein, oder?«
»Und warum?«
»Weil viele Leute daran glauben und übernatürliche Erlebnisse haben. Die können sich schließlich nicht alle irren.«
»Doch, können sie.«
Sie stieß laut den Atem aus. »Warum bist du dann überhaupt mitgekommen?«
»Weil ich finde, dass du das nicht allein machen solltest.«
Einen Kilometer lang huschten Fast-Food-Restaurants, Banken und Tankstellen am Fenster vorbei. »Glaubst du denn an gar nichts?«, fragte Nicki nach einer Weile. »Ich meine an Dinge, die man nicht sehen kann.« Als ich keine Antwort gab, fuhr sie fort: »Was dachtest du eigentlich, was mit dir geschehen würde?«
»Wie meinst du das?«
»Als du … du weißt schon, als du es versucht hast. Was hast du da erwartet?«
Ich presste die Finger gegen das Seitenfenster. »Ehrlich gesagt habe ich darüber nicht groß nachgedacht.«
»Wieso denn nicht?«
»Tja …« Mir war, als würde ich den Benzingeruch in der Garage wieder wahrnehmen, den Zündschlüssel wieder zwischen meinen Fingern spüren. »Ich dachte, es wäre wie Schlaf.«
»Der ewig dauert?« Sie schüttelte den Kopf. »Gott, ich hoffe, es ist mehr als das.«
Harrisville war der ödeste Ort, den ich je gesehen hatte – ein Vorort wie der, in dem ich gewohnt hatte, bevor meine Mutter das Verlangen packte, in ihrem exklusiven Walddomizil zu leben. Die Grundstücke und Häuser, die alle im Ranchstil gebaut waren, glichen einander wie ein Ei dem andern. Ich sagte Nicki, wo sie abbiegen musste, und wir machten an einem gelben Haus halt.
»Sie soll sehr gut sein«, erklärte Nicki und starrte das Haus an, machte jedoch keine Anstalten, die Autotür zu öffnen.
»Sagt wer? Die Amerikanische Akademie für Übersinnliches?«
»Sagen Leute, die ihre Dienste in Anspruch genommen haben.« Nickis Entschlossenheit kehrte zurück. »Na komm, lass uns reingehen.«
Andrea war sanft und ruhig gewesen und hatte ständig gelächelt. Paula hingegen war groß und breit, ihr Gesicht grobschlächtig und wie aus Holz geschnitzt. Sie musterte uns, als hätte sie einen Röntgenblick. Nicki wurde blass und schien förmlich zusammenzuschrumpfen. Ich dachte bei mir, dass Paula zumindest die richtigen Augen hatte, falls sie wirklich übersinnlich begabt sein sollte. Doch dann fiel mir wieder ein, dass ich ja nicht an diesen ganzen Zauber glaubte.
Sie führte uns in ein Büro mit dunkler Wandtäfelung und rotem Teppich. Nicki und ich nahmen auf zwei Stühlen Platz, Paula setzte sich uns gegenüber und fuhr fort, uns zu studieren. Als ich mich am Kinn kratzte, folgten ihre Augen meiner Hand. Als ich die Hand in den Schoß sinken ließ, verfolgte sie auch das mit ihrem Blick. Nicki räusperte sich und Paula drehte sich ihr zu.
»Du möchtest mit jemandem sprechen, der wichtig für dich ist und eine große Bedeutung in deinem Leben hat«, sagte Paula mit einer Stimme, die so tief wie die eines Mannes war.
»Ja«, erwiderte Nicki.
Paula stierte Nicki an, Nicki starrte zurück. Ich überlegte, ob Paula wohl versuchte, Nicki zu hypnotisieren. Vielleicht würde sie Nicki auf diese Weise suggerieren, sie habe ihren Vater kontaktiert.
»Er hört dich«, verkündete Paula.
Nicki hüstelte. »Äh … was?«
»Er hört dich. Die Person, nach der du suchst.«
Nicki scharrte mit den Füßen auf dem roten Teppich. »Was … was hat er mir denn zu sagen?«
Sie fixierten einander, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Ich hatte das Gefühl, allmählich unsichtbar zu werden und mit dem Muster des Stuhlbezugs zu verschmelzen. Die Luft hier war so stickig, als stehe sie schon seit Jahrzehnten in diesem Zimmer. Sie roch nicht direkt schlecht – nur alt und verbraucht.
Paula seufzte und legte sich ihre breite Hand mit gespreizten Fingern auf den Schenkel. »Es gibt viele unbeantwortete Fragen.«
Ja, dachte ich bei mir, das kannst du laut sagen. Genau deshalb sind wir hier.
Blitzschnell drehte Paula den Kopf in meine Richtung. Ihr bohrender Blick rief ein Prickeln auf meiner Haut hervor. »Du blockierst.«
»Wie bitte?«
»Deine negative Energie blockiert den Geist.« Zur Veranschaulichung hob sie die Hand. »Deshalb kann er nicht zu mir durchdringen.«
Sie drehte sich zu Nicki zurück. »Dein Freund muss gehen und draußen warten.«
Nicki sah mich an.
Ich wollte sie nicht allein lassen. Schließlich wussten wir nicht das Geringste über Paula mit dem Jenseitskontakt. Andererseits wusste ich, dass Nicki unbedingt mit ihrem Vater sprechen wollte. Vielleicht sollte ich mich also draußen vor die Tür setzen – wie ein Wachhund. Genau das wollte ich ja auch sein.
Nicki rieb sich über den Mund. Paula saß reglos wie eine wuchtige Statue da.
Als ich Anstalten machte aufzustehen, sagte Nicki: »Nein. Er bleibt hier.«
»Aber er stört die Verbindung«, grummelte Paula.
»Er ist die Verbindung.«
Was?
Paula und Nicki starrten einander so lange an, dass ich schon dachte, die Augen würden ihnen aus dem Kopf fallen. Paula wandte als Erste den Blick ab und sah in Richtung Decke. »Wenn er weiterhin blockiert, kann ich keine Verbindung herstellen. Ich habe mein Möglichstes getan; du stehst dir selbst im Weg.«
Nicki leckte sich mit der Zungenspitze über die Mundwinkel. Paula saß nach wie vor reglos da, den Blick immer noch zur Decke gerichtet, als erwarte sie von dort eine Antwort auf die Frage, was sie mit derart bockigen Klienten anfangen sollte.
Nicki stand auf. »Das war’s dann wohl.«
»Wie du willst.«
Als Nicki und ich bereits an der Tür waren, sagte Paula: »Du hast vergessen zu bezahlen.«
Nicki fuhr herum. »Wofür denn? Sie haben doch gar nichts gemacht.«
»Das ist nicht meine Schuld. Du hast meine Zeit in Anspruch genommen und aufgrund deiner Entscheidung verhindert, dass es zu einer Kontaktaufnahme kam. Wenn dein Freund bereit ist zu gehen, kann es immer noch dazu kommen, aber im einen wie im anderen Fall schuldest du mir Geld.«
Nicki umklammerte die Handtasche, die sie mitgenommen hatte – ich konnte mich einfach nicht daran gewöhnen, Nicki mit so einem Ding zu sehen –, als befürchte sie, Paula könne sie ihr entreißen. Paulas Blick bohrte sich in uns und nagelte uns an der Tür fest.
Nicki marschierte in den Korridor. Bevor ich ihr folgen konnte, war Paula vom Stuhl aufgesprungen und hatte mich bei der Schulter gepackt.
»Lassen Sie mich los«, sagte ich. »Sie bekommen Ihr Geld ja.«
Sie gab meine Schulter frei, blieb aber dicht neben mir stehen, während ich die Scheine hervorkramte. »Ich bezahle Ihren Zeitaufwand«, erklärte ich, »weil ich glaube, dass Sie ansonsten nichts weiter als Unsinn zu bieten haben.«
»Das ist mir klar. Deine ganze Engstirnigkeit kann mir nur leidtun.« Sie reckte ihr massiges Kinn in Richtung Tür. »Und jetzt raus.«
»Nichts lieber als das.«
Hoch erhobenen Hauptes verließ ich das Haus, verspürte jedoch ein merkwürdiges Zittern in den Beinen – wahrscheinlich die Nachwirkung eines Adrenalinstoßes. Schließlich hatte ich es noch nie erlebt, dass ein angebliches Medium mich brutal packte und Geld von mir verlangte.
Nicki, die draußen auf mich wartete, sah mich missmutig an. »Hast du sie etwa bezahlt?«
»Vergiss es.«
»Ich wollte nicht, dass du ihr Geld gibst!«
»Andernfalls hätte sie keine Ruhe gegeben. Außerdem hatte sie nicht so ganz unrecht. Nicht dass die Kontaktaufnahme irgendetwas gebracht hätte, wenn es dazu gekommen wäre …«
»Dann gebe ich dir das Geld wieder.«
»Vergiss es.«
»Ich will nicht, dass du …«
»Nun lass das doch, Nicki. Einigen wir uns einfach darauf, dass es meine Schuld war, dass du nicht bekommen hast, was du haben wolltest. Also sind wir jetzt quitt.«
Ich folgte ihr zum Truck. Erst als wir durch die Straßen des Vororts fuhren – wobei ich versuchte, in umgekehrter Reihenfolge aus der Wegbeschreibung schlau zu werden –, sagte Nicki wieder etwas. »Ich kann es einfach nicht fassen.«
»Was denn? – Hier musst du links abbiegen.«
»Dass sie versucht hat, dich rauszuschmeißen.«
»Tja, offenbar hat sie gemerkt, dass ich die ganze Sache für Stuss halte. Sie wollte mich wahrscheinlich aus dem Weg haben, um dich besser einwickeln zu können.«
Nicki zog einen Flunsch. »Glaubst du wirklich, ich bin so beschränkt, dass sie mich hinters Licht hätte führen können, wenn du nicht dabei gewesen wärst?«
»Jedenfalls hat sie es angenommen. Hattest du den Eindruck, dass sie wirklich mit deinem Dad in Verbindung stand?«
Nicki atmete tief durch. »Keine Ahnung.« Nachdem ich ihr weitere Anweisungen gegeben hatte, sagte sie: »Aber wenn es mein Dad war, dann würde er, glaube ich, wollen, dass du dabei bist.«
»Ja, das hast du vorhin schon angedeutet. Und was meinst du damit?«
Sie starrte so auf die Straße, wie sie vorhin Paula in die Augen gestarrt hatte. »Irgendwie ist es so – das hört sich jetzt merkwürdig an –, als hätte mein Dad mich überhaupt erst zu dir geführt. Ich hab von Anfang an das Gefühl gehabt, dass du mir etwas über ihn sagen kannst.« Sie riss das Steuer nach rechts und machte an der Bordsteinkante halt.
»Also sollte ich vielleicht lieber dich fragen statt all diese Medien.« Sie drehte sich zu mir.
»Nicki, ich habe keine Ahnung, was ich deiner Ansicht nach wissen sollte. Ich kann dir die Antworten, die du haben willst, nicht …«
»Doch, kannst du. Weil du da gewesen bist, wo er war. Das ist so, als ob ich jemand, der in China war, frage, wie es da so ist, und er sich weigert, es mir zu erzählen.« Sie schluckte. Ihr Gesicht hatte sich gerötet. »Ich weiß, dass es schwer für dich ist und du nicht darüber sprechen möchtest, okay … deshalb versuche ich ja, über ein Medium was rauszufinden. Aber ich glaube trotzdem, dass du aus einem ganz bestimmten Grund ein Teil von all dem bist. Ich meine, als ich dich am Wasserfall angesprochen habe, hättest du ja sagen können, ich soll mich verpissen, aber das hast du nicht. Seitdem bist du bei mir geblieben. Und deshalb vertraue ich keinem Medium, das mich auffordert, dich aus dem Zimmer zu schicken.«
Sie trat aufs Gaspedal und fuhr weiter. »Jedenfalls war Paula nicht unser letzter Versuch. Um drei haben wir noch einen Termin.«
»Was?«
»Ja, ich habe beschlossen, es bei zwei verschiedenen Medien zu versuchen, um die Ergebnisse miteinander vergleichen zu können. Der Besuch bei Paula hat nichts gebracht – egal. Mal sehen, was die Nächste zu bieten hat.«
Als ich ihren entschlossenen Gesichtsausdruck sah, fragte ich mich, ob wir wohl jedes Medium im Land aufsuchen würden. Wo würde das Ganze enden, wenn sie das, worauf sie aus war, auch vom nächsten Medium nicht bekam? Wie viele Besuche bei Medien waren nötig, bis Nicki aufgab? Ich hatte angenommen, dass sie nach ein oder zwei Versuchen einsehen würde, wie sinnlos die Sache war. Und damit sie in dem Moment nicht allein war, war ich bei ihr geblieben. Doch allmählich kam mir der Verdacht, dass sie, selbst wenn sie fünfzig war, ihr Geld wahrscheinlich immer noch für Medien verplempern und in der Welt herumreisen würde, um endlich jemand zu finden, der ihr sagen konnte, was sie unbedingt wissen wollte.
»Nicki«, sagte ich.
»Hör mal, Ryan, wenn du über das, was du erlebt hast, nicht sprechen möchtest, dann respektiere ich das. Aber dann darfst du dich auch nicht darüber beschweren, dass ich zu diesen Medien gehe. Wenn du mir nicht helfen willst, muss ich eben jemand finden, der dazu bereit ist.«
Und was, wenn dir niemand helfen kann?, hätte ich am liebsten gefragt, aber ich ließ es.