22

Am Sonnabend fuhr ich zum Patterson Hospital, um Jake zu besuchen. Wir setzten uns in den Aufenthaltsraum, dessen Wände neu gestrichen worden waren. Jetzt hatten sie eine deprimierende gelbbraune Farbe, die irgendwie an Senf erinnerte.
Jakes Handgelenke waren dick bandagiert. Während er am Klebeband pulte, stellte ich mir die Schnittwunden darunter vor, die zusammengenähte Haut, die roten Wundränder, die ihm wahrscheinlich immer noch Schmerzen bereiteten. Ich war froh, dass er noch am Leben und nicht verblutet war.
Und ich war froh, nicht an seiner Stelle zu sein. Froh, dass meine Arme unverletzt waren und ich jederzeit aufstehen und die Klinik verlassen konnte.
»Durch dieses neue Medikament wiegt meine Zunge mindestens zehn Pfund«, nuschelte er. »Ist sie angeschwollen?« Er streckte die Zunge heraus.
»Nein, sieht völlig normal aus.«
Er verzog den Mund und schluckte. Mir fiel ein, was für einen trockenen Mund ich zu Anfang immer von meinen Medikamenten bekommen hatte. »Möchtest du was trinken?«, fragte ich.
In dem Moment kam Val ins Zimmer gestürmt. »O mein Gott, diese Wände! Das ist die hässlichste Farbe, die ich je gesehen habe!« Sie küsste Jake auf die Wange. »Wie geht’s dir?«
»Beschissen.«
»Ryans Mutter und meine sind unten. Ist es okay, wenn sie hochkommen, um Hallo zu sagen? Sie möchten dich gern sehen.«
Jake zögerte.
»Du musst nicht Ja sagen«, rief ich ihm in Erinnerung.
»Gut«, erwiderte er. »Weil ich sie nämlich eigentlich nicht sehen möchte.«
Val setzte sich auf die andere Seite von ihm. Da waren wir also alle drei wieder zusammen, ganz wie in alten Tagen. Bloß dass jetzt alles anders war und wir das auch wussten.
»Ich nehme an, ich bin durchgefallen«, sagte Jake.
»Was?«, fragte Val.
»Wir haben doch hier alle eine Prüfung abgelegt, stimmt’s? Und ich bin der Einzige, der wieder herkommen musste.«
»So darfst du das nicht sehen«, entgegnete Val.
Er wandte das Gesicht von ihr ab. »Ich hätte Appetit auf einen Cheeseburger.«
»Ich hol dir einen.« Ich stand auf, froh über die Möglichkeit, von Val wegzukommen.
Jake lächelte mich verhalten an. »Mit allem Drum und Dran. Ich brauch was, wofür sich’s zu leben lohnt, Mann.«
»Ist doch nur ein Cheeseburger«, sagte ich, »aber ich werd mir Mühe geben.«
Ich verließ die Klinik und besorgte ihm einen Cheeseburger, zusammen mit Fritten und einem großen Becher Limo für seinen trockenen Mund. In der Eingangshalle wurde ich von den Müttern mit Fragen bombardiert, die ich jedoch alle abschmetterte. Da meine Mutter nicht auf der Stelle über mich herfiel, nahm ich an, dass Dr. Ishihara ihr noch nichts von meinem Besuch bei Val erzählt hatte. Wie Mom reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass Nicki mich zu den Ishiharas gefahren hatte, konnte ich mir lebhaft vorstellen.
Als ich in den Aufenthaltsraum zurückkehrte, sah ich, dass Jake halb in Vals Schoß lag und sich an sie klammerte, während sie ihm übers Haar strich. Ich blieb stehen, um die beiden zu beobachten. Die Art und Weise, wie er sich an sie krallte, brachte mich zu dem Schluss, dass ich möglicherweise nicht der Einzige war, der sich in Val verliebt hatte.
Val bemerkte mich als Erste; dann hob Jake den Kopf. »Hey, da ist ja mein Grund weiterzuleben«, sagte er, als er die Tüte in meiner Hand erblickte.
Ich durchquerte das Zimmer. »Also riechen tut es jedenfalls ziemlich gut.«
Er richtete sich auf, wischte sich mit der Hand übers Gesicht und nahm mir die Tüte ab. Val klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Bin gleich wieder da.«
Sobald sie verschwunden war, biss er in eine Fritte. »Das war nicht das, wonach es aussah«, erklärte er.
»Wie meinst du das?«
»Sie mag mich nicht auf diese Weise. Sie hat immer nur dich gemocht.«
»Nicht genug«, erwiderte ich. »Das hat sie mir letzte Woche ziemlich deutlich zu verstehen gegeben.« Es tat weh, das einzugestehen, aber zumindest hatte ich nicht mehr das Gefühl, als würde mir jemand die Eingeweide aus dem Leib reißen.
Er seufzte und aß weiter. Val gesellte sich wieder zu uns, und wir saßen schweigend beieinander, wie wir es uns vor vielen Monaten angewöhnt hatten. Komisch – ich hatte zwar nicht das Bedürfnis, wieder in der Klinik zu landen, doch ganz kurz sehnte ich mich nach der Zeit zurück, als wir hier zusammen gewesen waren und uns jeden Tag gesehen hatten.
Nachdem Jake seinen Burger verputzt hatte, stopfte er sich die herausgefallenen Zwiebel- und Tomatenstückchen in den Mund. Dann sagte er: »Ich weiß einfach nicht, wie ich es anpacken soll. Warum habt ihr beide eine Lösung gefunden? Und warum schaffe ich das nicht?«
»Ich habe keine Lösung gefunden«, sagte ich. »Ich improvisiere dauernd.«
»Ich auch«, fügte Val hinzu.
Jake bot uns den Rest der Fritten an. »Ich hab immer das Gefühl, dass es irgendein Regelheft gibt, das alle anderen haben, bloß ich nicht.«
Val und ich lachten. Wir hatten auch kein Regelheft.
»Ich habe es satt, mir wie Scheiße vorzukommen«, sagte Jake.
Val tippte ihm aufs Knie. »Das wird alles besser.«
»Ah ja? Wann denn?«
»Keine Ahnung. Aber irgendwann wird es das.«
Er knüllte die leere Tüte zusammen. »Vielleicht bei allen andern, aber nicht bei mir.«
Ich erinnerte mich, dass ich genau das in jener Nacht in der Garage gedacht hatte. Und auch nachdem Val mich zurückgewiesen hatte. Und immer wenn ich wie unter Zwang diesen blöden pinkfarbenen Pullover aus meinem Wandschrank geholt hatte. Und nachdem mir klar geworden war, dass Nicki mich angelogen hatte. Jedes Mal, wenn ich dachte, jetzt würde alles besser werden, gab der Boden unter meinen Füßen nach.
Aber andererseits wurde alles besser, genau wie Val gesagt hatte. Und dann wieder schlimmer. Um anschließend wieder besser zu werden. Mir kam der Gedanke, dass mir dieses Auf und Ab für immer bevorstehen könnte und das Leben vielleicht einfach so war.
»Wenn du durchhältst«, sagte Val, »dann wird es besser, das versichere ich dir.«
Jakes Hand fing an zu zittern. Er drückte die zerknüllte Tüte noch fester zusammen. »Quatsch«, erwiderte er mit zittriger Stimme, was mir verriet, dass er ihr glauben wollte.
Er drehte sich zu mir. »Wird es wirklich besser?«
Das war die Frage, und ich war es ihm schuldig, sie mit Patterson-Aufrichtigkeit zu beantworten.
»Ja«, sagte ich.
Am späten Nachmittag ging ich wieder zum Wasserfall, stellte mich aber nicht darunter. Stattdessen planschte ich nur im Teich herum. Ich kramte alles, was ich über Nicki und ihren Vater wusste, aus meinem Gedächtnis und versuchte, die Lügen durch die Wahrheit zu ersetzen. Es fiel mir nicht immer leicht, mich zu erinnern, welche Puzzleteile noch dazugehörten und wo statt der alten Teile neue eingefügt werden mussten.
Als Nicki zusammen mit vier anderen Kids, die ebenfalls unten am Highway wohnten, aufkreuzte, war ich versucht, schnell zu tauchen und mich zu verstecken, doch ich wusste, dass ich den Atem nicht so lange würde anhalten können. Zwei von ihnen kannte ich von der Schulbushaltestelle, hatte aber nie mit ihnen gesprochen, sondern mich immer abseits gehalten und mir Kopfhörer in die Ohren gestöpselt. Um die Wahrheit zu sagen – manchmal stellte ich gar keine Musik an. Die Kopfhörer trug ich, weil ich dann mit niemandem reden musste, und den anderen lieferten sie einen triftigen Grund, nicht mit mir zu reden.
Die Kids setzten sich in einiger Entfernung vom Teichrand auf ein paar umgestürzte Bäume, um sich zu unterhalten und Zigaretten zu rauchen. Das Mädchen, das mich als »Loser der Schule« bezeichnet hatte, war nicht dabei. Nicki blickte zwischen mir und ihren Freunden hin und her, als sei sie nicht sicher, wo sie hingehörte.
Ich watete aus dem Wasser. Während ich mich abtrocknete, spürte ich die Blicke der anderen. Wenn ich davonging, ohne etwas zu sagen, würden sie das nicht ungewöhnlich finden. Wahrscheinlich erwarteten sie von mir ohnehin nichts anderes.
Und was war mit Nicki?
Sie hatte gesagt: »Manchmal denke ich, dass ich dich sehr mögen könnte, wenn du das zulassen würdest«, und über diese Worte hatte ich wieder und wieder nachgedacht.
Diese Worte hätte ich auch zu Val sagen können. Doch wenn ich jetzt mit ihr sprach oder sie sah, spürte ich, dass die Kluft zwischen uns immer breiter wurde.
Manchmal denke ich, dass ich dich sehr mögen könnte.
Unsere Blicke trafen sich. Nicki sah sofort weg.
Ich dachte, dass auch ich sie sehr mögen könnte. Vielleicht tat ich es bereits.
Trotz allem. Vielleicht wegen allem. Weil wir beide wussten, wie es war, sich mies zu fühlen und den falschen Weg zu wählen, um damit fertig zu werden. Weil wir beide Dinge verheimlicht hatten, die wir einfach nicht zugeben konnten. Weil wir beide glauben wollten, dass es so etwas wie Vergebung gab.
Ich wrang mein Handtuch aus, ging zu der Gruppe hinüber und sagte Hi. Sie nickten mir zu, rissen ein paar Witze darüber, dass nächste Woche die Schule wieder anfing, und boten mir eine Zigarette an. Ich hatte völlig vergessen, wie es war, mit anderen zu reden – zumindest ungezwungen zu reden – und über ganz alltägliche Sachen zu quatschen. Doch wenn ich ins Stottern geriet oder den Faden verlor, sahen sie darüber hinweg und antworteten mir, als wäre ich ein normaler Mensch. Als gehörte ich zu ihnen. Ich wusste nicht, ob sie das mir oder Nicki zuliebe machten, doch nach ein paar Minuten bröckelte der Rost von meiner Stimme, und es gelang mir, wie ein menschliches Wesen zu klingen.
Nicki saß schweigend dabei. Ihr Gesicht hatte die Farbe eines gerade in heißem Wasser gekochten Hummers. Als der Wind ihr eine Haarsträhne gegen die Wange wehte, hätte ich sie ihr am liebsten aus dem Gesicht gestrichen.
»Wollen wir einen Spaziergang machen?«, fragte ich sie. Ihr Gesicht wurde noch röter als zuvor, was ich gar nicht für möglich gehalten hätte.
»Ja.«
Wir verabschiedeten uns von den andern und gingen den Pfad entlang, der zu unserm Haus führte. Sobald wir allein waren, sagte ich: »Das mit deinem Dad tut mir leid. Aber ich habe wirklich keine magischen Antworten für dich.«
»Ich weiß«, erwiderte sie. »Ist schon okay.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Jedenfalls halbwegs.«
»Und dir ist klar, dass du an dem, was er getan hat, keine Schuld hattest?«
»Das weiß ich. Nicht immer, aber meistens.«
»Aber es ist so. Du hattest nichts damit zu tun.«
»Danke«, sagte sie so leise, dass ich es fast nicht gehört hätte.
Mein Mund war auf einmal so trocken, dass ich es nicht schaffte weiterzusprechen, obwohl ich mir alle Mühe gab.
»Was ist?«, fragte sie und ich schüttelte den Kopf. Daraufhin machte sie halt. Ich blieb ebenfalls stehen und drehte mich zu ihr. Ich wollte vor allem eins: sie berühren – ihren Arm oder vielleicht ihren Rücken, und zwar auf die gleiche Weise, wie sie mich auf der Terrasse berührt hatte.
Ich wusste immer noch nicht genau, wie wir zueinander standen, aber es war auch noch nicht nötig, ein Etikett auf unsere Beziehung zu kleben. Bevor ich mit Sicherheit etwas sagen konnte, musste Vals Schatten weiter verblassen, doch ich meinte zu wissen, was mich danach erwarten würde. Ich versuchte, die Hand zu bewegen, und für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, die Glasscheibe sei wieder da und blockiere mich. Doch dann gelang es mir, den Arm zu heben, obwohl er sich steif und schwer wie Blei anfühlte, und Nicki die Hand auf die Schulter zu legen. Ich strich mit dem Daumen über den Saum ihres T-Shirts. Sie legte mir die Hand in den Nacken, über den immer noch Wasser aus meinen Haaren sickerte. »Du zitterst ja«, sagte sie.
»Ich weiß.«
Ihre Finger streichelten meinen Nacken, und ich merkte, dass nicht nur ich zitterte.
Nicht mal ansatzweise hatte ich das Gefühl, wie erstarrt zu sein. Ich spürte den rauen Stoff ihres T-Shirts und die Wärme ihrer Haut, spürte, wie ihre Schultern sich beim Atmen auf und ab bewegten. Wir schmiegten uns aneinander, und ich neigte den Kopf, um meine Stirn gegen ihre zu drücken. Es ängstigte mich, ihr so nahe zu sein, aber ich blieb, wo ich war. Ich rührte mich nicht von der Stelle.