15

Auf der langen Fahrt zum Patterson Hospital redeten wir nicht viel miteinander. Mir fiel ein, dass meiner Mutter dieser Weg wesentlich vertrauter war als mir. Ich hatte ihn nur zwei Mal zurückgelegt – bei meiner Einweisung und bei meiner Entlassung aus der Klinik –, sie hingegen unzählige Male, da sie mich regelmäßig besucht hatte.
Unterwegs fing es an zu regnen. Mein Haar war noch vom Wasserfall nass. Nachdem Mom die Klimaanlage angestellt hatte, trockneten mir allmählich Augen und Mund aus. Trotz des kalten Zugs, der mir gegen Kinn und Hals blies, wurde mir immer wärmer. Die Luft roch modrig und nach abgestandenem Zigarettenrauch, obwohl meines Wissens in diesem Auto noch nie jemand geraucht hatte. Ich drehte die Düse von meinem Gesicht weg.
»Jake wird sich freuen, dich zu sehen«, sagte meine Mutter.
»Hm«, erwiderte ich. Ich überlegte, ob Val wohl da sein würde, wobei ich nicht wusste, ob sie das mit Jake überhaupt schon mitgekriegt hatte. Ich hätte sie anrufen sollen, doch bei dem Gedanken, mit ihr zu sprechen, krampfte sich mir der Magen zusammen. Sofort musste ich wieder daran denken, dass sie vor mir zurückgewichen war, dass sie gesagt hatte: »Vielleicht mag ich dich dafür nicht genug.« Ich sah vor mir, wie ich ihr die Finger ums Handgelenk gelegt hatte, spürte ihre Haut, vergegenwärtigte mir die Nähe ihres Gesichts, als sie den Kopf abgewandt hatte … Verdammt. Ich wollte nicht an sie denken. Nicht jetzt. Ich schloss die Augen und versuchte, mir den Wasserfall, den Steinbruch oder sonst was vorzustellen. Jake. Ich war auf dem Weg zu Jake. Ich musste mich am Riemen reißen, um für Jake da zu sein.
Das Erste, was mir beim Betreten der Klinik auffiel, war der Geruch. Selbst mit geschlossenen Augen hätte ich sofort gewusst, wo ich mich befand. Es roch nach Schweiß und Putzmitteln, verbrauchter Luft und Essen, das vor Stunden zubereitet worden war. Außerdem stank es nach Angst. Als Zweites nahm ich das Piepen und Summen der Türsicherungen wahr, das dumpfe Zufallen der Türen und das bläuliche Neonlicht in den Gängen. Es kam mir vor, als sei ich vor hundert Jahren hier gewesen, und gleichzeitig hatte ich das Gefühl, als sei es nur ein paar Tage her.
Mir schoss durch den Kopf, dass mein altes Zimmer nicht mehr mir gehörte und dass jetzt jemand anders dort untergebracht war. Und obwohl ich in keiner Weise das Bedürfnis hatte, in die Klinik zurückzukehren, wurde mir bei diesem Gedanken eiskalt. Das ergab natürlich überhaupt keinen Sinn, aber andererseits rechnete ich schon lange nicht mehr damit, dass mein Leben einen Sinn ergab.
Sie ließen mich nicht zu Jake. Ich hatte völlig vergessen, dass es hier die Regel gab, dass man in den ersten Tagen keinen Besuch empfangen durfte.
»Könnten Sie ihm dann sagen, dass ich hier war?«, fragte ich Marybeth, die am Empfang saß. Meine Mutter schnaubte vor Empörung. Sie hatte bereits gegen besagte Regelung protestiert und darauf hingewiesen, welchen weiten Weg wir zurückgelegt hatten, doch all das beeindruckte Marybeth nicht im Geringsten.
»Wenn du möchtest, kannst du ihm ja ein paar Zeilen schreiben«, schlug Marybeth mir vor.
»Das ist eine gute Idee«, sagte Mom. »Gleich um die Ecke ist ein Laden, wo es Glückwunschkarten und so was gibt, Ryan. Warum sehen wir uns da nicht mal um?«
Wir gingen in den Laden, doch ich hatte keine Ahnung, was für eine Art Karte ich kaufen sollte. Beste Genesungswünsche? Kopf hoch? Sorry, dass du wieder in der Klapse bist? Schließlich entschied ich mich für eine Karte mit einer furzenden Eidechse, weil mich die an die beknackten Sachen erinnerte, die wir uns immer zumailten. Meine Mutter kaufte eine überdimensionale Glitzerkarte mit Rosen, was ich irgendwie merkwürdig fand, da sie Jake kaum kannte. Aber vermutlich kannte sie seine Mutter – wie gut, entzog sich meiner Kenntnis, obwohl ich den Verdacht hatte, dass sie öfter miteinander sprachen, als mir bewusst war. Allmählich wurde mir klar, wie viel ich nicht wusste. Wie viel hinter den Kulissen vor sich ging, ohne dass ich etwas davon merkte.
Nachdem wir die Karten am Empfang abgegeben hatten, schickte ich Val eine SMS, um ihr das mit Jake mitzuteilen. Nach einer Weile stellte ich mein Handy ab, da ich so angestrengt auf das Klingeln lauschte, dass mir die Ohren wehtaten.
Mom ging mit mir zum Lunch in einen Diner, wo sie ihr Essen wie üblich auf dem Teller arrangierte. Ich quetschte Ketchup aus einer schmierigen Plastikflasche, tunkte eine Fritte in den roten Klecks und gab mir alle Mühe, die geometrischen Exerzitien meiner Mutter zu ignorieren. Während sie ihren Obstsalat aß, berührten ihre Lippen nicht ein einziges Mal die Gabel; bei jedem Bissen bleckte sie die Zähne.
»Ich bin froh, dass Dr. Briggs bald wieder da ist«, sagte sie.
»Wieso? Brauchst du Hilfe, um deinen verrückten Sohn unter Kontrolle zu halten?«
Das sagte ich einfach so dahin. Val, Jake oder Nicki hätten dabei noch nicht mal mit der Wimper gezuckt. Doch meine Mutter fuhr zusammen, als hätte ich ihr mit meiner sauren Gurke ins Auge gestochen.
»Sorry«, sagte ich.
Sie legte ihre Gabel hin. »Vielleicht ist dir nicht ganz klar, Ryan, dass das mit deiner Krankheit nicht leicht für mich war.«
»Hab ich nie angenommen.«
Sie sah mich starr an. Ich pulte am Rand meines Sandwichs herum.
»Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, wie dein Vater und ich uns gefühlt haben, als du so krank warst?«
Ich dachte daran, wie ihr Mund immer zitterte, wenn sie mich ansah, dachte an die lautstarken Auseinandersetzungen am Telefon, als sie mit der Versicherungsgesellschaft über die Deckung meiner Behandlungskosten gesprochen hatte, dachte an den Seufzer, den sie jedes Mal unwillkürlich ausstieß, wenn sie mich in Dr. Briggs’ Praxis ablieferte. Und ich dachte an das Gesicht, das mein Vater gemacht hatte, als er mich in der Garage erwischte, sowie an die Falte, die zwischen seinen Augen entstand, wenn er meinen Mund inspizierte, um sich zu vergewissern, dass ich meine Pille geschluckt hatte.
Einmal hatte ich zufällig einen Streit meiner Eltern mitgehört. Meine Mutter hatte geschrien: »Natürlich wusste ich nicht, dass er in der Garage ist!«, worauf mein Vater erwidert hatte: »Ich gebe dir ja keine Schuld …« Um den Rest nicht hören zu müssen, hatte ich mir Kopfhörer in die Ohren gestöpselt und Musik angestellt.
»Weißt du überhaupt«, sagte meine Mutter jetzt, »wie das war, als wir dich in dieser Klinik lassen und ohne dich nach Hause fahren mussten? Dass wir uns ständig gefragt haben, was wir falsch gemacht hatten?«
»Es hat nichts mit euch zu tun«, sagte ich in Richtung meines Tellers, auf dem der Rest meines Schinkensandwichs lag.
»Was?«
»Ich meine, es ist nicht eure Schuld.« Ich hob den Kopf und sah sie an. Ihr Gesicht war voller roter Flecken.
»Weißt du, was es heißt, einen Sohn zu haben, der sich umbringen will? Nein? Dann werde ich’s dir verraten.« Die Worte sprudelten ihr aus dem Mund, als hätten sie ein Eigenleben, als könnte sie sie nicht länger zurückhalten. Die Leute am Nebentisch sahen sich nach uns um, doch meine Mutter, die ausnahmsweise mal nicht darauf achtete, ob jemand in der Nähe war und alles mitbekam, redete einfach weiter. »Das ist das Schlimmste, was du dir vorstellen kannst. Du kannst dich nicht auf deine Arbeit konzentrieren. Du kannst nicht schlafen.«
Ich zermatschte eine kalte Fritte im Ketchup und wünschte inständig, sie würde den Mund halten. Wie ein eisiger Nebel stiegen Schuldgefühle in mir auf. Ich war noch nicht so weit, mir all das anzuhören. Vor allem jetzt nicht, da Jake wieder in der Klinik war und Val mir einen Korb gegeben hatte und Dr. Briggs noch im Urlaub war. Trotzdem hörte ich zu, weil ich wusste, dass ich mir das selbst eingebrockt hatte.
»Am liebsten möchtest du ihn beim Genick packen und durchschütteln, damit er dir verspricht, gesund zu werden. Und dann hasst du dich, weil du diesen Wunsch hattest. Du möchtest ihn zurechtbiegen, kannst es aber nicht. Und was noch viel schlimmer ist: Auch die sogenannten Experten können dir nicht garantieren, dass sie es schaffen, ihn wieder zurechtzubiegen.«
Auf dem Tisch hatte jemand Salz verstreut. Ich presste meine Finger in die weißen Körnchen und grübelte über den Ausdruck »wieder zurechtbiegen« nach. Das Kältegefühl in mir nahm zu.
»Du weinst die ganze Nacht, und wenn du ihn am nächsten Tag besuchst, weigert er sich, mit dir zu reden.« Ihre Stimme wurde immer schriller. »Und wenn er was sagt, dann nur, dass er sterben möchte. Du fragst ihn, warum, worauf er sich einfach auf dem Bett zusammenrollt und die Hände gegen die Ohren presst.«
Die Salzkristalle bohrten sich in meine Haut. Ich gab mir alle Mühe, ihr weiterhin zuzuhören, weil ich ihr das schuldig war. Doch in meinen Ohren setzte ein eigenartiges Rauschen ein, das ihre Stimme dämpfte.
»Du durchsuchst sein Zimmer und entdeckst, dass er genug Schmerzmittel gehortet hat, um einen Elefanten zu töten. Wenn du versuchst, mit ihm zu reden, kratzt er sich lediglich den Kopf oder die Arme. Du versicherst ihm, dass du immer für ihn da bist, aber er sieht dich noch nicht einmal an.«
Auch jetzt konnte ich sie nicht ansehen. Ich drückte noch fester auf die pikenden Salzkörnchen. Meine Atemgeräusche hallten in meinem Kopf wider, während die Kälte bis zu meinen Knochen vordrang.
»Die Ärzte teilen dir mit, er habe Depressionen. Und das nach allem, was du für ihn getan hast. Seine Windeln hast du gewechselt, und mitten in der Nacht bist du aufgestanden, um sein Erbrochenes wegzuwischen. Du hast ihm alles gegeben, was er haben wollte. Aber offenbar war das nicht genug. Du hast dein Bestes getan, aber es war nicht genug.«
Mittlerweile sprach sie immer abgehackter. Vielleicht war sie aber auch kurz davor, in Tränen auszubrechen, und hatte ihre Stimme nicht mehr unter Kontrolle. »Er hat Depressionen. Warum hat er Depressionen? Die Ärzte können es dir nicht sagen. Er will es dir nicht sagen.«
Ich streute Pfeffer neben das Salz. Sie legte ihre Hand auf meine. Ich fuhr erschrocken zusammen. Ihre Hand war kühl und feucht. Als ich die Feuchtigkeit auf meiner Haut spürte, fing diese an zu jucken. »Ryan«, sagte sie.
»Ich weiß nicht, warum ich Depressionen hatte«, erwiderte ich. Es hatte nicht nur daran gelegen, dass Amy Trillis mich gehasst hatte beziehungsweise – was noch schlimmer war – gemeint hatte, dass ich es noch nicht mal wert sei, gehasst zu werden. Es hatte nicht nur daran gelegen, dass ich fast alles verloren hatte, was mir etwas bedeutete: Baseball, Joggen, meine alte Wohngegend, meine alte Schule.
»Danach habe ich dich gar nicht gefragt. Warum hörst du mir denn nicht zu?«
Hatte sie nicht genau danach gefragt? Obwohl ich ihr zuhörte, war nach wie vor diese Kluft zwischen uns, diese Glasscheibe. Wenn sie keine Erklärung von mir haben wollte – die gleiche Erklärung, die Nicki von ihrem Vater haben wollte –, was wollte sie dann?
Sie schluckte schwer und fuhr fort: »Dann kommt dein Sohn aus der Klinik zurück. Du suchst dir einen Job, der es dir erlaubt, ständig mit ihm zu Hause zu sein, obwohl er sich bei jeder Gelegenheit in den Wald verdrückt. Du hast Angst, ihn aus den Augen zu lassen, tust es aber trotzdem, weil er wieder unter Menschen muss und sein Leben selbst bestimmen sollte. Zumindest behauptet das sein Vater, und du hoffst, dass er recht hat. Das Problem dabei ist, dass du unter ständiger Spannung stehst, die nie nachlässt. Nie.«
Ich senkte den Kopf, wie Val es oft tat, während meine Mutter weiterredete. Und weiterredete. Anscheinend sagte sie all das, was sie mir seit jener Nacht in der Garage hatte sagen wollen. Ihre Stimme prasselte auf mich ein wie der Wasserfall, unter den ich mich immer stellte. Ich zählte die Salz- und Pfefferkörnchen, die auf dem Tisch lagen, und war nicht mehr in der Lage, ihren Worten irgendeine Bedeutung abzugewinnen.
Die Glasscheibe zwischen uns wurde so dick, dass ich meine Mutter nicht mehr hören konnte. Ich hörte nichts mehr, ich fühlte nichts mehr. Die Übelkeit in meinem Magen verdichtete sich zu einem schweren Klumpen.
Abrupt hörte Mom auf zu reden. Dann sah sie sich im Restaurant um, als sei sie gerade von Außerirdischen hier abgesetzt worden und müsse herausfinden, wo sie sich befand. Anschließend drehte sie sich mir wieder zu und schaute mich mit erwartungsvollem Blick an. Doch ich brachte kein Wort heraus.
»Hörst du mir noch zu, Ryan?«, fragte sie.
Ich verrieb das Salz auf dem Tisch, spürte jedoch kein Piken mehr. Es fühlte sich nur noch tot und glatt an.
Sie wischte sich den Mund ab und nestelte an ihrer Serviette herum. »Verdammt noch mal. Eigentlich wollte ich damit bis zum nächsten Besuch bei Dr. Briggs warten.« Das letzte Mal hatte ich meine Mutter fluchen hören, als meine Eltern mich in die Klinik gebracht hatten, doch selbst dieser ungewohnte Ausbruch hinterließ noch nicht mal einen Kratzer auf der Glasscheibe. Sie schob mir mein Glas Wasser hin. »Trink einen Schluck. Bist du okay?«
Ich starrte auf das Glas und dachte bei mir Wasser, Wasser, um mir in Erinnerung zu rufen, was das eigentlich war. Um in die Gegenwart und das Restaurant zurückzufinden. Ich sehnte mich danach, mich vom Wasserfall aus meiner Erstarrung reißen zu lassen. Gleichzeitig fiel mir ein, dass Dr. Briggs von einer Extrasitzung zusammen mit meiner Mutter gesprochen hatte, eventuell im September.
»Verdammt noch mal. Das habe ich völlig falsch angepackt.« Mom klaubte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich wollte dir nur sagen … dass ich wünschte, wir hätten gewusst, was wir tun sollen … dass wir unser Bestes getan haben … und das wollte ich auf die richtige Weise sagen … und dann diese Sache mit Jake … da bin ich einfach … als ich wieder in dieser Klinik war …«
Mom stützte den Ellbogen auf den Tisch und bedeckte die Stirn mit der Hand, sodass ich ihr Gesicht nicht sehen konnte. Ich hatte wieder mal alles vermasselt. Und obwohl mein Inneres zu Eis erstarrt war, spürte ich, wie heiße Schuldgefühle in mir aufstiegen. Ich konnte nur vermuten, um wie viele Jahre ich das Leben meiner Mutter bereits verkürzt hatte. Alles, was ich jetzt sagte, würde es nur noch schlimmer machen.
Mom hob den Kopf und versuchte, ein paar Papierservietten aus dem silbernen Spender zu ziehen, der jedoch so vollgestopft war, dass die Servietten zerrissen. Sie fummelte und kratzte am zerfetzten Papier herum, bis ich auf den Hebel drückte, damit sie eine ganze Lage herausziehen konnte.
Nachdem sie sich erneut den Mund abgewischt hatte, sah sie mich mit müdem Blick an. »Kannst du mir vergeben?«
»Dir vergeben?«, entgegnete ich überrascht und auch bestürzt, denn darum ging es nicht.
Überhaupt nicht.
Während wir zum Auto zurückgingen, legte sie den Arm um mich, um mich unbeholfen an sich zu drücken – eine Geste, die ich nicht erwiderte. Die Glasscheibe war inzwischen so dick, dass ich kaum noch etwas hörte und lautlos den Bürgersteig entlangzugehen schien. Wie aus weiter Ferne drang das Gehupe von Autos an mein Ohr. Die Stimme meiner Mutter konnte ich überhaupt nicht mehr hören.
Den Rest des Tages gingen meine Mutter und ich uns aus dem Weg.
Ich joggte durch den Wald, bis ich zum Steinbruch kam, wo ich mich keuchend gegen die verrosteten Überreste des Maschendrahtzauns lehnte, ohne zu wissen, ob sie mein Gewicht aushalten würden. Verzweifelt versuchte ich, alle Gedanken aus meinem Kopf zu verscheuchen, denn ob ich nun an Val, Jake oder meine Eltern dachte – jedes Mal hatte ich das Gefühl, gegen eine scharfe Kante zu prallen, die mich aufzuschlitzen drohte.
Als ich am Nachmittag in meinem Wandschrank nach einem Sweatshirt suchte, warf ich einen Blick nach oben und sah ein Stück pinkfarbenen Pullover aus der Einkaufstüte lugen. Toll. Genau das hatte mir noch gefehlt. Ich spielte mit dem Gedanken, die Tüte samt Inhalt zum Steinbruch mitzunehmen und in den Abgrund zu werfen, aber damit würde ich das Ganze nicht wirklich aus der Welt schaffen. Ich langte nach oben, schob den Pullover wieder in die Tüte und machte diese fest zu.
Am Abend ging ich früh zu Bett. Noch bevor ich eingeschlafen war, klingelte mein Handy: Val.
»Ja«, sagte ich, mit dem Handy am Ohr im Dunkeln liegend.
»Du durftest also nicht mit Jake sprechen? Weißt du, wie es ihm geht?«
»Nein. Wir durften nur Karten für ihn abgeben.«
»Gott, ich hatte befürchtet, dass er so was anstellen würde. Erst gestern …«
»Ich weiß. Ich war dabei.«
Sie schwieg eine Weile. Ich presste mir das Handy noch fester ans Ohr.
»Und wie steht es mit dir, Ryan? Bist du wirklich okay?«
»Ja.«
»Bist du sicher? Mir ist klar, dass das gestern irgendwie … ungünstig gelaufen ist. Ich will nicht, dass du dich verletzt fühlst. Besonders jetzt nicht.«
Ich schloss die Augen, weil ich sie auf diese Weise so deutlich vor mir sah, dass ich sie hätte berühren können …
Aber nur fast.
Da war es wieder, dieses Fast, diese nicht zu überbrückende Kluft, die alles, was ich wollte, unerreichbar machte. »Na, hör mal, Val«, sagte ich mit rauer Stimme, »was denkst du denn? Dass ich mich deinetwegen umbringen würde?«
»Nein, ich …«
»Mach dir Sorgen um Jake, nicht um mich.«
»Ich mache mir Sorgen um euch beide. Mir Sorgen zu machen ist so meine Art, weißt du das nicht mehr?« Ihre Stimme war ganz brüchig geworden, was mich an ihre schlimmsten Tage in der Klinik erinnerte und daran, dass auch sie ihre Schwachpunkte hatte.
»Doch, doch«, erwiderte ich, während mein Zorn verrauchte. »Wie geht es dir so?«
»Gut, glaube ich. Manchmal hab ich eine Heidenangst, und manchmal bin ich wegen Jake so fertig, dass ich ihm am liebsten ein bisschen Hoffnung in den Schädel rammen würde, aber im Großen und Ganzen … bin ich okay. Ich komponiere, das hilft.«
Obwohl wir nicht mehr viel sagten, blieben wir beide am Telefon – so wie wir früher in der Klinik immer zusammengesessen hatten, im Aufenthaltsraum, im Garten oder auf dem hässlichen Sofa im Gang. Wir hatten es immer geschafft, uns gegenseitig Kraft zu geben, und ich konnte es nicht ertragen, dass sie das, was wir füreinander empfanden, nicht vertiefen wollte, dass ihr das, was zwischen uns war, reichte, dass nicht auch sie das Verlangen hatte, mehr daraus zu machen. Aber gestern hatte sie die Grenze zwischen uns festgelegt und das würde ich respektieren. Diesmal war ich derjenige, der sagte: »Ich muss Schluss machen.«
»Gute Nacht, Ryan«, erwiderte sie.
Als ich auflegte, kam mir das Klicken vor wie das Zerreißen eines Fadens.
Am nächsten Morgen lag mir all das noch im Magen wie eine unverdaute Mahlzeit. Trotzdem stand ich auf und ignorierte das Völlegefühl in meinem Innern.
Im Moment war ich einfach nicht in der Lage, mir Gedanken über meine Mutter, Jake, Val oder sonst jemand zu machen. Ich würde joggen gehen, und nach dem Lunch hatte ich eine Verabredung, um mit einem Toten zu sprechen.