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Am Abend stand ich auf der Terrasse und spähte in die Dunkelheit, um Ausschau nach Fledermäusen und Glühwürmchen zu halten. Dabei beugte ich mich so weit über die Brüstung, dass mir das Blut in den Kopf stieg.
Plötzlich riss mich die Stimme meiner Mutter aus meinen Beobachtungen. »Was machst du denn da, Ryan?«
Abrupt richtete ich mich auf, wobei mir leicht schwummerig wurde. »Nichts.« Das war die Antwort, die ich immer gab, damit sie sich nicht unnötig aufregte. Dad und ich hatten da so etwas wie ein stillschweigendes Abkommen.
Sie stand mit verkniffenem Gesicht an der Tür. »Ich habe gefragt, was du da machst.«
»Jedenfalls habe ich nicht die Absicht, nach unten zu springen, falls du das befürchten solltest.« Die Terrasse lag ebenerdig. Selbst ich war nicht so blöd, aus einer derart geringen Höhe einen Selbstmordversuch zu unternehmen. Schlimmstenfalls würde ich mir dabei das Fußgelenk verstauchen.
Sie zuckte zusammen.
»Tut mir leid«, sagte ich.
Wenn ich so etwas in Gegenwart von Dr. Briggs gesagt hätte, hätten meine Mutter und ich unser gesamtes Gespräch auseinandernehmen müssen, um jede verborgene (und auch jede offenkundige) Bedeutung herauszuklamüsern. Warum hatte ich das gesagt? Wie wirkte es auf meine Mutter? Warum war sie zusammengezuckt? Was meinte ich dazu, dass sie zusammengezuckt war? In den Tagen unmittelbar nach meiner Entlassung aus der Klinik hätte Mom mir eine solche Bemerkung nie durchgehen lassen. Jetzt wechselte sie lediglich das Thema.
»Morgen kommt dein Vater nach Hause – falls diese Unwetter in New York ihn nicht aufhalten. Natürlich wäre es mir lieber, man würde den Flug streichen, statt bei einem solchen Wetter zu fliegen. Ich weiß noch nicht einmal, ob sein Flugzeug in London überhaupt die Starterlaubnis bekommt, wenn es hier drüben so stürmt und gewittert …«
Nach einer ausführlichen Analyse des Wetters und des Flugverkehrs auf beiden Seiten des Atlantiks verstummte sie. »Möchtest du nicht reinkommen?«, fragte sie zum Abschluss.
»Noch nicht.«
Nach kurzem Zögern schob sie von innen die Glastür zu, blieb aber im Wohnzimmer stehen und wartete. Ich wartete ebenfalls, doch sie rührte sich nicht von der Stelle. Ich hasste es, so beobachtet zu werden.
Meine Beinmuskeln verkrampften sich. Als ich die Beine ausschüttelte, wurde mir plötzlich klar, dass ich unbedingt wieder joggen gehen wollte. Schon seit Monaten spielte ich mit dem Gedanken, wieder damit anzufangen, doch immer, wenn ich kurz davor war, es wirklich zu tun, hielt mich etwas davon ab. Es war stets, als hinge eine Glasscheibe vor mir, gegen die ich knallen würde, wenn ich mich zu schnell bewegte. Doch heute Abend hatte ich das Gefühl, nur von sommerlicher Luft umgeben zu sein.
Als die Mücken mich schließlich schneller stachen, als ich sie erschlagen konnte, kehrte ich ins Haus zurück. »Na«, sagte Mom in munterem Ton, »gehst du jetzt ins Bett?«
»Denke schon.«
Sie sah mir hinterher, während ich die Treppe hochstieg. »Die Show ist vorbei«, murmelte ich, aber so leise, dass sie es nicht hören konnte.
Oben in meinem Zimmer checkte ich als Erstes meine Mails. Ich hätte Val gern von Nickis Plan erzählt, um zu hören, ob sie die ganze Idee für genauso verrückt hielt wie ich, aber sie war nicht erreichbar.
Nicki hatte mich zu sich nach Hause bestellt. Kent würde uns nach Seaton fahren und dort absetzen. Nicht dass Kent gewusst hätte, dass wir auf geheimer übersinnlicher Mission unterwegs waren, um seinen toten Vater zu kontaktieren. Er hatte ohnehin was in der Stadt zu tun, und Nicki hatte gedroht, mir die Augen auszukratzen, falls ich ihm erzählte, wo wir hinwollten.
Die Thorntons wohnten unten an der Route 7, in einem Schuhkarton von Haus mit einem Rasen, der mehr aus nackter Erde als aus Gras bestand. Irgendjemand hatte mal einen Haufen Mulch oder Kompost dort abgeladen, als habe er was damit vor, doch der lag schon so lange da, dass er inzwischen mit Unkraut überwachsen war.
Als Kent mich zusammen mit Nicki sah, zog er die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Er klimperte nur mit den Schlüsseln und nickte auffordernd in Richtung Auto. Nicki setzte sich nach vorn und schaltete das Radio ein. Ich nahm hinten Platz. Sie stellte die Musik so laut, dass Kent, selbst wenn er gewollt hätte, sich nicht mit uns hätte unterhalten können. Die Straße vor uns flimmerte in der Hitze.
Ich versuchte, an Nickis Hinterkopf irgendetwas abzulesen – ob sie angespannt war oder voller Hoffnung oder beunruhigt –, aber es gelang mir nicht. Als ich dann versuchte, mir das Medium vorzustellen, gelang mir das auch nicht so recht. Irgendwie hatte ich eine Frau in wallenden Gewändern vor Augen, die sich über eine Kristallkugel beugte, fragte mich aber, ob das nicht genau so ein Klischee war wie das von den Ärzten in Fernsehserien, die mit einem HNO-Spiegel auf dem Kopf herumliefen und Hausbesuche machten.
Kent setzte uns an der Post ab. Seaton war ein typisches Beispiel für die Behauptung, Amerika werde immer mehr zu einer einzigen Reihe von Kettenläden. Es gab Tankstellen, Fast-Food-Restaurants, Reinigungen und riesige Supermärkte, das heißt nichts, was man nicht auch an tausend anderen Orten hätte finden können. Wenn man an Gedächtnisverlust litt und in Seaton wieder zu sich kam, hätte man keinen blassen Schimmer, in welchem Teil des Landes man sich überhaupt befand.
Die heiße Augustluft waberte über der Straße und versengte mir förmlich die Lunge. Ich wünschte, wir wären auf der Terrasse unseres Hauses gewesen, um dem Gesang der Zikaden zu lauschen. Oder am Wasserfall, um uns mit kalter Gischt bespritzen zu lassen.
Nicki verschlang die Finger ineinander und sagte mit zitternder Stimme: »Dann wollen wir mal.« Am liebsten hätte ich ihre Hand genommen, um sie zu beruhigen, sah aber keine Möglichkeit, meine Hand zwischen ihre nervös verkrampften Finger zu schieben. Außerdem fasste ich nie jemanden an.
An der Post bogen wir in eine Nebenstraße ab, die von Lagerhäusern gesäumt wurde. Der Wind wirbelte uns leere Plastiktüten und Einwickelpapier um die Füße. Der Bürgersteig war voller Risse, aus denen Unkraut wuchs. Die Sonne knallte uns auf die Schultern und mein T-Shirt war bereits klatschnass. Auf Nickis Haut hatten sich Schweißtropfen gebildet.
Ich war gespannt, wie dieses Medium vorgehen, was sie sagen und ob es mir gelingen würde, ihr auf die Schliche zu kommen. »Regel Nummer eins«, erklärte ich, »ist, dass du ihr nichts erzählst. Sie muss dir was erzählen.«
»Weiß ich! Gib ihr einfach eine Chance.«
Wir kamen zu einer Reihe niedriger Häuser aus Ziegelstein, die von Maschendrahtzäunen umgeben waren, und Nicki machte sich daran, die Hausnummern durchzuzählen. Am liebsten hätte ich sie gefragt, warum diese Frau, wenn sie so begabt war, nicht die Lottozahlen vorhersagte, damit sie in eine bessere Gegend ziehen konnte, aber das verkniff ich mir. Außerdem nahm ich an, dass Medien dauernd diese Frage zu hören bekamen, für die sie wahrscheinlich eine Standardantwort parat hatten.
»Hier ist es«, sagte Nicki. Eine Tüte, in der mal Käsecracker gewesen waren, blieb an ihrem Fuß kleben. Wir gingen zur Haustür und Nicki drückte auf die Klingel.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte ich.
»Ja«, fuhr sie mich an.
Mit den wallenden Gewändern und der Kristallkugel hatte ich total falschgelegen. Wir wurden auch nicht in ein dunkles Zimmer geführt, in dem es nach Weihrauch roch und leise unheimliche Musik erklang. Stattdessen empfing uns eine kleine rundliche Frau mit Brille. Sie erinnerte mich an Jakes Großmutter, die ihn regelmäßig in der Klinik besucht hatte. Wir kamen in ein Wohnzimmer, wo auf Wandregalen Zigtausende von Porzellanfigürchen standen: Schneemänner, Ballerinen, Hunde, Katzen, Pferde, Einhörner, Blumen … Ich verdrehte mir fast die Augen, als ich versuchte, sie alle in den Blick zu bekommen.
Während Nicki und ich die Figuren anstarrten (die irgendwie zurückzustarren schienen), stand das Medium schweigend vor zwei eierschalenfarbenen Sofas und wartete. Anscheinend hatte sie die Erfahrung gemacht, dass ihre Klienten erst einmal den Figürchen-Schock verdauen mussten.
»Wow«, sagte Nicki schließlich.
»Gefallen sie dir?«
»Äh … klar. Die sind ganz süß.«
»Du bist sicher Nicki«, sagte das Medium und sah mich anschließend fragend an.
Um ihre Kräfte zu testen, wollte ich, dass sie von selbst draufkam, wer ich war, doch Nicki sagte: »Das ist mein Freund Ryan.«
»Willkommen. Bitte setzt euch.«
Wir ließen uns auf einem der Sofas nieder, das so muffig roch, als wäre dieses Zimmer jahrzehntelang nicht gelüftet worden.
»Danke, dass ich zu Ihnen kommen durfte, Mrs Hale. Oder haben Sie … wie soll ich Sie denn anreden?« Nickis Stimme war um eine Oktave hochgeschnellt, als wäre sie jünger geworden, seit wir das Haus betreten hatten. Sie presste die Hände gegeneinander.
»Bitte sag Andrea zu mir«, erwiderte das Medium.
Andrea Hale. Dann nannte sie sich also nicht Madame Zorelda oder so. Und sie lächelte weiterhin auf ihre großmütterliche Art, als wolle sie uns frisch gebackene Kekse anbieten statt einer Audienz bei den Toten.
Nicki kramte in der Tasche ihrer Shorts und zog ein paar zerknitterte Scheine heraus. Erst mal Geld auf den Tisch, klar.
Nachdem Andrea das Geld in einer Schublade verstaut hatte, setzte sie sich auf das andere Sofa. »Mit wem möchtet ihr denn sprechen?«
»Sollten Sie uns das nicht sagen?«, warf ich ein.
Andrea lächelte. »Es gibt viele Seelen, die vielleicht mit euch sprechen möchten. Wir würden Zeit sparen, wenn ich mich auf jemand Speziellen konzentrieren könnte.«
Obwohl ich kein Wort von dem, was sie von sich gab, glaubte, bekam ich eine leichte Gänsehaut, als sie das mit den Seelen sagte, die angeblich mit uns sprechen wollten. Als würden sich Horden von Toten an den Toren drängen. Vielleicht würden sie ja in die Figürchen fahren, sodass unzählige kleine Porzellantiere durchs Zimmer schwirren würden.
»Mit meinem Dad«, sagte Nicki und räusperte sich. »Sein Name war Philip Thornton.«
Andrea nickte und schloss die Augen.
Im Hintergrund knackte und klapperte eine alte, am Fenster angebrachte Klimaanlage. Nicki zitterte, doch nicht vor Kälte, denn in diesem muffigen Zimmer mussten mindestens dreißig Grad sein. Ich warf einen Blick auf die Regale, auf all die Porzellanfigürchen mit ihren starren schwarzen Augen, und sah rasch wieder weg.
Andreas Stirn legte sich in Falten, ihre Lippen gerieten in Bewegung. Nicki hielt die Luft an, bis sie es nicht mehr aushielt und laut durchatmete. Ich schob mein Knie in ihre Richtung, ohne sie zu berühren – nur um sie daran zu erinnern, dass ich bei ihr war.
Andreas Augen blieben geschlossen. Draußen auf der Straße rumpelte ein Lastwagen vorbei und brachte das Haus zum Beben. Die Porzellanfigürchen klirrten. Erneut stellte ich mir vor, wie sie zum Leben erwachten. Vielleicht rannten sie nachts ja wild im Haus herum. Dann wurde mir klar, dass ich, wenn ich weiterhin solche Überlegungen anstellte, wieder in der Klinik landen würde.
»Philip ist da«, verkündete Andrea.
Rasch blickte ich im Zimmer umher, um nach einem Schatten oder Nebel oder einer Luftbewegung zu suchen. Fehlanzeige.
Nicki atmete tief durch, an ihren Wimpern hingen Tränen. Ich hoffte inständig, dass sie nicht zu schnell an all das glaubte, dass sie nicht in den Teich sprang, ohne sich vergewissert zu haben, ob er überhaupt Wasser enthielt. »Äh … ja«, sagte sie. »Erinnert … erinnert er sich an mich?«
Schweigen. Dann lächelte Andrea. »Ja, natürlich. Du bist seine Tochter. Er würde dich nie vergessen.« Sie kicherte. »Er lacht, weil du annimmst, er könnte dich vergessen. Aber eigentlich ist er traurig. Weil ihr nicht mehr Zeit zusammen verbracht habt.«
Nickis Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen, bis ihre Haut sich bläulich färbte. »Fragen Sie ihn, warum er es getan hat.«
»Warum er es getan hat«, wiederholte Andrea, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte.
Tja, dachte ich, viele Anhaltspunkte gibt das nicht gerade her, was, Andrea? Jetzt musst du dir aber schnellstens was einfallen lassen!
»Ja«, sagte Nicki mit fester Stimme.
»Er glaubt nicht …«, stammelte Andrea. »Er kann es nicht erklären. Er möchte … Es ist sehr kompliziert, und er ist sich nicht sicher, ob du es verstehen würdest …«
»Ich verstehe es nicht. Deshalb bin ich ja hier.« Nicki strich sich mit der Hand über die Wange, um die Tränen abzuwischen.
»Er lässt dir sagen, dass er dich liebt.«
»Ja, das weiß ich! Das weiß ich doch. Ich will wissen, warum er …« Bevor Nicki mehr verraten konnte, trat ich ihr auf den Fuß. Sie sah mich wütend an. Ihr Gesicht war voller Flecken, ihre Augen hatten sich gerötet. »Ich will wissen, warum er getan hat, was er getan hat.«
Andrea runzelte die Stirn, als könne sie eine Antwort daraus hervorquetschen. »Es tut ihm leid«, verkündete sie schließlich.
»Das sagt mir nichts!« Beim letzten Wort brach Nicki die Stimme, was mir durch und durch ging. Ich hatte gewollt, dass sie einsah, wie nutzlos das alles war, und erkannte, dass Andrea eine Schwindlerin war. Doch jetzt wollte ich, dass Andrea eine Verbindung zu Nickis Vater herstellte – oder zumindest irgendetwas Überzeugendes von sich gab. Mit angehaltenem Atem konzentrierte ich mich auf Andreas Gesicht und versuchte, ihr meine Gedanken zu übermitteln.
»Er … seine Stimme wird immer schwächer. Mal sehen, ob ich ihn wieder deutlicher empfangen kann.«
Ja, streng dich an, dachte ich. Nun mach schon, Andrea.
Die Klimaanlage schepperte und ächzte. Nicki leckte sich schniefend über die Oberlippe. Es zuckte mir so in den Beinen, dass ich am liebsten aufgesprungen und davongerannt wäre.
»Daddy«, sagte Nicki.
In dem Moment schaltete ich mich ein.
»Fragen Sie ihn, ob es ein Versehen war«, sagte ich.
Andrea zögerte.
»Fragen Sie ihn, ob er vielleicht gar nicht so weit gehen wollte«, fügte ich hinzu.
Kurz darauf nickte Andrea. »Ungefähr so war es, sagt er.«
Nicki zog scharf den Atem ein.
»Fragen Sie ihn, ob er damals einfach keinen anderen Ausweg gesehen hat«, fuhr ich fort. Wie lange würde es denn noch dauern, bis Andrea die Anspielungen verstand? »Vielleicht war ihm ja nicht klar, dass alles wieder besser werden könnte.«
»Er war so in seinem Schmerz gefangen«, sagte Andrea, die endlich begriffen hatte, »dass er die Konsequenzen seines Tuns nicht erkennen konnte.«
Jetzt, wo ich einmal damit angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. »Fragen Sie ihn, ob er einfach nicht wusste, was er sonst hätte tun können.«
»Wenn er könnte, würde er es jetzt anders machen.«
Nickis Blick wanderte zwischen uns hin und her. »Oh, mein Gott«, sagte sie.
Ich hatte es übertrieben, das war mir klar. Ich hatte zu viel geredet und zu dick aufgetragen. Trotzdem wusste ich, dass das, was ich gesagt hatte, etwas Wahres enthielt. Hey, vielleicht sprach ihr Vater nicht durch Andrea, sondern durch mich. Und war das nicht genau das, was Nicki gewollt hatte? Worum sie mich gebeten hatte?
Als wir wieder draußen auf der Straße waren, boxte Nicki mich mit der Faust gegen den Arm. »Bist du jetzt zufrieden?«
»Wie meinst du das?«
»Stell dich doch nicht dumm.«
»Nicki …«
»Du hattest also recht. Sie ist eine Schwindlerin. Freut dich das denn nicht?« Sie kickte eine leere Bierdose gegen die Mauer eines Hauses.
»Wie kommst du darauf, dass sie eine Schwindlerin ist?«
»Nun hör aber auf! Das war doch deutlich zu merken. Du hast ihr alles vorgesagt.«
»Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest«, erwiderte ich, hörte aber selbst, wie falsch meine Stimme klang.
»Hast du dich über mich lustig gemacht?«
»Nein.«
Sie fing an zu schluchzen. Ich brachte sie dazu, sich auf die niedrige, verfallene Mauer vor einem Lagerhaus zu setzen.
»Sie war so schlecht, dass ich noch nicht mal so tun konnte, als glaubte ich ihr.«
»Das tut mir leid«, sagte ich.
»Na klar.«
»Nein, ich meine … Sicher, ich hab damit gerechnet, dass es so kommt, aber ich wollte es eigentlich nicht. Mir wäre es lieber gewesen, es wäre alles so gelaufen, wie du es dir vorgestellt hast.«
Ich ließ zu, dass sie sich das Gesicht am Ärmel meines T-Shirts abwischte. Dann sah sie mich mit ihren geröteten Augen an, die immer noch in Tränen schwammen. »Warum hast du ihr diese Dinge denn überhaupt gesagt?«
»Weiß ich nicht.«
»Dachtest du, du könntest mich täuschen? Ich bin doch nicht blöd!«
»Ich hab gar nicht darüber nachgedacht. Es ist … einfach so aus mir herausgekommen.«
»Nun werde ich nie erfahren, warum er es getan hat.«
»Selbst wenn er jetzt hier wäre, könnte er dir das wahrscheinlich nicht sagen.«
Sie schniefte. »Er hätte doch einen Abschiedsbrief oder so was hinterlassen können. Warum hat er das bloß nicht getan?«
Sie holte tief Luft und wischte sich erneut das Gesicht an meinem Ärmel ab. »Hast du einen geschrieben?«
»Was?«
»Hast du einen Abschiedsbrief geschrieben?«
Ich leckte mir über die Lippen. Obwohl ich bei dieser Affenhitze wie verrückt schwitzte, war mein Mund aus irgendeinem Grund völlig ausgetrocknet. »Nein.«
»Warum nicht, verdammt noch mal?« Sie erhob sich und trat gegen die Mauer, auf der ich saß.
»Hör mal, hier geht es nicht um mich.«
»Aber da drinnen …« Sie zeigte auf das Haus des Mediums. »... da ging es um dich. Da hast du von dir gesprochen!«
»Ich wollte doch nur, dass du was davon hast. Diese Andrea hat ja gezappelt wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ich hab doch schon gesagt, dass ich nicht darüber nachgedacht habe.«
»Ja, kann man wohl sagen.« Sie wischte sich das Gesicht mit ihrem T-Shirt ab, wobei ich kurz ihren dunkelblauen BH zu sehen bekam, was sie jedoch nicht zu bemerken schien. Vielleicht war es ihr aber auch egal. »Du hast also meinem Vater … Entschuldigung, dem imaginären Geist meines Vaters … all deine Überlegungen unterstellt.«
»Wer sagt denn, dass es meine Überlegungen waren?«
Sie schnaubte verächtlich. »Wessen Überlegungen denn sonst? Von irgendwoher musst du diese Sachen doch wissen.«
Mir wurde so flau, dass ich mich kaum noch aufrecht halten konnte. Ich beugte mich nach vorn und stützte die Ellbogen auf die Knie. Sie sah mich stirnrunzelnd an, dann drehte sie sich weg und kickte einen Ziegelsteinbrocken über den Bürgersteig. Ich wollte einfach nicht darüber nachdenken, ob sie recht hatte, ob die Worte, die ich Andrea in den Mund gelegt hatte, tatsächlich auf mich zutrafen. Schließlich konnte Nickis Vater unmöglich dieselben Fehler gemacht haben wie ich oder dasselbe Schamgefühl mit sich herumgeschleppt haben. Vielleicht hatte er empfunden, was auch ich empfunden hatte – diese trostlose innere Starre, dieses Gefühl, durch eine Glasscheibe von der Welt abgeschnitten zu sein –, doch in seinem Leben hatte es weder einen Onkel Frank noch eine Amy Trillis gegeben. Er hatte keinen pinkfarbenen Pullover in seinem Wandschrank versteckt. Er hatte nicht getan, was ich getan hatte, da war ich mir ganz sicher.