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Am Nachmittag setzte ich mich an den
Computer, um nachzusehen, ob Val und Jake mir geschrieben hatten.
Von Jake war eine Mail da – er war der Milliarde um zwölf
Dollar näher gekommen –, aber nichts von Val.
»Hast du in der letzten Zeit was von Val
gehört?«, schrieb ich an Jake.
Er antwortete sofort. Offenbar war er ständig
online. Das Beste wäre wohl gewesen, er hätte sich den Computer in
den Kopf implantieren lassen. »Die ist schwer mit diesem
Schulorchester beschäftigt.«
Ich konnte mich noch erinnern, wie Val damals
über Musik gesprochen hatte, sah, wie sie vorgebeugt dasaß, mit den
Händen gestikulierte und die Worte ihr nur so aus dem Mund
sprudelten. Sie spielte Klavier, Flöte und Geige (natürlich nicht
gleichzeitig). Im Aufenthaltsraum des Patterson Hospitals hatte sie
sogar mal ein Konzert gegeben.
Val hatte die Fähigkeit, überall Musik zu
machen. In der Cafeteria der Klinik hatte sie Jake und mir
beigebracht, wie man eine Jamsession abhält – mit Gabeln,
Tassen, Tabletts, mit Händen und Füßen und Kämmen. Sogar
Samenkapseln von den Johannisbrotbäumen im Krankenhausgarten hatte
sie benutzt, weil die sich wie Rasseln anhörten, wenn man sie
schüttelte. Manchen Leuten vom Küchenpersonal hatten unsere
Sessions gefallen. Anderen eher weniger, weil es ihnen nicht ganz
geheuer war, wenn wir uns so spontan verhielten. Trotzdem schaffte
es Val, einige von ihnen mit einzubeziehen; sogar die mürrischste
Küchenhilfe von allen überredete sie dazu, als Begleitung einen
Topf mit ungekochtem Reis zu schütteln. Wenn sie sich richtig ins
Zeug legte, konnte sie jeden rumkriegen.
Nachdem ich eine Weile mit Jake herumgealbert
hatte, schrieb ich eine kurze Mail an Val: »Hi, was gibt’s
Neues?«
Fast hätte ich sie wieder gelöscht, dann
klickte ich aber doch auf Senden. Gerade als ich mich abmelden
wollte, weil ich keine Lust hatte, den Rest des Tages vorm Computer
zu sitzen und darauf zu warten, dass sie mir antwortete, kam eine
Mail von jemandem namens nicki_t.
Ich öffnete die Mail.
»ich würde gern wissen wie es ist und warum du
es getan hast weil mein dad es getan hat und ich gehofft habe du
könntest mir sagen warum du es getan hast und ob du dich noch
erinnerst wie es war. ich hoffe das hört sich nicht irgendwie
schlimm an. ich möchte es einfach gern wissen und hab niemand den
ich sonst fragen könnte.«
Ihr Dad? Scheiße.
Eine Minute lang saß ich wie gelähmt da und las
Nickis Mail wieder und wieder durch. Ich rieb mir über die Arme und
merkte, dass ich eine Gänsehaut hatte.
»ich würde gern wissen wie es ist und warum du
es getan hast …«
Sie wollte, dass ich ihr vom schlimmsten Tag
meines Lebens erzählte.
Über diesen Tag hatte ich genau zwei Mal
gesprochen: mit den Leuten in der Notaufnahme, kurz nachdem es
geschehen war, und mit meiner Gruppe in der Klinik. In der
Notaufnahme war es mir egal gewesen, was ich sagte oder wem ich es
erzählte. Beim zweiten Mal lag die Sache anders, denn inzwischen
hatte ich mir, was diesen Tag anging, einen Panzer zugelegt, den
die anderen bei einer der Gruppensitzungen jedoch knackten, sodass
sich mein Inneres wie dünner Brei auf den Klinikfußboden
ergoss.
Hinterher hatten Val und Jake Stunden
gebraucht, um mich wieder zusammenzuleimen. Ich konnte mich noch
erinnern, wie sie versucht hatten, mich vom Fußboden zu kratzen,
mir die Schultern getätschelt und beruhigend auf mich eingeredet
hatten. Ab und zu schnauzte Val jemanden an, weil er uns zu nahe
kam. An jenem Tag verpassten sie beide das Abendessen, weil ich
mich nicht von der Stelle rühren konnte und sie bat, mich nicht
allein zu lassen.
»Natürlich bleiben wir bei dir«, hatte Val
gesagt.
»Wir haben auch gar keinen Hunger«, hatte Jake
hinzugefügt, obwohl ihm laut und deutlich der Magen knurrte.
Das war das letzte Mal, dass ich darüber
gesprochen hatte.
Ich wünschte, Nicki hätte sich mit der
Telefonnummer meiner Ärztin zufriedengegeben. Alles wäre viel
leichter gewesen, wenn sie einfach mit Fachleuten geredet hätte.
Wenn sie nicht diese sehr persönliche Sache von mir verlangt
hätte – zumal ich keine Ahnung hatte, was sie damit anfangen
würde. Das mit ihrem Vater tat mir leid, aber glaubte sie denn
wirklich, dass ich ihr irgendetwas erzählen konnte, was ihr
weiterhalf?
Ich mailte zurück: »Darüber möchte ich nicht
sprechen.«
»bitte«, antwortete sie, was mich schon fast
umstimmte. Und diese Kleinbuchstaben machten mich auch fertig. Das
war beinahe so, als ob sie flüsterte oder mich anflehte.
Meine Mutter bat mich, ihr das
Abendessen nach oben zu bringen, damit sie am Computer essen
konnte. Sie musste nur einmal in der Woche ihre offizielle
Arbeitsstelle aufsuchen, den größten Teil der Zeit war sie zu
Hause. Sie war Bezirksleiterin bei einer Organisation, die
Kontraktfirmen überprüfte, was immer man darunter zu verstehen
hatte. Jedenfalls bedeutete es, dass sie pro Woche vierzig
Stunden – manchmal auch mehr – am Computer sitzen
musste.
»Tut mir leid, dass ich nicht mit dir essen
kann, aber dieses Projekt ist brandeilig. Ich hab denen ja schon
letzte Woche gesagt, dass wir im Verzug sind, aber …« Sie
seufzte. »Louisa Rossi bringt es einfach nicht fertig, sich an den
Terminplan zu halten. Willst du nicht hier bei mir essen?«
»Ich hab schon gegessen.«
»Tatsächlich? Auch dein Gemüse?«
»Ja.«
Sie schnitt eine Babymöhre in Viertel, um dann
jeden einzelnen Bissen gründlich zu kauen. Ich stand an der Tür, um
mich so schnell wie möglich davonzumachen, sobald sie ihren
Fragenkatalog abgearbeitet hatte. Vermutlich konnte ich von Glück
sagen, dass sie mir nicht auch noch einen Funkchip oder eine
Minikamera anpappte.
»Hast du heute Morgen deine Medikamente
genommen?«
»Ja. Du warst doch dabei.«
Mom drehte ihren Schreibtischstuhl in meine
Richtung und bohrte die Zehen in den grauen Teppichboden. Sie trug
einen Rock, als ob sie wirklich in einem Büro arbeiten würde, hatte
aber nie Schuhe an.
Sie musterte mein Gesicht, um nach
verräterischen Anzeichen zu suchen – wahrscheinlich Anzeichen
dafür, dass ich Probleme hatte. Ich wusste nicht, ob sie so etwas
tatsächlich erkennen konnte, aber das gehörte zu unserer täglichen
Routine. Dann lächelte sie verkrampft. Seit meinem Klinikaufenthalt
schien meine Mutter immer kurz davor zu sein, in Tränen
auszubrechen, wenn sie mich anlächelte, sodass jedes Lächeln von
ihr etwas Bedrückendes für mich hatte. Ich wandte den Blick ab und
versuchte durchzuatmen.
»In Ordnung«, sagte sie. Dann durfte ich
gehen.
Erst am nächsten Morgen meldete sich
Val. Als ich ihren Namen auf dem Bildschirm sah, war ich sofort
elektrisiert. Wie gewöhnlich hielt sie sich nicht mit Floskeln à la
Hi-wie-geht’s auf, sondern kam gleich zur
Sache: »Ich hab mir die Haare abgeschnitten.«
Okay, vielleicht hätte ich es vorgezogen, wenn
sie mir mitgeteilt hätte, sie könne nicht ohne mich leben oder so
was in der Art, aber wenigstens hatte sie mir geschrieben.
»Wie sehen sie denn jetzt aus?«, fragte ich.
Das Erste, was mir an Val aufgefallen war, waren ihre Haare
gewesen. Als ich sie kennengelernt hatte, reichten sie ihr auf der
einen Seite bis zur Schulter, auf der anderen bis zum Kinn. Zuerst
hielt ich das für den Haarschnitt einer Verrückten, bis mir klar
wurde, dass Val einer der normalsten Menschen in der ganzen Klinik
war. Sie erklärte mir, sie habe sich das Haar aus Jux so
geschnitten – um einzigartig, um anders zu sein. Und wo stehe
denn geschrieben, eine Frisur müsse symmetrisch sein?
Sie schickte mir Bilder, auf denen ihr Kopf von
vorn und von hinten zu sehen war. Vorn hatte sie alles bis zum Kinn
abgeschnitten, während am Hinterkopf ein großes dreieckiges Stück
herausrasiert worden war. Es sah aus, als hätte ihr ein Hai mit
sehr spitzer Schnauze ein Stück Haar weggebissen. Ich speicherte
die Bilder ab, um sie mir später noch einmal anzusehen.
»Mein Dad sagt, es sehe aus, als sei mein Haar
unter einen riesigen Ticketlocher geraten«, schrieb sie.
»Das ist ja das Schöne daran.«
Sie schickte mir ein Smiley.
»Was gibt’s sonst noch Neues?«, erkundigte ich
mich.
»In welcher Hinsicht?«
»In deiner Familie. In puncto Typen.« Als ich
»Typen« schrieb, brach mir der kalte Schweiß aus. Immer, wenn ich
mit einem Mädchen sprach, musste ich unwillkürlich an Amy Trillis
denken. Nicht dass Val mich so mies abblitzen lassen würde wie
Amy – zumindest nahm ich das an –, aber falls Val jemand
anderen mochte, wäre es trotzdem ein schwerer Schlag für
mich.
»In der Familie alles wie gehabt«, antwortete
Val. »Mom meckert ständig rum. Für Typen hab ich keine Zeit.«
Ich atmete erleichtert auf.
»Und wie steht’s bei dir?«, schrieb sie.
»Hab auch keine Zeit für Typen.«
»Ha ha. Und Mädchen? Na los, lass Details
hören. Damit ich an deinen Abenteuern teilhaben kann!«
Meine Abenteuer – das war ja zum Schreien
komisch. »Da gibt’s nichts zu berichten.« Doch dann fiel mir Nicki
ein – nicht im Sinne von »Mädchen«, wie Val es meinte, sondern
weil mich ihre Mail immer noch beschäftigte.
»Es gibt da ein Mädchen«, schrieb ich.
»Jaaaa … bin ganz Ohr …«
»Ich hab erfahren, dass ihr Vater sich
umgebracht hat, und sie will mit mir darüber sprechen.«
»Weiß sie über dich Bescheid?«
»Die ganze Schule weiß über mich
Bescheid.«
Bevor Val antworten konnte, schob ich nach:
»Sie hat gefragt, warum ich es getan habe.«
Außer meiner Ärztin hatte mir noch nie jemand
solche Fragen gestellt wie Nicki. Zumindest nie so direkt. Manchmal
machten die Leute Andeutungen, als wollten sie mir zu verstehen
geben, dass sie nichts dagegen hätten, ein paar gruselige Details
zu hören, falls mir mal danach sein sollte, welche auszuspucken.
Doch nach jenem Tag in der Garage hatte mich noch niemand
gefragt.
»Was will sie eigentlich von mir?«, fragte ich
Val.
»Vielleicht braucht sie einfach einen Freund«,
antwortete Val.
Über Menschen, die einen Freund
brauchen, wusste Val Ishihara Bescheid. Sie war die Erste, mit der
ich damals im Patterson Hospital gesprochen hatte, von den
Psychologen einmal abgesehen. Zu dem Zeitpunkt war ich ungefähr
schon eine Woche dort gewesen und sie redete jeden Tag mit mir. Sie
machte immer eine kurze Pause, wenn sie etwas gesagt hatte, und
wenn ich keine Antwort gab, fuhr sie einfach fort.
»Was machst du hier?«, fragte ich sie, als ich
mich endlich dazu durchgerungen hatte, mit ihr zu reden. Wir saßen
im Aufenthaltsraum der Klinik, und Val versuchte, Ordnung in einen
Stapel fettfleckiger Notenblätter zu bringen. »Du kommst mir viel
zu normal vor für diesen Ort.« Val hatte viele kleine Macken:
Ständig kaute sie an den Fingernägeln, fummelte an ihrem Haar herum
oder wippte mit dem Fuß auf und ab. Wenn sie nervös wurde, senkte
sie den Kopf und sprach in Richtung Fußboden. Doch sie gehörte
nicht zu denen, die meinten, die Regierung habe ihnen ein Gerät ins
Gehirn gepflanzt, um sie auszuspionieren. Und sie rollte sich auch
nicht unterm Bett zusammen, wie ich es am ersten Tag in der Klinik
getan hatte.
Sie lachte. »Du hättest mich mal sehen sollen,
als ich hier ankam. Da war ich ein wandelndes Angstbündel und hab
es kaum geschafft, den Weg zur Toilette zurückzulegen.«
Bei den Gruppensitzungen hatte sie von ihren
Panikanfällen erzählt sowie von ihrem zwanghaften Verhalten bei
ganz alltäglichen Verrichtungen. Wenn sie ein Zimmer durchqueren
wollte, konnte sie sich oft nicht entscheiden, ob sie zuerst mit
dem linken oder dem rechten Fuß auftreten sollte, was zur Folge
hatte, dass sie dann stundenlang wie erstarrt dastand. Das hatte
sie jedenfalls behauptet. Wenn ich sie mir so ansah, war ich mir
jedoch nicht sicher, ob ich das glauben konnte.
»Warum?«, fragte ich. »Ich meine, warum bist du
überhaupt so geworden?«
Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht werde ich
das demnächst herausfinden. Wie eine mathematische Gleichung wird
es jedenfalls nicht funktionieren: A plus B gleich Panikanfall; C
minus D gleich ich bin geheilt.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Meine Mutter sucht nach
der magischen Formel, seit ich hier eingeliefert worden bin. Sie
bildet sich ein, den Moment, in dem alles
schiefging ausfindig machen zu können.«
»Und wonach suchst du?«
Ich hätte sagen können, dass ich das nicht
wusste. Oder dass ich nach einem Weg suchte, um zu sterben. Oder
nach einer Möglichkeit, mich wieder okay zu fühlen. All das stimmte
und all das hatte ich den Psychologen hier erzählt. Aber Val wollte
ich etwas anderes erzählen – etwas, das genauso zutraf, aber
eben anders war. Den Blick auf ihre abgekauten Nägel gerichtet,
sagte ich: »Ich wollte immer gern fliegen.«
»Ein Flugzeug? Als Pilot oder was?«
»Nein, nicht als Pilot.« Wenn man ein Flugzeug
flog, war man von Metall und Glas eingeschlossen. »Ich meine,
richtig fliegen.«
Sobald ich das gesagt hatte, kam ich mir
unendlich blöd vor. Sie würde glauben, dass ich ein Vogel oder ein
Superheld sein wollte, was sich beides so anhörte, als sei ich in
einer psychiatrischen Klinik genau am richtigen Platz. Sie sagte
jedoch: »Das wäre total cool.« Dann schloss sie kurz die Augen, als
wolle sie den Wind spüren, der einem beim Fliegen ins Gesicht
peitscht.
Monatelang hatte ich wie hinter einer
Glasscheibe gelebt, die mich von der Welt um mich herum trennte.
Damals begann sie jedoch, Risse zu bekommen. Vielleicht lag das
daran, dass die Medikamente, die ich erhielt, anschlugen,
vielleicht lag es aber auch daran, dass Val mir zuhörte, ohne ein
Urteil über das abzugeben, was ich sagte. Danach hockten wir
ständig zusammen. Und als ein paar Tage später Jake eintraf –
genauso starr vor Angst, wie ich es zu Anfang gewesen war –,
nahmen wir ihn in unsere kleine Gruppe auf.
Ich habe es nur einmal erlebt, dass Val sich
verhielt, als gehöre sie tatsächlich ins Patterson Hospital. Eines
Tages drehte sie durch. Warum, habe ich nie herausgefunden. Ich war
zusammen mit Jake im Aufenthaltsraum, als wir draußen im Gang Lärm
hörten. Jake versteckte sich sofort unter einem Stuhl – er war
noch in der Phase, wo er es nicht ertrug, wenn es irgendwie
turbulent zuging –, doch ich steckte den Kopf zur Tür raus und
sah, wie einige Kids vor Val flohen. Auf dem Boden lag ein
Plastiktablett aus der Cafeteria. Offenbar hatte Val es dort
hingeworfen. Die Pfleger gingen langsam auf sie zu und redeten mit
leiser Stimme beruhigend auf sie ein, ungefähr so, wie man mit
einem wilden Tier sprechen würde. Ich wusste, dass sie sie in den
Ruheraum schleppen würden, sobald sie sie geschnappt hatten.
Doch sie brach in Tränen aus und ließ sich auf
eines der geblümten Sofas im Gang fallen. Als die Pfleger sich ihr
näherten, hob sie abwehrend die Hand. In der Klinik gab es die
Regel, dass man sich nicht anzufassen lassen brauchte, sofern man
nicht gewalttätig war und keinen Schaden anrichtete. Einige der
Kids starrten Val an, manche kicherten, andere rannten davon. Und
etliche zogen sich wieder in ihre eigene Welt zurück. Ich schlich
zu Val hinüber, obwohl ich erwartete, dass sie auch mich
wegscheuchen würde. Doch sie ließ es zu, dass ich mich neben ihren
Kopf auf die Sofakante setzte.
Ich hielt meine Hand über ihr Haar, ohne es zu
berühren. Dann senkte ich, auf jede Reaktion von ihr achtend,
Millimeter für Millimeter die Hand. Sie schluchzte sich die Seele
aus dem Leib. Schließlich legte ich die Hand auf ihr glänzendes
schwarzes Haar, ohne dass sie zurückzuckte. Sie weinte so heftig,
dass mir selbst der Hals davon wehtat, gab Laute von sich, die sich
anhörten, als kratze Metall über Asphalt. Es erschütterte mich, Val
in diesem Zustand zu sehen, weil sie sonst immer so ausgeglichen
gewirkt hatte.
Ich tätschelte ihr den Kopf. Etwas anderes fiel
mir nicht ein. Wenn nötig, hätte ich hundert Jahre neben ihr auf
dem Sofa gesessen. Sie weinte, bis sie völlig erschöpft war.
Später fragte ich sie, warum sie mich in ihre
Nähe gelassen hatte. »Weil du der Einzige warst, der nicht wollte,
dass ich endlich aufhöre«, sagte sie.
Über diese ersten Tage im Patterson
Hospital hatte ich lange nicht nachgedacht. »Früher haben wir jeden
Tag miteinander geredet«, schrieb ich jetzt an Val. »Ich glaube, du
fehlst mir.« In Wirklichkeit war ich mir sicher, dass sie mir fehlte, aber so direkt konnte
ich das nicht sagen.
»Du fehlst mir auch, aber du wohnst dort, ich
wohne hier, deshalb …«
Ja, das war das Problem: die vielen Kilometer,
die zwischen uns lagen. »Was macht deine Musik?«, schrieb ich,
worauf sie sehr ausführlich antwortete. Ich lehnte mich zurück und
sah gebannt zu, wie ihre Worte über den Bildschirm scrollten. Am
liebsten hätte ich jedes einzelne Wort vom Bildschirm gepflückt, um
es mir in den Mund zu stecken.
Nachdem Val und ich uns voneinander
verabschiedet hatten, machte ich den Computer aus, warf mich aufs
Bett und dachte an den Tag zurück, an dem sie schluchzend auf dem
Sofa gelegen und ich ihr das Haar gestreichelt hatte. Und auch an
die Situation, als wir zusammen im Gang gestanden und sie mir die
Hand ums Handgelenk gelegt hatte. Ich versuchte, mich zu erinnern,
wie warm und glatt ihre Haut gewesen war, versuchte sogar, es
wieder zu fühlen. Ich schloss die Augen, umfasste mein Handgelenk
und bemühte mich, zu spüren, was sie gespürt hatte, versuchte, ihre
Berührung wieder heraufzubeschwören. Ich merkte, wie von dieser
Stelle aus ein Hitzestrom in meinen Arm ausstrahlte, sich in meiner
Brust ausbreitete und immer weiter wanderte, bis er schließlich
meinen ganzen Körper erfasste.
Ich öffnete die Augen und setzte mich wieder
auf. Wenn die Klimaanlage nicht an gewesen wäre, hätte ich das
Fenster geöffnet. Ein paar Minuten saß ich nur so da, um die Hitze
in meinem Innern abklingen zulassen. Danach ging ich nach
unten.
Ich schlenderte zum Wasserfall und
stellte mich darunter, bis ich vor Kälte bibberte. Als ich ans Ufer
watete, war ich davon überzeugt, dass meine Haut sich bereits
bläulich färbte. Aber wenigstens hatte ich diesmal ein Handtuch
mitgenommen.
Während ich mich noch abrieb, damit mir etwas
wärmer wurde, tauchte Nicki auf.
»Oh, hey«, sagte ich und hörte abrupt auf, mich
abzutrocknen. Bei ihrem Anblick geriet ich so durcheinander, dass
ich nicht recht wusste, wie ich reagieren sollte.
»Ich wollte dir sagen …«, begann sie, doch
ich fiel ihr ins Wort.
»Das mit deinem Vater tut mir leid.«
Sie verzog den Mund und wurde knallrot im
Gesicht. »Ich wollte mich für die Mail entschuldigen, die ich dir
geschickt habe. Tut mir leid, dass ich so aufdringlich war.«
»Nein, das ist …«
Sie balancierte wie ein Flamingo auf einem Bein
und vermied es, mich anzusehen.
»Das ist schon okay«, beendete ich meinen
Satz.
»Ich hätte dich nicht damit belästigen
sollen.«
»Hast du doch nicht.«
»Es ist nur so, dass ich noch nie jemanden
hatte, den ich danach fragen konnte. Nach dem Tod meines Dads hab
ich verschiedene Bücher und so gelesen, aber in keinem stand drin,
was ich eigentlich wissen wollte.« Sie hob den Kopf, um mich mit
ihren grauen Augen anzusehen. »Jedenfalls hab ich mir was anderes
überlegt, um etwas über ihn herauszufinden.«
Ich pellte mir das nasse T-Shirt von der Haut.
»Was denn?«
»Ich fahr runter nach Seaton, um dort mit
jemand zu sprechen.«
»Und mit wem?«
Sie trat so nahe an mich heran, dass mir wieder
ihr apfelsiniger Geruch in die Nase stieg. »Mit einem Medium, das
mit den Toten redet«, erklärte sie mit gedämpfter Stimme, als
sollten die Eichhörnchen auf den Bäumen nichts davon mitbekommen.
»Morgen habe ich einen Termin bei der Frau.«
»Soll das ein Witz sein?«
Nicki schüttelte den Kopf.
»Mensch, das ganze Zeug ist doch der reinste
Mist.«
»Nein, ist es nicht.«
»Nun hör aber auf.« Fast hätte ich ihr einen
Klaps mit dem Handtuch gegeben. »Das ist doch pure
Zeitverschwendung.«
»Sie soll echt gut sein. Im letzten Frühjahr
war meine Freundin Angie bei ihr. Angies Großvater hat durch das
Medium mit ihr gesprochen und von dem Hund erzählt, den sie früher
hatten und der immer Frisbee gespielt hat. Davon konnte das Medium
überhaupt nichts wissen.« Sie sah mich eindringlich an, als könnte
sie mich auf diese Weise überzeugen. Aber dass jemand mal einen
Hund gehabt hatte, war nicht schwer zu erraten. Es war ja nicht so,
dass das Medium von einem dreiköpfigen Einhorn gesprochen
hätte.
»Quatsch«, sagte ich.
»Woher willst du das denn wissen? Etwas
muss da doch dran sein.«
»Und wieso? Bloß weil die Leute es so haben
wollen?«
Sie runzelte die Stirn und zupfte an ihrer
Unterlippe herum. Erst da bemerkte ich, dass sie sich die
Fingernägel lila lackiert hatte. »Dann glaubst du also nur an das,
was du sehen kannst? Was du direkt vor Augen hast?«, erwiderte sie.
»Und damit hat sich’s dann, ja?«
»Ich glaube auch an viele Dinge, die ich noch
nie gesehen habe. Ich glaube zum Beispiel, dass ich eine Leber
habe, ohne sie jemals gesehen zu haben.«
Sie fuchtelte mit der Hand herum, sodass ihre
Fingernägel in der Sonne aufblitzten. »Das meine ich nicht. Hast du
noch nie einen Traum gehabt, der dann Wirklichkeit wurde? Oder an
jemanden gedacht, kurz bevor er dich anrief? Oder …«
»Das sind Zufälle.«
Sie runzelte wieder die Stirn, und ich konnte
förmlich sehen, wie sie sich das Hirn zermarterte und krampfhaft
nach einem weiteren Argument suchte. »Dass es Dinge gibt, die man
nicht erklären kann, gibst du also zu, ja?«
»Ja. Aber man muss nach dem suchen, was den
meisten Sinn ergibt. Die einfachste Erklärung ist immer die
wahrscheinlichste.« Ich wrang mein Handtuch aus. Bevor ich dazu
kam, mich weiter über das Thema auszulassen, unterbrach sie
mich.
»Aber mit Sicherheit weißt du es nicht.«
»Ich weiß, dass Tote, wenn sie reden könnten,
über wesentlich wichtigere Dinge sprechen würden als über Hunde,
die Frisbee spielen.«
»Sagt wer? Vielleicht können sie das Leben nach
dem Tod nicht so beschreiben, dass es uns verständlich wird.
Vielleicht geraten sie zwischen zwei Welten, wenn sie mit Menschen
reden, die noch am Leben sind.«
Noch vor einer Woche hatte ich nicht mal den
Namen dieses Mädchens gekannt und jetzt tauschten wir schon
Ansichten über das Leben nach dem Tod aus. Ich konnte einfach nicht
glauben, dass ich ein Gespräch führte, in dem Worte wie »zwischen
zwei Welten« vorkamen.
»Dieses Medium wird dir nichts als Quatsch
erzählen, der auf jeden zutreffen könnte. Und dann wird sie dein
Geld einkassieren. Wie viel zahlst du ihr übrigens?«
»Das geht dich einen Dreck an.«
»Na prima«, erwiderte ich, »aber ich an deiner
Stelle würde mir gut überlegen, wie viel ich zahle.«
Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Du gibst
mir zwar gute Ratschläge, aber wenn’s drauf ankommt, bist du nicht
bereit, mir zu helfen.«
Ich schluckte und wandte den Kopf ab. Obwohl
ich versuchte, mir einzureden, dass das alles nicht mein Problem
war, spukte mir immer noch ihre Mail im Kopf herum, diese
Kleinbuchstaben, dieses »bitte«. Ich sagte mir, dass ich ihr nichts
schuldig war. Doch immer, wenn mir jemand erzählte, er kenne
jemanden, der sich umgebracht habe, überkamen mich Schuldgefühle,
als wäre ich persönlich für alle Selbstmorde der Welt
verantwortlich. Warum tut ihr uns das an?,
war die Frage, die ich stets mithörte, ganz gleich, ob es so
gemeint war oder nicht.
»Ich versuche doch, dir zu helfen«, sagte ich,
»aber du willst ja nicht auf mich hören.«
»Pass auf: Wenn es eine Chance gibt, dass
dieses Medium mir helfen kann, werde ich es versuchen. Mehr will
ich gar nicht.«
»Ja, aber sei vorsichtig. Wenn du an die ganze
Sache glaubst, wird sie das ausnutzen und dich …«
»Wieso weißt du denn so viel darüber?«
»Weil ich vor ein paar Jahren ein Buch gelesen
habe, über einen Typ, der solche Leute und ihre Schwindeleien
entlarvt hat …«
»Du liest viel, nicht wahr.« Das war eine
Feststellung, keine Frage. »Versuch zur Abwechslung doch mal, in
der Wirklichkeit zu leben.«
»Du bist diejenige, die nicht in der
Wirklichkeit lebt.«
Sie sah mich starr an und gab sich alle Mühe,
mich mit ihrem Blick zu durchbohren, so wie sie es neulich schon im
Souterrain unseres Hauses gemacht hatte. Doch da biss sie bei mir
auf Granit, weil ich es jederzeit schaffte, eine Glasscheibe
zwischen mir und meiner Umwelt aufzurichten, sodass mir niemand
etwas anhaben konnte. Selbst meinem Onkel Frank war es nie
gelungen, diese Glasscheibe zu durchbrechen.
Als Nickis Lippen zitterten, wusste ich, dass
sie als Erste nachgeben würde. Und trotzdem …
Und trotzdem glaubte ich nicht, dass ich ihr
diese Sache würde ausreden können. Sie würde das Medium aufsuchen,
egal was ich sagte. So bedenkenlos, wie sie sich unter den
Wasserfall gestellt hatte, würde sie sich jetzt in dieses neue
Abenteuer stürzen, um die Trennlinie zwischen Leben und Tod zu
überschreiten. Allerdings glaubte ich nicht, dass es ihr gelingen
würde, diese Grenze zu überwinden. Das schaffte niemand.
»Fährt wenigstens jemand mit dir mit?«, fragte
ich. »Vielleicht Angie?«
»Angie ist den ganzen Sommer über bei ihrer
Großmutter. Ich komm schon zurecht.«
»Da solltest du aber nicht allein hingehen. Du
kennst diese Frau doch gar nicht.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Na, und wer
kommt dann mit? Du?«
Ich schlang mir das Handtuch um die Hand.
»Nein, ich …«
»Dann halt ganz einfach die Klappe.« Sie machte
kehrt und wollte weggehen, doch ich streckte die mit dem Handtuch
umwickelte Hand aus und berührte damit ihren Arm.
»Vielleicht komme ich doch mit«, sagte
ich.
»Warum? Damit du den Wachhund spielen
kannst?«
»Wenn du es so nennen willst. Ja, dann spiele
ich eben den Wachhund.«
»Na okay. Dann bis morgen um eins.«