14

Vor sich hin summend ließ Nicki den Motor des Trucks an. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was in ihr vorging. Und eine Zeit lang wusste ich auch nicht, was in mir vorging, weil ich immer noch erhitzt war und mir nach wie vor die Beine zitterten. Ich fuhr mir über den Mund und sah sie von der Seite an.
»Also, damit habe ich nicht gerechnet«, stellte sie fest, nachdem sie einen Schluck Limo getrunken hatte.
»Ich auch nicht.« Mein Mund war so trocken, dass ich auch gern etwas getrunken hätte, doch ich hatte meine halb volle Dose auf dem Picknicktisch stehen lassen. Und sie um einen Schluck zu bitten, kam nicht infrage. Wenn ich aus ihrer Dose getrunken, mit meinem Mund die Stelle berührt hätte, wo ihrer gewesen war, hätte das so gewirkt, als wolle ich das fortsetzen, was eben angefangen hatte. Was immer das sein mochte.
Sie hielt mir ihre Dose hin. »Möchtest du einen Schluck?«
Ich zuckte zusammen.
»Was ist denn?«
»Gar nichts. Das war nur so, als hättest du eben meine Gedanken gelesen.« Vorsichtig griff ich nach der Dose, als könne ich mich am Metall verbrennen.
Sie lachte. »Ich dachte, du glaubst nicht an Hellseherei.«
»Ha, ha.« Ich nahm einen Schluck. Am liebsten hätte ich den Rest der Limonade hinuntergekippt, riss mich aber zusammen.
»Jedenfalls kann ich deine Gedanken nicht lesen, das kannst du mir glauben.«
»Ich wünschte, du könntest es«, erwiderte ich. »Dann könntest du mir sagen, was zum Teufel gerade in meinem Kopf vorgeht.«
»Ryan, ich weiß ja noch nicht mal, was in meinem Kopf vor sich geht.«
Ich konzentrierte mich auf das Scheinwerferlicht der Autos auf der Gegenfahrbahn, um mich von dem abzulenken, was sich in meinem Innern abspielte.
»Ich weiß nicht, was hier abläuft«, sagte Nicki. »Ich bin … verwirrt.«
»Hey, ich war mein ganzes Leben verwirrt.« Ich zerrte am Sicherheitsgurt und brachte meine Beine in eine andere Position, um nicht mit den Knien gegen das Handschuhfach zu stoßen.
Wir schwiegen eine Weile. Die glänzend nasse Straße spiegelte das Licht der Scheinwerfer wider. Ich versuchte abzuschätzen, wie weit Nicki und ich voneinander entfernt waren. Dreißig Zentimeter? Sechzig? Mal kam mir der Abstand so gering vor, dass sich mein Atem beschleunigte. Und dann wieder hatte ich den Eindruck, als sei das Lenkrad kilometerweit entfernt.
»Aber manchmal ist es ganz okay, verwirrt zu sein«, meinte sie schließlich.
»Das hoffe ich«, gab ich zurück. »Weil das eins der wenigen Dinge ist, worin ich gut bin.«
Sie trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. »Lach mich jetzt bitte nicht aus, aber … aber ich hab mir mal ein Buch aus der Bücherei geholt, über einen buddhistischen Lehrer, der immer zu seinen Schülern gesagt hat, es sei okay, etwas nicht zu wissen. Ich glaube, damit meinte er, dass man Antworten nicht erzwingen soll.«
»Warum sollte ich dich denn auslachen?«
»Keine Ahnung. Kent zieht mich immer durch den Kakao, wenn ich so was lese oder über solche Sachen nachdenke. Weil er mich für dumm hält.«
»Du bist nicht dumm.« Ich beobachtete, wie die Scheibenwischer hin und her gingen.
Nachdem wir einige Kilometer zurückgelegt hatten, schaltete Nicki das Radio ein und summte leise mit. Auf der Herfahrt hatte sie laut mitgesungen.
Ich gab ihr die Limonade zurück. »Danke«, sagte ich.
Ich hatte mich fast wieder okay gefühlt, doch dann kam mir die ganze Geschichte mit Val erneut in den Sinn. Sobald ich an sie dachte, wurde mir mulmig zumute. Deshalb hörte ich auf, an sie zu denken. Obwohl es noch regnete, kurbelte ich das Fenster runter und ließ mir den Wind ins Gesicht wehen, damit er mir alle Gedanken aus dem Kopf blies.
Ich tappte durch das dunkle Haus und ging in die Küche, um irgendetwas zu essen aufzutreiben. Dad war am Vormittag wieder zu einer Geschäftsreise aufgebrochen, Mom saß oben am Computer. Ohne das Licht anzuschalten, machte ich mir in der Mikrowelle ein Fertiggericht warm, das ich, an der Spüle stehend, gleich aus der Plastikschale aß.
Dann meldete ich mich bei meiner Mutter zurück. Sie hatte mir im Laufe des Tages vier oder fünf Mal eine SMS geschickt, die ich alle beantwortet hatte, damit sie nicht in Panik geriet. »Du siehst ein bisschen blass aus«, stellte sie fest, hatte aber ansonsten nichts an mir auszusetzen.
Ich war kaum in meinem Zimmer, als ich eine Mail von Val bekam: »Ich hoffe, du bist okay. Ich hoffe, du verstehst mich.«
»Mach dir darüber keine Gedanken«, schrieb ich zurück.
Als ich ins Bett ging, spukten mir immer noch Val und Nicki im Kopf herum. Val, die vor mir zurückwich. Nicki, die die Arme um mich schlang. Ich träumte von beiden, wachte von Zeit zu Zeit auf, um sofort an sie zu denken. Einmal meinte ich, das Telefon klingeln zu hören, war mir aber nicht sicher, ob ich das nur geträumt hatte. Später wurde ich aus dem Schlaf gerissen, weil meine Mutter wieder auf dem Laufband zugange war. Ich packte mir das Kissen über den Kopf, konnte so aber nicht schlafen und hatte das Gefühl zu ersticken.
Um sechs wachte ich auf. Obwohl meine Augen brannten, als hätten sie über Nacht in Tabascosauce gelegen, war ich überhaupt nicht müde. Alles, was ich wollte, war, zum Wasserfall zu gehen und das Wasser auf mich niederprasseln zu lassen, damit ich wieder einen klaren Kopf bekam. Ich schlich mich aus dem Haus. Es war so früh, dass selbst meine Mutter noch nicht am Computer saß.
Draußen war es überall nass, obwohl es aufgehört hatte zu regnen. Der Himmel war mit tief hängenden grauen Wolken bedeckt und alles machte einen aufgeweichten Eindruck. Während ich den Pfad entlangging, quatschte der Boden unter meinen Füßen. Von den Bäumen tropfte es, das Gras und die Farne am Weg hinterließen feuchte Spuren auf meiner Haut. Als ich am Wasserfall ankam, fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, ein Handtuch mitzunehmen. Trotzdem zog ich mir das T-Shirt aus. In dem Moment richtete sich jemand, der am Ufer gelegen hatte, auf. Ich fuhr erschrocken zusammen.
»Hey«, sagte Nicki.
»Was machst du denn so früh hier?«
»Dasselbe könnte ich dich auch fragen.« Sie warf eine Eichel nach mir.
»Konnte nicht mehr schlafen.«
»Ich auch nicht.«
Gott, sie wollte doch nicht etwa über das reden, was gestern Abend passiert war? Sie biss sich auf die Lippe und senkte den Blick, während ich mir die Schuhe auszog.
»Das Wasser ist zu kalt«, sagte sie, als ich zum Rand des Teichs ging.
»Nein, ist es nicht.« Ich schwitzte und zitterte gleichzeitig am ganzen Körper. Ich sprang in den Teich und arbeitete mich, immer wieder auf den glatten Steinen ausrutschend, zum Wasserfall vor. Nicki schrie mir etwas hinterher, das ich aber nicht verstand, weil das Wasser zu laut rauschte. Dann trat ich unter den Wasserfall.
Ich hatte nicht bedacht, wie heftig es in den letzten Tagen geregnet hatte.
Ich hatte nicht genau hingesehen, hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, warum das Wasser heute stärker und lauter brauste als beim letzten Mal.
Mit voller Wucht klatschte es mir auf den Kopf, toste in meinen Ohren, schlug auf meine Schultern ein. Und dann riss es mir die Beine weg. Ich versuchte, mich festzuhalten – an den Felsen, am Wasser. Die Haare hingen mir ins Gesicht, ich ging unter. Verzweifelt umhertastend, schaffte ich es irgendwie, mich mit Händen und Knien abzustützen und keuchend aufzutauchen.
Nicki kam angewatet und packte mich beim Haar. Sobald ich dazu in der Lage war, machte ich ihre Finger los. »Wollte dir nur helfen, den Kopf über Wasser zu halten«, schrie sie, um das Tosen zu übertönen. »Alles in Ordnung?«
Ich nickte und schleppte mich zum Ufer, wo ich mich mit dem Gesicht nach unten zu Boden fallen ließ. Sie setzte sich neben mich. Als das Dröhnen in meinen Ohren aufhörte und ich wieder klar denken konnte, sagte ich: »Ziemlich heftig heute, das Wasser.«
Sie lachte. »Kann man wohl sagen.« Dann legte sie mir die Hand auf den Rücken. »Bist du wirklich okay?«
»Ja.«
»Ich meine, nicht nur körperlich. Ich meine … es war ein bisschen verrückt, heute da runterzugehen.«
»Tja.« Ich wälzte mich auf den Rücken. »Ich bin nun mal ein bisschen verrückt.«
»Finde ich auch«, erwiderte sie. Verlegen spielte sie an einer Haarsträhne herum. »Ich bin froh, dass du gekommen bist, weil ich dich um etwas bitten wollte.«
»Worum?«
»Könntest du morgen mitkommen? Ich will zu einem anderen Medium.«
»Ist das dein Ernst?«
»Klar. Ich hab dir doch gesagt, dass ich nach einem neuen Medium suchen würde.«
»Nicki, ich weiß wirklich nicht, was du von denen erwartest.«
Sie zwirbelte ihre Haarsträhne und zerrte daran herum. Als ich einen rotblauen Fleck an ihrem Hals entdeckte, zuckte ich innerlich zusammen, weil ich sofort wusste, was das war. Rasch wandte ich den Blick von der Stelle ab.
»Ich muss es versuchen«, sagte sie.
»Das ist reine Geldverschwendung«, entgegnete ich. »Wo kriegst du das Geld überhaupt her?«
Sie schwieg. Vielleicht war ich da einen Schritt zu weit gegangen. Wir hatten nie groß darüber gesprochen, dass wir über unterschiedlich viel Taschengeld verfügten und in grundverschiedenen Häusern wohnten. Gestern hatte Nicki es akzeptiert, dass ich das Benzin bezahlte, weil sie gefahren war und es sich schließlich um meine Freundin handelte, die wir besuchten. Das war nur fair. Trotzdem wusste ich, dass wir in puncto Geld nicht gleichstanden, egal was Nicki vorzutäuschen versuchte.
»Als wir klein waren, hat meine Großmutter für jeden von uns ein Bankkonto eröffnet«, erklärte sie. »Sie hatte die Vorstellung, dass wir damit unser Studium finanzieren könnten.« Sie stieß ein Schnauben aus. »Als ob wir uns vier Jahre Harvard leisten könnten, wenn sie im Jahr ein paar Hundert Dollar einzahlt.«
»Du nimmst das Geld für dein Studium?«
»Nur einen Teil davon. Aber sehr viel ist sowieso nicht da. Wenn ich Glück habe, kann ich mir von dem, was übrig bleibt, zumindest meine Lehrbücher kaufen. Matt hat zwei Kurse am Community College belegt, das kann er sich mit dem, was er in seinem Job verdient, gerade mal so leisten.« Sie zuckte die Achseln. »Ich werd’s genauso machen – arbeiten und nebenher studieren.«
»Deinem Dad wäre es wahrscheinlich lieber, wenn du das Geld fürs Studium benutzen würdest, statt zu all diesen …«
»Halt den Mund!«, zischte sie. »Ich hab dir doch gesagt, dass es nicht um entweder – oder geht. Außerdem ist das nicht deine Sache.«
Ich wischte das Wasser weg, das mir aus den Haaren über den Hals gelaufen war. »Okay.«
»Ich werde mit dir oder ohne dich hingehen, aber ich wünschte, du würdest mitkommen. Schließlich bist du mir was schuldig, immerhin habe ich dich gestern zu …« Sie vermied es, Vals Namen auszusprechen.
»Ja, ich weiß. Ich komme mit. Wann willst du los?« War doch egal, dass ich nicht an Medien glaubte, dass ich nicht glaubte, Nicki würde eine befriedigende Erklärung von ihrem Vater erhalten, falls es uns wider Erwarten gelingen sollte, mit ihm zu sprechen. Ich ging nicht mit, weil ich glaubte, man könne mit einem Geist reden, sondern wegen Nicki. Weil ich das Gefühl hatte, dass sie jemanden brauchen würde.
In der Küche wurde ich bereits von meiner Mutter erwartet. Als ich hereinkam, sprang sie auf und verschüttete ihren Kaffee. »Wo bist du gewesen?«
»Ich hab im Bach gebadet.«
»Zu dieser Zeit? Na, egal … Ich muss mit dir reden.«
Offenbar musste sie wirklich mit mir reden, da sie noch nicht einmal etwas zu meiner durchnässten Kleidung sagte. Die Haare standen ihr wild zu Berge. Schockiert stellte ich fest, dass sie sich nicht gekämmt hatte – und das, obwohl es schon nach sieben war. Auch das Gesicht hatte sie sich nicht gewaschen und sie hatte immer noch ihren Bademantel an.
»Was ist los?«, fragte ich, wobei mir einfiel, dass mitten in der Nacht das Telefon geklingelt hatte. Ob es um Dad ging? War sein Flugzeug abgestürzt?
»Mrs Carson hat angerufen. Sie mussten Jake wieder ins Patterson Hospital bringen.« Sie beugte sich vor und sah mich forschend an, als hätte sie Angst, dass ich umkippen könnte.
Meine Kehle war wie zugeschnürt. »Ist er okay?«
»Wie man’s nimmt. Körperlich … fehlt ihm nichts, wenn ich es richtig verstanden habe. Aber er ist nicht okay.«
Ich dachte daran, dass Val und ich erst gestern Jakes Mails gelesen und uns Sorgen um ihn gemacht hatten. Doch dann war diese verkorkste Beziehungssache dazwischengekommen und hatte alles andere verdrängt.
Ich schenkte mir einen Kaffee ein. »Kann ich ihn besuchen?«
Mom ließ mich nicht aus den Augen. Sie umklammerte ihren Kaffeebecher so fest, dass ihre Hände wie Klauen wirkten. »Ich weiß nicht, ob ich das zulassen sollte.«
»Warum nicht?«
»Wenn ich bloß wüsste, was Dr. Briggs davon halten würde. Wer vertritt sie während ihres Urlaubs eigentlich? Dr. Solomon? Vielleicht sollte ich den anrufen. Obwohl er dich natürlich längst nicht so gut kennt …«
»Ruf an, wen du willst. Ist mir egal. Ich will Jake sehen.«
»Aber wenn, dann nur in meiner Begleitung. Wenn ich bloß wüsste, ob es gut für dich ist, diese Klinik wieder aufzusuchen.« Sie berührte den Rand des Bechers mit den Lippen, ohne zu trinken. Dann ließ sie den Becher sinken. »Ryan, wusstest du, dass Jake wieder Probleme hat?«
»Irgendwie schon.«
»Irgendwie schon? Was soll das heißen?«
»Ich wusste, dass er nicht sonderlich glücklich darüber ist, dass die Schule wieder anfängt.« Ich fuhr mir mit der Hand durch das nasse Haar, von dem Wasser auf den Fußboden tropfte, was Mom aber noch nicht bemerkt hatte.
»Warum hast du mir das nicht erzählt? Warum hast du seinen Eltern nichts erzählt?«
»Was denn?«
»Dass Jake Probleme hat.«
»Ich konnte doch nicht … ich meine, wenn jemand nicht zur Schule gehen will, heißt das doch nicht zwangsläufig, dass er Probleme hat.«
»Wenn er nicht ganz glücklich war, hättest du uns sofort darüber informieren müssen! Weißt du denn nicht, wie gefährlich es ist, wenn jemand mal depressiv war …«
»Nicht ganz glücklich?« Ich trank einen großen Schluck schwarzen Kaffee und verbrannte mir die Zunge, was aber irgendwie fast angenehm war. »Niemand ist ständig glücklich. Wenn ich jedes Mal, wenn jemand nicht ganz glücklich ist, zu dir rennen würde …«
Abrupt verstummte ich, da ihr die Augen derart aus dem Kopf quollen, dass es mir Angst einjagte – ein Gefühl, das durch ihr hexenhaft abstehendes Haar noch verstärkt wurde.
»Was? Was sagst du da? Willst du damit andeuten, dass du auch nicht glücklich bist?«
»Nein, ich …«
Sie knallte ihren Becher auf den Küchentresen. »Was soll ich bloß mit dir machen? Du hast jeden Grund, glücklich zu sein, alles, wofür zu leben …«
»Ich weiß.« Ich wusste es wirklich, und es tat mir leid, mehr, als sie wahrscheinlich für möglich gehalten hätte.
Schwer atmend packte sie ihren Becher beim Henkel. Ich trank einen weiteren Schluck Kaffee, weil mir nichts Besseres einfiel.
»Das ist alles meine Schuld«, fuhr sie mit leiser, gepresster Stimme fort. »Ich hätte viel früher dafür sorgen müssen, dass du Hilfe bekommst. Schon damals, als die Sache mit Frank rauskam.«
Als dieser Name fiel, bekam ich eine Gänsehaut. Ich konnte es einfach nicht fassen, dass sie ihn erwähnte. »Hör auf«, sagte ich.
»Er hat mich so lange hinters Licht geführt, und als ich dann Bescheid wusste …«
»Mom …«
»Es heißt, dass man nie über sexuellen Missbrauch hinwegkommt.«
Ich zuckte so zusammen, dass ich Kaffee auf den Fußboden verschüttete, gewöhnlich ein schweres Vergehen in der sterilen Küche meiner Mutter. Heute schien sie es jedoch überhaupt nicht zu bemerken. »Das war kein Missbrauch.«
Ihre Augenbrauen schossen in die Höhe.
»Ich meine, ich weiß, es war seltsam, aber es war ja nicht so, dass …« Die Hand, in der ich den Becher hielt, wurde feucht.
Sie schüttelte mit verkniffenem Mund den Kopf. Dann verließ sie die Küche.
Sexueller Missbrauch. Meine Güte. Ich wusste, dass sie das auch Dr. Briggs erzählt hatte, und bei meinem ersten Besuch bei der Ärztin hatte ich mit ihr gleich darüber gesprochen, damit die Sache vom Tisch war und sie ihr nicht die Bedeutung zumaß, die meine Mutter ihr zuzumessen schien.
Ich presste meinen feuchten Rücken gegen die Kühlschranktür. Ich wusste, warum Mom solch ein Aufhebens darum gemacht hatte, warum sie Dr. Briggs die Geschichte vor die Füße geworfen hatte wie eine Katze, die eine tote Maus anschleppt. Sie meinte nämlich, das erkläre, warum ich in der Klinik gelandet war. Das musste der Grund sein, warum ich so war, wie ich war. In ihren Augen war Frank das Schlimmste, was mir je passiert ist.
Mein Großvater heiratete drei Mal. Mit seiner ersten Frau setzte er Frank in die Welt, mit seiner zweiten meine Mutter, und ich glaube, mit seiner dritten Frau hatte er mehrere Kinder. Da er jedoch mit seiner Familie in Kalifornien lebte, sahen wir uns nie. Jedenfalls war Frank mein Halbonkel. Als ich klein war, kam er manchmal zu Besuch.
An einem Sommernachmittag, als meine Eltern im Garten eine Grillparty veranstalteten, bat Frank mich, mit ihm ins Schlafzimmer zu kommen. Obwohl ich nicht wusste, was das sollte, ging ich mit, da ich mich langweilte und nichts Besseres zu tun hatte. Zuvor war ich schon so lange im Pool geschwommen, bis meine Finger runzlig wie Rosinen aussahen.
»Setz dich«, sagte Frank und zeigte aufs Bett. Ich gehorchte.
Er stellte sich vor mich, machte seine Hose auf und ließ sie fallen. Darunter trug er nichts. Ich nahm an, er wolle sich eine Badehose anziehen, denn mein Vater und einige Jungs aus der Nachbarschaft, die jetzt unten im Garten rumtobten, hatten sich ebenfalls hier oben umgezogen. Deshalb hielt ich das Ganze für keine große Sache. Frank blieb jedoch vor mir stehen und beobachtete mich, als warte er auf eine Reaktion. Ich starrte ihn lediglich an und wurde allmählich ungeduldig. Dann zog er die Hose wieder hoch, machte sie zu, holte einen zusammengefalteten Geldschein aus der Tasche und gab ihn mir.
»Das darfst du niemandem erzählen«, flüsterte er.
»Okay«, erwiderte ich und dachte, er meine das mit dem Geld, weil meine Mutter etwas dagegen hatte, dass Verwandte mir Geld zusteckten. Sie war der Ansicht, mein Taschengeld reiche aus und zusätzliches Geld würde mich zu sehr verwöhnen.
Die Sache wurde zur Routine. Immer wenn Frank zu Besuch kam, fand er eine Gelegenheit, mich ins Schlafzimmer mitzunehmen und die Hose runterzulassen. Danach gab er mir dann Geld und schärfte mir ein, nichts zu verraten. Ich dachte immer noch, es gehe darum, das mit dem Geld geheim zu halten, obwohl er inzwischen damit angefangen hatte, sich zu reiben, während ich zusah, was ich merkwürdig fand, aber ohne mir groß Gedanken darüber zu machen. Wenn mich etwas beunruhigte, dann die Art und Weise, in der er mich immer anstarrte, als warte er darauf, dass ich etwas sagte, ihm etwas mitteilte. Seine Augen schienen um etwas zu bitten, doch ich hatte keinen Schimmer, worum.
Eines Tages vergaß ich, meine Hosentaschen zu leeren und das Geld in einem Kästchen zu verstecken, bevor ich meine Kleidung in den Wäschekorb warf. Kurz darauf kam meine Mutter zu mir, in einer Hand meine Hose, in der anderen die Scheine.
»Von wem hast du das?«, fragte sie.
»Von niemand.« Was natürlich eine blöde Antwort war, aber ich war damals erst fünf oder sechs. Was Besseres fiel mir auf Anhieb nicht ein.
»Hast du es aus Daddys Portemonnaie genommen? Oder aus meinem?«
»Nein.« Da das die Wahrheit war, konnte ich ihr dabei in die Augen sehen.
»Hast du es Onkel Frank gestohlen, als er hier war?«
Jetzt wandte ich den Blick ab.
Sie packte mich bei der Schulter. »Hast du es ihm gestohlen?«
»Ich hab es nicht gestohlen. Er hat es mir gegeben.«
»Nun, dann wirst du es eben zurückgeben. Geschenke bekommst du nur bei besonderen Gelegenheiten, das weißt du.«
»Das war kein Geschenk. Das hat er mir fürs Zusehen gegeben.« Ich war so erpicht darauf, zu beweisen, dass ich im Recht war, dass ich vergessen hatte, dass es ein Geheimnis war.
»Fürs Zusehen wobei?«
Erst da fiel mir ein, dass ich nichts verraten sollte, doch meine Mom setzte mir so lange zu, bis ich ihr schließlich alles erzählte. Inzwischen hatte ich begriffen, dass die ganze Situation irgendwie seltsam war, doch ich dachte, wenn sie erfuhr, wie harmlos alles war, würde sie lachen und mich das Geld vielleicht sogar behalten lassen. Jedenfalls erwartete ich nicht, dass sie Augen und Mund aufriss, entsetzte Schreie ausstieß, ständig sagte: »Was? Was?«, und ich ihr die ganze Sache wieder und wieder erzählen musste. Und ich erwartete auch nicht, plötzlich das Gefühl zu haben, als hätte ich etwas wirklich Schlimmes getan – viel schlimmer, als nur ein bisschen Geld zu verstecken.
Tatsache war, dass mir das mit dem Geld gefallen hatte.
Tatsache war, dass ich über die ganze Angelegenheit nicht viel nachgedacht hatte. Die Erwachsenen verlangten ständig Dinge von mir, die keinen Sinn ergaben: in den Gängen der Schule nur auf der einen Seite zu laufen; mich hinzusetzen, wenn sie es sagten, und aufzustehen, wenn sie es sagten; löffelweise grässlich schmeckendes Zeug zu schlucken, das sie »Medizin« nannten; mir in einem Raum, der nach Alkohol roch, von einem fremden Mann, den man »Arzt« nannte, mit einem Holzstäbchen die Zunge runterdrücken zu lassen, bis es mich würgte.
Tatsache war, dass ich mich nicht bedroht gefühlt hatte, obwohl Franks seltsamer Blick mir Unbehagen bereitet hatte. Alles in allem hatte ich das Gefühl gehabt, als wäre eine Glasscheibe zwischen uns, als würden wir einander wie im Zoo aus sicherem Abstand betrachten, ohne direkt miteinander zu tun zu haben.
»Hat er dich angefasst?«, fragte meine Mutter zigmal. Mein Vater ebenfalls. Und auch der Arzt, zu dem sie mich brachten. Nein, das hatte er nicht. Aber das schien mir niemand zu glauben, sodass ich mir vorkam wie ein Lügner, obwohl ich das gar nicht war.
Ich schob mich vom Kühlschrank weg, ging nach oben und zog trockene Sachen an. Die Schlafzimmertür meiner Mutter war zu; vermutlich zog sie sich gerade um. »Sobald es dir passt, können wir zur Klinik fahren«, teilte ich der Tür mit.
Sie steckte den Kopf zur Tür raus. Mittlerweile hatte sie sich gekämmt und Lippenstift aufgetragen. »Bin in einer Minute fertig«, sagte sie.