19
Am nächsten Tag stand ich früh auf, um
joggen zu gehen. Beim Laufen dachte ich einzig und allein über
meinen Pullover-Plan nach, um ihn in allen Einzelheiten
auszuarbeiten. Was das Ende betraf, spielte ich unzählige
verschiedene Möglichkeiten durch. Ich sagte mir, dass die
Vorstellung, die Polizei würde mich in Handschellen abführen,
einfach lächerlich war. Nicht einmal Amy Trillis würde in einer
solchen Situation die Cops rufen, oder?
Es sei denn, sie wollte eine einstweilige
Verfügung erwirken.
Meine Füße platschten durch den Schlamm, der
mir gegen die Waden und bis auf meine Shorts spritzte. Obwohl ich
versuchte, mich auf den Rhythmus meiner Füße zu konzentrieren,
tauchte immer wieder Amys Bild vor meinem inneren Auge auf.
Manchmal sah ich alles um mich herum wie durch einen pinkfarbenen
Filter, als hänge ihr Pullover vor meinem Gesicht.
Ich rannte schneller und schneller, bis ich
derart schwitzte, dass ich glaubte, gleich zu zerfließen.
Vielleicht würde es mir ja gelingen zu schmelzen, bevor ich Amy
gegenübertreten musste. Dann würde ich zu einer Pfütze werden, die
im Boden versickerte und durch die Baumwurzeln in den Stamm
aufstieg.
Doch am Ende des Laufs war ich – obwohl
völlig durchgeschwitzt und über und über mit Schlamm bedeckt –
immer noch da.
Als ich unter der Dusche stand, zwang
ich mich, an gar nichts zu denken, weil ich mir sagte, dass ich
alle Möglichkeiten durchgegangen war. Beziehungsweise sie
»visualisiert« hatte, wie man das in der Klinik nannte.
Ich stellte die Brause so ein, dass mir das
Wasser wie heiße Nadeln auf den Körper prasselte, hielt den Kopf
darunter und schrubbte mir die Kopfhaut. Wenn ich in dem Moment die
Zeit hätte anhalten können, hätte ich es getan.
Ich fuhr mit dem Fahrrad nach West
Seaton, wo Amys Tante ein Restaurant namens Gingerbread Café besaß.
Früher hatte Amy dort gearbeitet und vielleicht tat sie es immer
noch. Zumindest würde man im Café über sie Bescheid wissen. Ich
kannte ihre Adresse nämlich nicht und wollte auch nicht versuchen,
sie herauszufinden, um mir nicht noch mehr wie ein Stalker
vorzukommen.
»Arbeitet Amy noch hier?«, fragte ich das
Mädchen hinter dem Tresen des Cafés. Sie trug einen
Augenbrauenring, was ihrem Gesicht einen permanent überraschten
Ausdruck verlieh.
»Sie ist hinten«, antwortete das Mädchen, »hat
aber gerade zu tun.«
»Wann macht sie Feierabend?«
»Um zwei.«
Jetzt war es halb eins. Die anderthalb Stunden
schienen mir eine endlose Zeitspanne, aber nachdem ich so lange mit
dem Pullover gelebt hatte, würde ich auch das sicher noch
aushalten.
Ich ging in die Bibliothek, setzte mich in eine
dunkle Ecke der Geschichtsabteilung und versuchte, eine Zeitschrift
zu lesen, doch die Worte auf dem Papier blieben nur tote
Buchstaben. In der Bibliothek roch es angenehm nach Papier und
Staub.
Ich bemühte mich, mir die Szene mit Amy nicht
in allen Details vorzustellen. Zum hundertsten Mal ging ich durch,
was ich sagen wollte, vermied es aber, mir auszumalen, was sie
erwidern und was ich wiederum entgegnen könnte. Ich würde den
Dingen einfach ihren Lauf lassen. Falls sie lachte, mich anschrie,
vor mir zurückwich, sich über mich lustig machte – nein, ich
musste aufhören, darüber nachzudenken.
Seit über einem Jahr wartete ich darauf, dies
tun zu können; ich konnte es kaum glauben, dass es heute
tatsächlich so weit war. Es sei denn, ich überlegte es mir noch
einmal anders und machte einen Rückzieher. Ich könnte sofort nach
Hause fahren und nicht mit Amy sprechen …
Genug jetzt.
Ich hatte es satt, den Pullover zu verstecken
und ständig zu befürchten, dass ihn jemand entdecken könnte. Ich
hatte es satt, wieder und wieder den Tag zu durchleben, an dem ich
ihn gestohlen hatte, und mich jedes Mal vor Scham zu winden.
Schließlich hatte Nicki, als ich ihr die ganze Geschichte erzählt
hatte, nicht gesagt, ich gehörte hinter Schloss und Riegel.
Aber andererseits hatte ich ja auch nicht
ihren Pullover gestohlen.
Ich musste unbedingt von diesen verrückten
Überlegungen wegkommen, die sich nur noch im Kreis drehten.
Um mich abzulenken, holte ich mein Handy raus,
um Jake irgendeine blödsinnige SMS zu schicken, doch dann fiel mir
ein, wo er war.
Ob ich Val eine SMS schicken sollte? Nein. Sie
hatte zwar sonst nicht viel mit Amy gemeinsam, aber sie hatte mich
auch zurückgewiesen, und im Moment brachte ich es einfach nicht
fertig, mit ihr Kontakt aufzunehmen.
Was war mit Nicki? Warum eigentlich nicht?
Nein, ich wollte abwarten und mit ihr reden, wenn diese Sache
vorüber war. Aus irgendeinem Grund wollte ich ihr berichten können,
dass ich den Pullover zurückgegeben hatte.
Die braune Papiertüte lag vor mir auf dem
Tisch. Ich konnte mir nicht vorstellen, was ich empfinden würde,
wenn ich sie nicht mehr hatte. Wie eine Amputation würde das sein,
bloß dass der Pullover eher ein Tumor als eine Gliedmaße war.
Um zehn vor zwei ging ich zum
Gingerbread Café, um draußen auf Amy zu warten. Ich setzte mich
neben den Fahrradständer und versuchte, so ungezwungen wie möglich
zu wirken. Von Zeit zu Zeit wurde ich misstrauisch beäugt, weil die
Leute offenbar glaubten, ich hätte vor, ihre Fahrräder zu stehlen,
doch ich blickte starr an ihnen vorbei, um zu zeigen, dass ich
größere und wichtigere Dinge im Sinn hatte. Um mich zu beruhigen,
atmete ich mehrmals tief durch, wobei mir der Gummigeruch der
Reifen in die Nase stieg.
Zwanzig Minuten später kam Amy, sich mit der
Hand übers Haar streichend, endlich aus dem Café. Sie trug weniger
Make-up als früher, hatte aber immer noch die dunklen Locken und
die grünen Augen, an die ich mich so gut erinnerte. Damals in der
Schule war mein Blick immer über ihr Gesicht, ihre Schultern und
die Rundungen ihres Körpers gewandert. Doch heute marschierte ich
auf sie zu, ohne sie genauer anzusehen – mit zitternden
Beinen, die viel lieber in die andere Richtung gerannt wären.
»Amy? Entschuldige, dass ich dich
anspreche.«
Sie drehte mir den Kopf zu, doch sie schien
mich nicht wiederzuerkennen. Trotzdem war sie offenbar nicht
überrascht, dass ich ihren Namen wusste. Vielleicht waren Mädchen
wie sie daran gewöhnt, dass jeder sie kannte.
»Ich bin Ryan Turner. Wir sind früher mal auf
dieselbe Schule gegangen«, sagte ich. »Dürfte ich kurz mit dir
sprechen?«
»Denke schon.« Sie warf einen Blick auf ihre
Armbanduhr.
»Es wird nicht lange dauern.«
»Okay.«
Vor dem Café standen Tische und Bänke. Die im
Schatten waren alle besetzt. Ich nahm jedoch direkt in der Sonne
Platz, damit niemand in der Nähe war, der unser Gespräch mithören
konnte. Amy blieb vor mir stehen.
»Ich habe etwas, das dir gehört.« Ich holte die
braune Einkaufstüte aus meinem Rucksack, öffnete sie und hielt sie
ihr hin. Sie spähte hinein.
»Was ist das?«
»Ein Pullover.«
Sie sah mich erstaunt an.
Ich konnte es einfach nicht fassen, dass sie
das Ding noch nicht mal wiedererkannte, während es für mich eine
derartige Bedeutung gehabt hatte und es mir immer so vorgekommen
war, als könne ich die grelle Farbe durch die Papiertüte hindurch
wahrnehmen.
Ständig hatte ich mir vorgestellt, wie sie
jeden Tag nach dem Pullover suchte, ihn vermisste, überlegte, wo er
bloß abgeblieben sein konnte. Erst jetzt erkannte ich, wie dumm das
gewesen war.
»Vor ungefähr anderthalb Jahren hab ich ihn in
der Bibliothek der West Seaton Highschool gestohlen.«
Jetzt blitzte es in ihren Augen auf. »Ach ja!
Ich erinnere mich. Er ist einfach verschwunden.«
Sie griff in die Tüte und zog den Pullover
heraus, was mir ungemein peinlich war, weil ihn jetzt jeder um uns
herum sehen konnte. Dabei vergaß ich, dass das Ding für andere ja
nur ein gewöhnliches Kleidungsstück war.
»Ja, das ist er. Wow!« Sie sah mich an. »Du
sagst, du hast ihn gestohlen? Warum?«
»Weiß ich nicht«, erwiderte ich automatisch,
aber das war schon wieder feige, und ich hatte mir geschworen,
heute nicht feige zu sein. »Es war blöd von mir, so was zu machen.
Ich glaube … ich war damals in dich verknallt.« Was immer ich
für sie empfunden hatte, es hatte sich schon vor so langer Zeit
verflüchtigt, dass meine Stimme völlig ausdruckslos blieb. Über ein
Jahr lang war dieser Pullover für mich nichts als eine peinliche
Erinnerung gewesen.
»Oh.« Sie trat einen Schritt zurück, rollte den
Pullover mit spitzen Fingern zusammen und stopfte ihn wieder in die
Tüte. »Das … wusste ich nicht.« Ich hätte entgegnen können,
dass sie durchaus gewusst oder zumindest geahnt hatte, was ich für
sie empfand, aber offenbar hatte sie mich völlig vergessen. Was
keine Rolle spielte. »Und warum bringst du ihn mir jetzt
zurück?«
»Weil ich es einfach für richtig hielt. Es hat
mich immer belastet, dass ich ihn gestohlen habe, und das Ganze tut
mir leid.«
»Tja.« Sie nickte, ohne mich anzusehen.
Stattdessen blickte sie rasch zur Seite, als suche sie nach einem
Fluchtweg. »Ist das alles?«
»Ja.«
Sie betrachtete die Tüte mit dem Pullover und
runzelte die Stirn. »Weißt du was? Würde es dir was
ausmachen … könntest du ihn nicht einfach in die
Altkleidersammlung oder so geben?«
Fast hätte ich aufgestöhnt. Nachdem ich das
verdammte Ding endlich losgeworden war, sträubte sich alles in mir
dagegen, es wieder an mich zu nehmen. Doch ich musste die Sache bis
zum Ende durchziehen. Ich konnte verstehen, warum sie den Pullover
nicht zurückhaben wollte. Deshalb sagte ich: »In Ordnung. Wenn du
das möchtest.«
»Gut.« Sie ließ die Tüte neben mich auf die
Bank fallen. »Danke«, sagte sie und ging davon.
Ich radelte zur Nichols Avenue hinüber,
wo immer ein Altkleidercontainer gestanden hatte. Er war noch da.
Ich zog die Metallklappe nach unten und warf die Tüte mit dem
Pullover hinein. Dann machte ich mich auf den Weg nach Hause. Jetzt
war ich ihn endgültig los.