Kapitel zwei

Als ich elf Jahre alt war, ist meine Mutter gestorben. Ist schon okay, ihr könnt ja nichts dafür – oder etwa doch? Nein, ich mache nur Spaß, tut mir leid. Ich meine, die Leute schauen einen dann immer so bestürzt an. Das liegt jetzt mehr als achtzehn Jahre zurück, und ich erzähle es immer noch nicht gern. Alle sehen plötzlich schockiert und betroffen aus, und schließlich versichere ich hastig: »Ist schon okay« und tröste dann sie statt sie mich.

Bis zu jenem Zeitpunkt war ich ziemlich normal, glaube ich zumindest. Ich war eher schüchtern, meine Hobbys waren Perlen, Barbie und Schulespielen. Ich würde mal sagen, dass wir in einem ziemlich großen Haus wohnten, aber damals ist mir das nie aufgefallen. Ich dachte einfach, dass jeder ein Hausmädchen und ein eigenes Ankleidezimmer hat. Na ja, was das betrifft, würde ich das komplette Ankleidezimmer, jede Barbie, die je auf den Markt gekommen ist, und alles andere, was ich irgendwann einmal besessen habe, nur zu gerne zum Teufel jagen, wenn ich stattdessen die Erinnerung daran aus meinem Kopf verbannen könnte, wie die Rektorin ins Klassenzimmer kam und mit seltsam erstickter Stimme erklärte, ich möchte doch bitte in ihr Büro mitkommen.

Ich versuche, mich an sie zu erinnern. Eines Abends, als ich etwa sieben Jahre alt war, schickten sie sich gerade an auszugehen – sie gingen abends oft weg, meine Mutter tanzte gerne und liebte Bälle, und mein Vater tat nichts lieber, als sie zu verwöhnen. Sie hatte ihr Lieblingskleid an – sie besaß viele Kleider, aber die meisten trug sie nur ein- oder zweimal. Dieses hingegen holte sie immer wieder aus dem Schrank. Es war aus pinkfarbener Seide (hey, wir reden hier von den Achtzigern), und sie trug dazu Locken und eine Blume im blonden Haar. Mein Vater übernahm das mit der Blume. Er tat so, als wäre es von äußerster Bedeutsamkeit und dass nur er das vernünftig hinbekam, und machte daraus eine großangelegte Aktion, mit jeder Menge Spray und Haarnadeln. Er beugte sich zu ihr hinunter, ihre Nasen berührten sich fast, und dann steckte er ihr vorsichtig, umständlich die Orchidee ins Haar. Schließlich drehten sie sich beide zu mir um. Vor Vorfreude lag ein Funkeln in den Augen meiner Mutter, wenn sie vor mir den Kopf neigte.

»Also«, verkündete mein Vater dann, »jetzt liegt die Entscheidung bei dir, Sophie. Kann deine Mutter sich so in der feinen Gesellschaft sehen lassen?«

Und irgendwie war mir klar, dass ich eine ernste Miene aufsetzen musste, so als würde ich sie wirklich genau unter die Lupe nehmen. Meine Mutter zeigte mir ihre Frisur, ich begutachtete sie sorgfältig und brummelte: »Hmm …«

Und dann flehte Mummy: »Bitte, Sophia, sag mir, dass ich vor deinem kritischen Auge bestehe!«

Und Daddy fügte hinzu: »Ja, denn wenn du uns so nicht aus dem Haus lässt, dann kommen wir zu spät zur Party, und du weißt ja, wie sehr deine Mutter es hasst, ein Fest zu verpassen!«

Und Mummy machte ein trauriges Gesicht. Nachdem ich sie so lange hingehalten hatte, wie ich es nur aushielt, verkündete ich: »Nun gut … ich würde mal sagen, Prüfung bestanden!«

»Hurra!« Dann küsste meine Mutter mich und hinterließ pinkfarbenen Lippenstift auf meiner Wange. Mein Vater gab vor, unglaublich erleichtert zu sein, und sie versprachen, mir je ein Stück von den besten Kuchen auf der Party mitzubringen. Dann lieh Daddy mir seine kostbare Leica, und ich machte ein Foto von ihnen.

Wir hatten viele solcher kleinen Rituale. An das mit dem pinkfarbenen Kleid erinnere ich mich am besten. Als ich älter wurde, überlegte ich manchmal, wie seltsam es doch war, dass sie auf jeder Party mit einem kleinen Täschchen erschienen und Petits Fours mitgehen ließen. Aber genau das taten sie, weil sie mich liebten und weil wir eine Familie waren, und ich denke, dass ich vielleicht deshalb so gerne Süßes zum Frühstück esse.

Nachdem sie gestorben war, ging natürlich alles den Bach runter. Obwohl ich schon elf Jahre alt war, ist diese Zeit in meiner Erinnerung irgendwie verschwommen. Mir war nicht klar gewesen, wie gut und mit welch behutsamer Hand sie den Haushalt geführt hatte, bis sie uns verließ. Ohne Esperanza, die sich um uns kümmerte, hätten wir vermutlich bereits nach einer Woche kalte Bohnen aus der Dose gelöffelt.

Die vielen Freunde meiner Eltern waren toll, natürlich, sie kamen vorbei und brachten uns was zu essen mit und luden mich ständig zu sich nach Hause ein, damit ich mit ihren Kindern spielte. Aber ich hatte dort seltsamerweise immer das Gefühl, dass ich mich supergut benehmen musste, sonst fingen die Mütter nämlich unweigerlich an zu weinen, und es war mir verhasst, alle so aufzuregen.

Nachdem ein wenig Zeit verstrichen war, ging es mir zwar wieder besser, und ich wollte gerne lachen oder mitspielen, aber dann merkte ich, wie die anderen Mädchen und ihre Mütter mich ansahen, als wollten sie sagen: »Wie kann die Kleine nur so fröhlich spielen, wenn ihre Mutter gestorben ist?« Und dann war ich wieder traurig und fühlte mich schuldig.

Daddy lenkte sich ab, indem er sich auf seinen Job konzentrierte. Er leitete irgend so einen persönlichen Anlagenblablabla mit Blablafonds. Er hatte versucht, es mir zu erklären, aber ich habe nie richtig zugehört.

Um ehrlich zu sein, stürzte er sich geradezu in die Arbeit, und zwar sehr erfolgreich, denn er war jetzt nie zu Hause. Weil er fand, dass ich ein durchstrukturierteres Leben brauchte und die bestmöglichen Chancen für die Zukunft, beschloss er, mich in ein Internat zu schicken.

Daddy dachte wirklich, es wäre das Beste für mich, obwohl er beim Abschied so sehr weinte, dass ich schließlich ihn trösten musste. Das Verrückteste daran war, dass Kendalls nicht einmal einen Kilometer von unserem Haus in Chelsea entfernt lag. Er schickte mich nicht weg, er wollte einfach nur, dass man sich um mich kümmerte, und zwar in einer sicheren Umgebung, wo ich nicht bei jedem Blick oder jedem Kleid, jedem Tor, jedem Laternenpfahl über meine Mutter stolperte.

Ich hegte romantische Vorstellungen von Internaten, für die ich vor allem der Dolly-Reihe und Mutters Lieblingsbuch, Was Katy in der Schule tat, die Schuld gebe. Ich fand die Idee gar nicht schlecht. Zwar hatte ich nicht unbedingt erwartet, Spaß zu haben, aber die Vorstellung von Mitternachtspartys, Ausritten und Streichen im Unterricht fand ich doch zumindest interessant. Außerdem würde dort niemand eine Mutter zur Hand haben, und ich wäre in dieser Hinsicht kein Außenseiter.

Hm. Internate in Büchern sind nicht ganz so wie die im richtigen Leben. Das hätte ich eigentlich wissen müssen, oder? Statt vieler lustiger Mädchen traf ich dort auf unglaublich hübsche, ziemlich fiese und eigentlich eher einschüchternde Mitschülerinnen.

Zunächst weckte ich dort einiges Interesse – mein tragisches Schicksal erregte große Aufmerksamkeit. Als diese Anteilnahme irgendwann abebbte und klar wurde, dass ich keine Kundenkarte für Harvey Nics hatte, fühlte ich mich plötzlich immer öfter alleingelassen. Dass ich ein stilles Kind war, war früher eigentlich kein Problem gewesen, denn ich hatte ja meine Eltern, die mir zuhörten, und ich hatte mich nie einsam oder fehl am Platz gefühlt.

Hier hingegen war ich so allein und fühlte mich so unbehaglich, wie man es sich nur vorstellen kann. Bis zu dem Tag, als ich Carena Sutherland dabei erwischte, wie sie ihrem Hamster eine Pediküre verpasste. Wusstet ihr, dass Hamster gegen Nagellack allergisch sind? Nein, ich auch nicht.

Ich hatte beim Mittagessen zu den Unterhaltungen der anderen Mädchen absolut nichts beizutragen, wenn sie sich über Diäten und Jungen austauschten, über Fernsehsendungen, die ich nicht gesehen hatte, oder über Musik, die ich noch nie gehört hatte. Ich wäre vielleicht nicht so verletzt und verunsichert gewesen, wenn ich Leute getroffen hätte, mit denen ich auf einer Wellenlänge lag. Aber es war anders gekommen, und dementsprechend fühlte ich mich.

»Mist!«, fluchte Carena und starrte auf das offensichtlich tote Tier, das auf der Seite lag.

»Was ist das denn?«, fragte ich schüchtern.

»Ein ganz, ganz kleiner Orang-Utan. Wonach sieht es denn aus?«, höhnte sie, und dann drehte sie sich zu mir um. Ich schreckte zurück. Carena war bei weitem das hübscheste, beliebteste und das am meisten Furcht einflößende Mädchen in unserer Klasse. Ihre Eltern waren ständig wegen der Arbeit unterwegs, und sie erzählte immer, dass ihr Kindermädchen sie durch die Clubs ziehen lassen würde, wenn sie dreizehn war. Irgendwie kauften wir ihr das sogar ab.

»Halt bloß den Mund, verstanden?«, zischte sie in drohendem Tonfall. Ich tat, wie mir geheißen, und spürte ihren wohlwollenden Blick, als Mr Carstairs uns alle anschließend zwanzig Minuten lang in die Zange nahm. Ich hielt dicht.

Zwei Monate später sprach sie wieder mit mir. Mein Dad hatte sich gerade einen Lamborghini gekauft. Ich habe keine Ahnung, was ihn da geritten hat. Er ist wohl eines Tages aufgewacht und hat sich gedacht, nun, ich habe die Liebe meines Lebens verloren – vielleicht hilft mir ja ein großes, glänzend rotes Auto. Oder vielleicht hatte ihm jemand bei der Arbeit davon vorgeschwärmt. Auf jeden Fall schickte er seinen Assistenten Brad los, um es für ihn abzuholen, und aus einer Laune heraus bat er ihn, mich gleich mitzubringen.

Der Wagen gab ein unglaubliches Getöse von sich, als er die Straße entlanggefahren kam. Er war leuchtend rot und lächerlich protzig. Alle Mädchen liefen herbei, um ihn sich anzusehen, und dann stieg Brad aus. Er war groß, gutaussehend, Amerikaner, schwul und unglaublich lieb zu mir. Mit seinem gestreiften Hemd, den perfekt nach hinten gegelten Haaren und den großen weißen Zähnen sah er für uns Zwölfjährige aus wie der Inbegriff eines Pin-up-Models.

»Hey, schöne Frau«, rief er. »Lust auf eine Spazierfahrt?«

Eigentlich setzte er mich nur bei Dads Büro ab, wo ich eine Stunde darauf wartete, dass mein Vater aus einem Meeting kam. Dann fuhren Daddy und ich in beinah völliger Stille die King’s Road entlang. Am Ende der Straße sah Daddy mich schließlich an.

»Das ist bescheuert, oder?«, fragte er.

»Na ja …«

»Ich dachte, mit der Karre würde ich mich besser fühlen.«

»Und?«

»Sie hätte das Ding gehasst, oder?«

»Dieser Wagen ist wirklich, wirklich geschmacklos, Dad.«

»Ja«, meinte er, »das hätte ich mir eigentlich denken können, so wie Brad darauf abfährt. Gehen wir eine Pizza essen?«

»Okay.«

Ich erinnere mich nicht daran, dieses Auto je wieder gesehen zu haben. Aber mir war zum ersten Mal klar geworden, dass meine Familie wohl ziemlich reich war.

Am nächsten Tag schlenderte Carena in der Pause wie zufällig an mir vorbei, tat so, als wäre sie überrascht, mich zu sehen, und sagte dann: »Oh, Sophie, hättest du Lust, zum Essen mit zu mir nach Hause zu kommen?«

Einfach so. Ungefähr genauso erstaunlich wie das erste Mal, als mich später ein Junge um ein Date bat (Marcus. Sein Vater war Farmer, und ihm gehörte halb Shropshire. Mit Tieren sprach er lieber als mit Mädchen. Ein Kuss von ihm fühlte sich an, als würde man von einem großen Pferd abgeleckt).

Und von da an waren wir Freundinnen, selbst dann noch, als sie herausfand, dass Brad gar nicht mein glamouröser und leicht pädophiler Freund war, sondern nur ein Angestellter meines Vaters. Sie genoss meine offensichtliche Bewunderung, gegen die ich absolut nicht ankam – Carena war einfach atemberaubend. So selbstbewusst. Meine Welt war ein einziges Durcheinander, und ich war mir nicht mehr sicher, welche Regeln jetzt galten. Aber Carena tänzelte durchs Leben, umgeben von einer Wolke unerschütterlichen Glaubens daran, dass sie bekommen würde, was ihr Herz begehrte, und dass jeder vor ihr strammstehen würde. Und so war es ja meistens auch.

Wir rauchten alle unsere ersten Zigaretten bei Carena zu Hause, dort probierten wir auch unseren ersten Wodka. Ihre andere beste Freundin war Philly, eine Stipendiatin, und wir beide buhlten um Carenas Gunst. Es war toll, mir keine Gedanken machen zu müssen, denn das tat Carena jetzt für mich. Ich begann, ihre Total-egal-Attitüde zu übernehmen, ihren herablassenden Blick auf die Welt. Vielleicht wurde ich ein wenig frecher, ein wenig härter. Ich rede mir gerne ein, dass ich zu schüchtern war, um mich richtig schlecht zu benehmen – aber dann erschien Gail auf der Bildfläche.

Eines Samstagabends übernachtete Carena bei mir – ich war dreizehn –, und Daddy kehrte von einer Geschäftsreise aus Prag zurück. Er war in letzter Zeit viel geflogen. Er kam spät, und ich konnte von oben hören, dass er nicht allein war. Sie lachten. Mein Vater hatte früher ständig gelacht. In letzter Zeit eher weniger.

»Wer ist das?«, fragte Carena, legte vor dem vergoldeten Spiegel neben der Treppe Lipgloss auf und zog einen Schmollmund. Zu jener Zeit probten wir sexy Gesichter. Vermutlich waren sie wohl weniger aufreizend als vielmehr gruselig, denn sie machten vielen von unseren Lehrern Angst.

»Ich weiß nicht«, erwiderte ich. Mein Vater brachte nur selten jemanden mit nach Hause, mal abgesehen von seinem Anwalt, Onkel Leonard (ich sagte nicht mehr Onkel zu ihm, seit das Carena einmal zu Ohren gekommen war und sie sich über mich lustig gemacht hatte).

Die große Tür ging auf.

»Sophia? Schatz?« Die Stimme meines Vaters tönte durchs Treppenhaus. »Bist du zu Hause?«

Ich antwortete mit einem Hm-Laut, den ich in letzter Zeit oft bei Carena gehört hatte.

Daddy trat in den Hausflur. Er sah müde aus, und er hatte zugenommen. Aber er trug ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht und hatte Lachfalten um die Augen.

»Sophie, ich möchte dir jemanden vorstellen.« Und dann verkündete er, quasi mit Trommelwirbel und Fanfare: »Gail.«

Gail trat vor. Sie war hübsch und blond, mit Stupsnase und niedlichem Kaninchen-Lächeln, das im Moment allerdings extrem nervös wirkte.

»Sophie!«, rief sie ein wenig zu fröhlich. »Ich erkenne dich von den Fotos wieder!«

Ich war so perplex, dass ich kaum ein Wort hervorbrachte. Es war ja ganz offensichtlich, was hier vor sich ging. Er war losgezogen und hatte sich eine Freundin zugelegt, ohne mir etwas davon zu sagen! Das warf mich völlig aus der Bahn. Carena gab einen Laut von sich, als würde sie nach Luft schnappen. Ich starrte sie an. Mein Vater stand immer noch da und sah hoffnungsvoll zu mir herauf. Auf der einen Seite Carena, und da unten stand mein Dad, und genau vor mir war der größte Affront, den ich mir nur vorstellen konnte. Mit Lippenstift auf den Zähnen.

»Hallo … Gail«, sagte ich einfach nur, ohne zu lächeln oder aufzustehen. Gails Lächeln begann augenblicklich zu schwinden. Und plötzlich machte mich das unglaublich wütend. Was hatte sie denn erwartet? Dass ich die Stufen hinuntereilen würde, um sie in die Arme zu schließen und sie zu bitten, meine neue Mutter zu werden?

Mein Vater fasste Gail am Ellbogen.

»Irre!«, verkündete Carena. Ich sah sie an, absolut schockiert. »Komm schon«, meinte sie, »wir verschwinden.«

Einen Moment war ich hin- und hergerissen. Dann drehte ich mich um und folgte ihr.

»Wer war das denn?«, fragte Carena laut, als wir mein Zimmer erreichten. Und das Schlimmste daran: Ich musste zugeben, dass ich keine Ahnung hatte.

Mein Vater rief mich später am Abend zu sich, als Gail nach Hause gegangen war.

»Die Sache tut mir leid«, erklärte er. »Es war eine ganz spontane Aktion. Wir kamen hier vorbei, und ich dachte …«

Ich starrte ihn an. Was hatte er gedacht? Dass ich auf nichts anderes gewartet hatte als ein Treffen mit … also, es war mir ehrlich gesagt nie in den Sinn gekommen, dass Dad eine andere Frau kennenlernen würde. Es war schließlich erst zwei Jahre her. Und er hatte doch mich!

Daddy streckte die Arme nach mir aus: »Sie ist ein nettes Mädchen, Sophia. Du willst doch, dass ich glücklich werde, oder etwa nicht?«

Natürlich wollte ich das, und ich hatte zu viel Angst, um ihm zu erzählen, wie schlimm es für mich wäre, wenn ich ihm Kummer gemacht hätte. Aber innerlich kochte ich vor Wut, und ich war so durcheinander und eifersüchtig wie noch nie zuvor in meinem ganzen Leben. Sie hatten mir die Mutter weggenommen, aber meinen Vater würde niemand kriegen!

Bald war mein Leben für meine Schulfreundinnen die reinste Seifenoper, während Gail ihr Bestes gab, um sich mit mir anzufreunden. EastEnders war nichts dagegen.

Sie bemühte sich, das muss man wirklich sagen. Da gab es »Familien«-Nachmittage auswärts, kleine Geschenke und besondere Ausflüge. Ich verbrachte sie alle durchweg schmollend, so wie es nur ein dreizehnjähriges Mädchen vermag. Wenn sie passiv-aggressives Herumgrummeln zur olympischen Disziplin erklärt hätten, wäre ich als sichere Gewinnerin ins Rennen gegangen, technisch besonders stark in den Kategorien tiefe Seufzer, Türenknallen und Dreisprung mit langer Miene.

Also passierte natürlich das Unumgängliche.

Es war Freitagabend, ich hatte nach der Schule kurz zu Hause vorbeigeschaut, um ein paar Klamotten und Geld mitzunehmen und dann das Wochenende bei Carena zu verbringen. Ich liebte das Arbeitszimmer meines Vaters. Es hatte immer schon ganz anders gerochen als der Rest des Hauses. Meine Mutter hatte hier nie viel Zeit verbracht, also lag in diesem Raum nicht der zarte Hauch ihres Parfüms (Miss Dior), der den Rest des Hauses erfüllte und den ich immer noch nicht riechen kann, ohne das Gefühl zu haben, dass mir jemand einen Schlag in den Nacken versetzt.

»Mäuschen, könntest du mal kurz reinkommen, ich möchte mich mit dir unterhalten«, rief Dad. Ich sah mich um und hoffte, dass es nicht um mein letztes Zeugnis ging. Meine große Entschuldigung für schlechte Noten machte nämlich so langsam keinen besonderen Eindruck mehr.

Er sah nervös aus. Na ja, gut. Nervös war besser als sauer.

»Sophia …« Er blickte auf seine Hände. »Hör mal, ich überlege … Ich überlege, Gail zu fragen, ob sie mich heiraten will.«

O Gott. Mein schlimmster Alptraum wurde wahr. Ich war noch nicht einmal geistesgegenwärtig genug, um beleidigt aus dem Zimmer zu rennen, einen Aufstand zu machen oder rumzubrüllen. Ich stand da wie versteinert, während mir Tränen in die Augen schossen.

»Sophie, das ist schon in Ordnung.« Er streckte die Arme nach mir aus, als wollte er mich drücken, aber ich blieb wie angewurzelt stehen. Dann seufzte er.

»Es geht hier doch nicht um dein Erbe, oder?«, fragte er sanft. »Du weißt, dass ich immer gut für dich sorgen werde.«

Dieser Gedanke war mir nie in den Sinn gekommen. In der Schule hatten alle Geld. Über dieses Thema wurde nicht einmal gesprochen.

Ich war schlicht wie gelähmt vor Angst, meinen Vater zu verlieren. Oh, sogar für eine Dreizehnjährige war ich selbstsüchtig. Ich stand einfach nur im Arbeitszimmer und ließ die Tränen meine Wangen hinabrinnen, sodass er sie sehen konnte.

Und jetzt sitze ich so viele Jahre später hier am Strand und frage mich: Bin ich glücklich?

Na ja, eines kann ich zumindest sagen: Ich habe für mein Verhalten die Quittung bekommen. Wirklich und wahrhaftig. Und ich will gerne erzählen, was genau passiert ist.