Kapitel sieben

Natürlich hatte ich keine Ahnung, wie man packt. Bisher hatte Vogue keinen Artikel zum Thema »Minimalgarderobe für Ihr beschissenes neues Leben« gebracht. Wenn ich es logisch anging, dann waren wohl Gummistiefel, dreihundert Pullis und ein Chemikalienschutzanzug angebracht.

Ich warf einen Blick in meinen Schrank. Die Sachen waren nach Farben geordnet, sodass die einzelnen Töne sanft ineinander übergingen. Ich liebte meine Klamotten. Zum Beispiel das himbeerfarbene Temperley-Kleid aus Seide, das ich zu Theos einundzwanzigstem Geburtstag getragen hatte und mit dem ich im Springbrunnen gelandet war. Tatsächlich hatte ich es nur dieses eine Mal getragen, aber es war ein cooles und tolles Kleid und hatte nur etwa siebenhundert Pfund gekostet, wenn ich mich recht entsann. Himmel. Vielleicht konnte ich es verkaufen? Aber dann sah ich die Wasserflecken, die sie auch in der Reinigung nicht herausbekommen hatten. Also wohl eher nicht.

Oh, und dann dieses hübsche Modell aus blassgrünem Chiffon. Es war mein Ein und Alles gewesen, bis eine berühmte Fußballer-Frau zehn Tage später genau das gleiche Kleid trug und ich es für immer aufgeben musste. Wirklich traurig. Ach, egal, ich packte es trotzdem ein.

In der Eingangshalle beäugte Gail meine Taschen. Sie war um mich herumgeschlichen und hatte mir entschuldigende Blicke zugeworfen. Sehr weit ging ihr schlechtes Gewissen allerdings nicht, denn ich wartete vergeblich darauf, dass sie sagte: »Weißt du was, Sophie, ich habe meine Meinung geändert. Lass uns doch für das nächste halbe Jahr eine Junggesellenbude für dich im Keller einrichten. Denn bestimmt hat dein Vater eher so was gemeint.«

»Das sind nur Klamotten«, betonte ich, falls sie befürchtete, ich hätte irgendwelche Gemälde hinter den Futterstoff geschoben. »Und ich muss die Louis-Vuitton-Taschen nehmen, weil ich nichts anderes habe.«

»Viel Glück!« Sie lächelte nervös. »Ich konnte es gar nicht abwarten, zu Hause auszuziehen. Das war der aufregendste Tag meines Lebens.«

Ich starrte sie an.

»Mir ist schon klar, dass es nicht das Gleiche ist.«

»Das ist so ganz und gar nicht das Gleiche«, verkündete ich kläglich.

»Aber dein Dad war sich sicher, dass du es schaffst. Und weißt du was … ich bin davon überzeugt, dass du stur genug bist, um wirklich etwas daraus zu machen.«

Das war vermutlich das Netteste, was Gail je zu mir gesagt hatte.

»Ja, danke«, antwortete ich ein wenig unbeholfen, aber ich war wirklich überrascht. Sie kam auf mich zu, und ich dachte, sie würde mich vielleicht umarmen, aber im letzten Moment hielt irgendetwas uns zurück.

Dabei wäre es wahrscheinlich ganz einfach gewesen.

Aber jetzt kam der wirklich schwierige Teil. Ich schlich nach unten und flüsterte ihren Namen.

»Esperanza?«

Sie kam aus der Küche, trocknete sich die Hände ab und sah mich ängstlich an.

»Miss?«

Ich drehte nervös an einer Haarsträhne herum.

»Esperanza, du weißt doch sicher, dass ich ausziehe.«

Ihr Gesicht verriet keine Gefühlsregung. Ich hätte nicht sagen können, ob sie darüber froh oder traurig war. Vielleicht war das auch besser so. Ich fragte mich, wie ich es wohl gefunden hätte, wenn Esperanza eines Tages gegangen und nie wieder zurückgekommen wäre. Hätte ich es überhaupt bemerkt?

Ich schämte mich wirklich.

»Also, hm. Ich hab mich gefragt. Da, wo ich einziehe … da muss ich putzen. Du weißt schon, mich um alles kümmern. Und ich hab mich gefragt, ob du mir helfen und … mir zeigen könntest, was ich machen muss.«

Zuerst sah sie mich nur ungläubig an. Dann verzog sie plötzlich das Gesicht – aber vor Freude.

»Miss Sophie! Sie möchten, dass ich Ihnen zeige, was Sie machen müssen? Sie brauchen meine Hilfe?«

»Ja«, antwortete ich und errötete.

»Natürlich kann Esperanza Ihnen helfen! Kommen Sie!«

Dann nahm sie mich bei der Hand, als wäre ich vier Jahre alt, und zog mich in die Küche. Und als ihre Hand meinen Arm berührte, kam es mir plötzlich vor, als wäre es nicht das erste Mal. Aber soweit ich mich erinnern konnte, hatte sie mich nie zuvor angefasst. Dennoch lag ganz klar etwas sehr Vertrautes in dieser Berührung.

»Als Sie klein waren«, erklärte sie, »haben Sie Esperanza gerne geholfen. Wenn ich bei der Arbeit war, sind Sie immer zu mir runtergekommen. ›Was machstu, Espraza?‹, den ganzen Tag lang. Sie hatten Ihren eigenen kleinen Lappen und Staubwedel.«

Das konnte doch nicht stimmen, oder?

»Dann sind Sie in diese Schule gegangen, und danach, pfff. Sie wollten Esperanza nicht mehr helfen. Sie wollten nur noch Schuhe kaufen.«

»Ich mag Schuhe«, entgegnete ich, als Esperanza die Tür zu einer Kammer öffnete, in der ich noch nie gewesen war. Säuberlich aufgereiht stand dort alles, was man zum Putzen braucht – Bleiche und Sprays und Pulver, jedes Produkt mit dem entsprechenden Lappen und Eimer.

Wir gingen das komplette Arsenal durch. Es dauerte Stunden, aber ich hatte ja ohnehin nichts Besseres vor. Wie man einen Spiegel streifenfrei poliert. Wie man Kalkablagerungen entfernt (mein Mut sank, als ich an die Wohnung in der Old Kent Road dachte. Um den Kalkablagerungen dort zu Leibe zu rücken, war wohl eher eine Mittelstreckenrakete vonnöten). Wie man den Staubsauger entleert. Am Ende war ich völlig erschöpft. Wir setzten uns hin, um uns eine Kanne schwarzen Tee zu teilen. Esperanza plapperte und war ganz anders als sonst, sodass ich kaum glauben konnte, mit wem ich da redete. Sie berichtete von ihrer Tochter in Guatemala – die in meinem Alter war, was hieß, dass sich Esperanza in all den Jahren, die sie für uns gesorgt hatte, nicht um ihre eigene Familie kümmern konnte, wie mir klar wurde. Ich konnte nicht fassen, dass ich darüber nie wirklich nachgedacht hatte.

»Sie ist jetzt Lehrerin«, erzählte Esperanza stolz. »Ich hab all mein Geld von hier nach Hause geschickt, und sie ist zur Schule gegangen, und jetzt ist sie Lehrerin.«

Ich war wirklich beeindruckt. Wenn ich mich rangehalten und etwas Vernünftiges gelernt hätte, wenn ich Lehrerin wäre, dann würde ich jetzt vielleicht nicht in diesem Schlamassel stecken … aber wem wollte ich da etwas vormachen? So viel Geduld und Hingabe hatte ich bei weitem nicht. Außerdem, dachte ich finster, führte ich ohnehin ein Leben unter Kindsköpfen, denn jeder, den ich kannte, hatte in etwa die mentale Reife eines Achteinhalbjährigen.

Ich musste los. Meine Sachen waren gepackt. Ich hatte ein paar nützliche Dinge gelernt. Noch ein letztes Mal ging ich hoch ins Arbeitszimmer meines Vaters. Da war jetzt keine Spur mehr von ihm. Ich überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis Gail alles umdekorierte und so auch die letzte Erinnerung an ihn verschwand. Ich fragte mich auch, was sie wohl mit all seinen Jermyn-Street-Anzügen machen würde – er hatte sich so gerne Maßanzüge anfertigen lassen und mich zur Anprobe meistens mitgenommen. Die Schneider schenkten mir Lutscher und verboten mir, mit den Stecknadeln zu spielen. Ich spielte trotzdem damit, und mein Dad lachte, zerzauste mir das Haar und meinte, ich würde eben die Gefahr lieben.

Das stimmte ganz und gar nicht. Aber jetzt hatte ich leider keine andere Wahl mehr.

»Wir sehen uns sicher bald wieder«, versprach ich Esperanza. »Und … ich weiß, ich hab nie …« Plötzlich fiel es mir schwer, es auszusprechen. »Ich weiß, ich habe es nie gesagt. Nie richtig«, gab ich zu. Meine Unterlippe zitterte ein bisschen. »Aber … danke.«

Esperanza presste mich an ihren großen Busen und umarmte mich lange.

»Na, siehst du«, murmelte sie, »mehr war ja gar nicht nötig.«

Wenn die Old Kent Road schon im Morgenlicht übel aussah, so war es am nasskalten, düsteren Nachmittag keineswegs besser.

Ich überlegte, ob die Jungen wohl rauskommen würden, um mir mit dem Gepäck zu helfen. Ich gab ihnen ein paar lange Minuten, während deren ich unten vor dem Haus wartete, aber keine Chance. Vielleicht würden sie keinen Finger krumm machen, bis ich nicht mit dem Scheck rausrückte. Oder vielleicht waren sie auch auf dem Land aufgewachsen. Na ja, zumindest Wolverine. Also packte ich beide Koffer, hievte sie über die Matratze und schleppte sie bis zum Ende des dunklen Flurs.

Anders als das TARDIS-Raumschiff war mein Zimmer in der Zwischenzeit nicht wie durch Zauberhand größer geworden. Und zum Willkommen standen darin auch weder frische Blumen noch eine Flasche Champagner.

Ich überlegte, dass dem WG-Leben ein Imagewechsel wirklich guttun würde. Boutique-Living oder so was in der Art würde gut passen. Wie in einem Hotelzimmer in Manhattan – ja, natürlich ist das nicht mehr als ein winziger Schrank mit Blick auf eine Mauer. Aber, hey, davon lenken wir einfach mit elf Kissen auf dem Bett ab! So was in der Art eben. In den kaputten und wackeligen Schrank würden höchstens drei Minikleidchen passen, und das war’s dann auch schon. Ich schob den vollen Koffer direkt unters Bett; er würde auch den kaputten Federn Halt geben.

Im Haus war es still. Ich ließ mich auf meine neue Schlafstatt sinken und fragte mich, was ich als Nächstes tun sollte. Der Staub kitzelte mich in der Nase, als ich auf dem Fußboden einen Zettel entdeckte, den offensichtlich jemand unter der Tür durchgeschoben hatte.

Bitte, stand hoffnungsvoll ganz oben,

putz die Toilette

und das Bad

und die Küche

und die Fenstern,

ich schüttelte den Kopf über das unnötige n,

und den Fußboden.

Danke.

Wie oft ich das machen sollte, stand da allerdings nicht. Einmal die Woche? Täglich? Und war mit dem Fußboden auch der Boden in ihren Zimmern gemeint? Ich beschloss umgehend, dass dem nicht so war. Ich hatte nicht vor, mich in die Höhlen dieser Trolle zu wagen.

Esperanza hatte mir ein Care-Paket mit ihren Lieblingsputzmitteln mit auf den Weg gegeben. Wie eine von diesen Geschenktüten mit Pröbchen, dachte ich, nur viel, viel beschissener.

Ich schluckte – ich hatte nichts vor, und niemand auf der Welt wusste, wo ich war. Ich nahm an, dass mein Handy noch funktionierte, denn ich hatte es aufgegeben, auf das Display zu schauen. Es rief mich einfach niemand mehr an. Um ehrlich zu sein, wunderte mich das inzwischen, aber um die Rechnung hatte Daddy sich immer gekümmert. Vielleicht war es damit jetzt auch vorbei. Ich sah noch einmal auf die Anzeige. Tatsächlich, da stand »Nummer außer Betrieb«. Mist. Bisher hatte ich mir nicht mal ein eigenes Handy gekauft. Das hatte ich immer über Daddys Firma bekommen. Ich setzte mich wieder aufs Bett. Nicht weinen. Bloß nicht weinen. Ich werde nicht, nicht, nicht weinen.

Ich zog eine Jogginghose von Juicy hervor, die ich normalerweise nur auf dem Weg zur Pilatesstunde tragen würde (damals wusste ich ja noch nicht, dass ich bald in dieser Hose leben würde), und ein CC-T-Shirt. Ich musste das Ganze einfach als Training betrachten, das war alles. Dabei laute Musik hören und mir einreden, das sei jetzt der letzte Schrei wie damals, als alle so taten, als wäre Striptease an der Stange plötzlich eine Sportart.

Zuerst die Küche. Ich glaube nicht, dass ich in meinem Leben schon mal einen bedrückenderen Raum gesehen hatte. Er war so jämmerlich dunkel und trostlos, mit den allerbilligsten, fiesesten Arbeitsflächen, die speziell zu dem Zweck entwickelt worden waren, möglichst viele Flecken und Keime anzulocken. Kacheln in Orange, Braun und Grün buhlten um den spärlichen Platz an der Wand. Der Kühlschrank sah aus wie eines von diesen Modellen, die ab und zu in der Presse auftauchen, neben einer seltsam aussehenden Frau, die verkündet: »Den hab ich 1952 gekauft, und er funktioniert immer noch!« Oder er hätte dort zumindest auftauchen können, wenn man ihn gepflegt hätte oder wenn er – ich schnupperte argwöhnisch – tatsächlich funktionieren würde.

Ich fand einen mit Eisspritzern übersäten Transistor – vielleicht würden sie bei Capital irgendwas Fetziges bringen, das mich wieder aufmunterte.

»Willkommen zurück bei Indie Boys Radio«, ertönte eine Stimme. »Unser Smiths-Marathon geht jetzt mit Never Had No One Ever weiter.«

Ich versuchte, irgendwas anderes reinzukriegen, aber sonst gab es nur Rauschen oder die lauten Piratensender von den Dächern der Hochhäuser in der Nachbarschaft. Egal! Es ging ja vor allem darum, eine positive Einstellung zu bewahren. Ich musste da jetzt durch, und auch durch die nächsten Monate, dann konnte ich mit meinem neuen, stählernen Bizeps wieder nach Hause, würde mein Erbe antreten und jedem zeigen, wie erstaunlich gut ich klarkam. Ich überlegte, dass ich vielleicht eine wohltätige Stiftung zu Ehren meines Vaters ins Leben rufen würde. Für Herzkrankheiten, zum Beispiel, oder nein, da gab es ja schon so einige. Na ja, mir würde sicher was einfallen. Irgendetwas in seinem Namen, und dann würde ich jedes Jahr eine große Spendengala veranstalten, sodass Daddy auf mich stolz gewesen wäre. Welch hehre Ziele ich doch hatte! Während ich mir die Haare zusammenband, konnte ich es beinahe vor mir sehen, wie ich erklärte: »Ich kann nachempfinden, wie es ist, wenn Menschen darum kämpfen, zu helfen und zu heilen – und sich jeden Tag aufs Neue der Herausforderung stellen. Auch ich bin auf Knien herumgerutscht und habe Fußböden geschrubbt …« Nein, Moment mal, das klang gar nicht gut. Vielleicht eher: »Auch ich kenne Blut, Schweiß und Tränen …«

Ich hielt meine Hand unter den Hahn, weil ich Wasser in den Eimer füllen wollte, aber es schien einfach nicht wärmer zu werden. Das fing ja gut an. Rund um das Spülbecken stapelten sich Schälchen mit zementharten Cornflakesresten. Wie konnte jemand nur so was essen? Die mussten ja einen Magen wie ein Steinbruch haben.

Ich überlegte gerade, wer wohl das Rennen machen würde – ich persönlich mochte ja Stephen Fry, aber im Notfall würde auch Neil Morrissey gehen –, als Cal sich mit einem ungezügelten Gähnen seinen Weg in die Küche bahnte. Er trug eine gestreifte Schlafanzugjacke, die nicht zugeknöpft war und ihn eigentlich ziemlich bescheuert hätte aussehen lassen müssen, aber nur seinen hageren Oberkörper – keine Brustbehaarung – und einen schmalen, flachen Bauch betonte. Die meisten Männer, die ich kannte, waren breitschultrige Typen mit mächtigem Brustkorb; riesige Kerle, Farmerssöhne, die jahrelanges Rugby-Training hinter sich hatten. Dieser magere Indie-Look eines Jungen, der mit Marmeladenbroten und Kleberschnüffeln aufgewachsen war, das war etwas ganz Neues. Ich konnte nicht anders, als es ein wenig sexy zu finden, besonders als ich bemerkte, wie ihm die dunklen Haare vom Kopf abstanden.

Er sah verwundert und dann einen Augenblick lang sogar positiv überrascht aus, als er mich in seiner Küche entdeckte.

»Hallo! Dich hatte ich ganz vergessen, Aschenputtel.«

»Ich bin nicht Aschenputtel«, fauchte ich wütend.

»Nein.« Er grinste. »Zumindest nicht, bis du nicht kapiert hast, dass du für warmes Wasser den Boiler einschalten musst. Sonst kannst du noch lange darauf warten, den Eimer vollzukriegen.«

Ich hauchte bloß »Oh«, als hätte ich das die ganze Zeit schon gewusst, und drehte mich zu einer seltsamen weißen Maschine um, die erbebte und laut rumpelte und einen dünnen Strahl kochend heißes Wasser ausspuckte, der mich erschreckt quietschen ließ wie ein albernes reiches Mädchen. Ich versuchte, den Aufschrei in ein Hüsteln zu verwandeln.

»Es ist zwei Uhr. Hast du etwa geschlafen?«

Cal grinste breit. »Nein, diesen Look trage ich für meinen tollen Bürojob in der Stadt. Kriegt man hier vielleicht eine Tasse Tee?«

»Es gibt keinen Kessel.«

»Ach ja, damit haben wir gebatikt. Warte mal.«

Er griff mit seinen langen Armen über mich. Er roch verschlafen – nicht schlecht, einfach nur warm und zerzaust und ein bisschen sexy. Ein guter Geruch.

»Da haben wir ihn ja schon«, verkündete er und holte ihn aus einem Schrank. Er sah hinein, während er mich vom Spülbecken wegschob. »Dem würde ein Schuss Spüli auch guttun.«

Innen war der Kessel völlig bedeckt mit Kalk, eine weiße Schicht, durchzogen von roten Streifen.

»Was meinst du?«

»Vielleicht sind das ja gutartige Bakterien?«, überlegte Cal zweifelnd.

Ich hielt ihn unter den Strahl heißes Wasser. Vielleicht war das ja schon reichhaltig genug, um als erster Aufguss durchzugehen?

»Ich find’s toll, dass du jetzt hier wohnst«, bemerkte Cal, und ich war plötzlich gar nicht mehr so wütend. »Wir brauchen wirklich jemanden, der sich um uns kümmert. Wie bei Schneewittchen und den sieben Zwergen.«

»O nein!«, protestierte ich. »Die Sache sieht ganz anders aus. Ich helfe euch nur, um über die Runden zu kommen, bis ich meinen alten Job wiederhabe.«

Er sah mich träge an. »Du hast einen Job?«

»Na, und du?«

»Ich bin Bildhauer.« Er zuckte mit den Schultern. »Michelangelo fand, dass das eigentlich eine ziemlich coole Berufung ist.«

»Ach, tatsächlich? Und, bist du so gut wie Michelangelo?«

Er lächelte. »Nein. Nein, Sophie, ich bin nicht so gut wie Michelangelo. Kriege ich denn jetzt meine Tasse Tee?«

Ich lächelte zurück und ließ endlich Wasser in den Kessel laufen. Cal reckte sich schläfrig wie eine große Katze.

»Hast du etwa durchgemacht?«, fragte ich keck. Zu meinem eigenen Erstaunen war ich plötzlich versucht, ihm mit den Fingernägeln über die Brust zu fahren. Ich warf einen Blick auf meine Nägel. Ich war schon wer weiß wie lange nicht mehr bei der Maniküre gewesen. Aber vielleicht störte ihn das ja gar nicht.

»Hey, krieg ich auch einen?«

Die Cals-Brust/meine-Nägel-Fantasie wurde von einer jungen Stimme mit starkem Akzent unterbrochen, spanisch vermutlich. Und da stand ein winziges dunkelhaariges Mädchen mit riesigen Brüsten und einem ausladenden Hintern. In meinen Kreisen hätte man sie als fett bezeichnet, aber sie war eindeutig ziemlich heiß. Sie hatte ungekämmtes schwarzes Haar, das ihr ins Gesicht fiel, einen schimmernd olivfarbenen Teint und Ringe unter den Augen, die eigentlich übel aussehen sollten und deretwegen ich schnellstmöglich einen Termin beim Dermatologen vereinbart hätte, aber bei ihr wirkten sie tatsächlich sexy. Sie biss sich auf eine ihrer vollen Lippen.

»Hallo.«

»Hallo«, sagte ich ein wenig steif. All meine auf Fingernägeln basierenden Fantasien verschwanden mit einem gurgelnden Geräusch im Abfluss.

»Das ist Sophie, die Putzfrau«, stellte Cal mich vor. Das Mädchen zog die Augenbrauen ein wenig in die Höhe.

»Ich bin keine Putzfrau«, protestierte ich. »Ich wohne hier. Ich bin gerade eingezogen und helfe ein wenig mit dem Saubermachen.«

»Das Badezimmer ist widerrlich«, verkündete das Mädchen. »Widerrlich. Die ganze Wohnung ist widerrlich.«

»Ja, da war ich auch noch nicht«, entgegnete ich gereizt. Ich konnte ja schließlich nichts dafür, dass der Laden so ein Saustall war. Das Mädchen verlor augenblicklich das Interesse an mir und zog ab, was mich unglaublich ärgerte, wenn man bedachte, dass sich auf den Partys, auf die ich ging, niemand mit ihr unterhalten hätte.

»Hier, der Tee«, sagte ich. Cal warf einen misstrauischen Blick auf das Gebräu. »Nimmst du immer nur einen Beutel für die ganze Kanne?«, wollte er wissen. »Macht man das da, wo du herkommst, so?«

»Nein«, antwortete ich und errötete. Okay, okay, okay. Ich wollte es eigentlich nicht zugeben, aber es stimmte. Bei Esperanzas Service, meiner Vorliebe für Starbucks und/oder Champagner und der Tatsache, dass wir ständig ausgingen … Okay. Ich hatte vorher tatsächlich noch nie Tee gekocht. Ich hatte aber bei EastEnders gesehen, wie man’s macht. Und eigentlich sollte das auch mein Geheimnis bleiben. »Dann übernimm du das doch«, schlug ich vor. »Offensichtlich muss ich ja hier noch das Bad schrubben.«

Das Mädchen drehte sich um. »Oh, eure Putzfrau ist aber zickig.«

»Ich bin keine Putzfrau!«, zischte ich.

»tschuldigung«, sagte sie, sah dabei aber gar nicht so aus, als täte es ihr leid. Sie ging hinüber zu Cal, kuschelte sich unter seine Schlafanzugjacke und – grr! – ließ ihre Nägel über seine Brust wandern.

»Wollen wir nicht lieber zurück ins Bett?«

»Da es keinen Tee gibt – klar, warum nicht.«

Er öffnete den wackeligen Kühlschrank, holte eine Flasche Wein heraus, und dann verschwanden die beiden und ließen mich mit einer Teekanne voll lauwarmem braunen Wasser stehen, das auch ich nicht trinken wollte.

Vier Stunden später fühlte ich mich völlig ausgelaugt – als ob man mir das Mark ausgesaugt und durch Scheuerpulver und Schmutz ersetzt hätte. Meine Nägel hatte ich schon lange aufgegeben; die waren hinüber, vielleicht für immer.

Aber, verdammt noch mal, die Küche war sauber! Eimer um Eimer schmutziges Wasser, Krümel, Haare, nicht identifizierbare Bröckchen und die eine oder andere Nase voll Gerüche, von denen ich nicht glaube, dass sie überhaupt legal waren – aber so langsam wurde es was. Die Schränke waren nicht braun, tatsächlich waren sie beige, nachdem ich erst einmal die Tomatensuppen-Patina abgetragen hatte. Immer noch grässlich, aber zumindest schon mal keine Gefahrenzone mehr.

Es stellte sich auch heraus, dass der Linoleumbelag ein schwarz-weißes Rautenmuster hatte, das mich an den schwarz-weißen Marmor in unserer Eingangshalle in Chelsea erinnerte, aber den Gedanken sollte ich wohl besser verdrängen. Das Allerwichtigste war, dass der Ofen zwar nicht gerade silbrig erstrahlte, aber auch nicht mehr völlig schwarz war, und an den Seiten hingen auch weniger von den knusprig verkohlten Käsekrümeln. Ich hatte die Kacheln geschrubbt, an den Griffen der Schubladen herumgekratzt, das gesamte Geschirr und Besteck gespült und abgetrocknet (nachdem ich zuerst die Trockentücher gewaschen und getrocknet hatte, die wie die gesammelte Unterwäsche eines Stadtstreichers aussahen).

Es war widerlich. Es war ekelerregend. Ich hätte jede einzelne Sekunde gehasst, selbst ohne das Wissen (obwohl sie ziemlich ruhig waren – ich hörte zwar das eine oder andere Stöhnen, aber ich tat mein Bestes, es zu ignorieren), dass zwei papierdünne Wände weiter Blasser-Indie-Boy-Sex lief und dass ich mich gegen meinen Willen fragte, wie das wohl war. Mit Rufus hatte ich jede Menge Spaß gehabt, aber mal abgesehen von der Sache mit den Schlägen war er im Bett eine ziemliche Niete.

Doch ein Zigaretten rauchender Bildhauer … das war wenigstens ein Gedanke, mit dem ich mir beim Schrubben die Zeit vertreiben konnte.

Als ich schließlich zurücktrat, um mein Werk zu bewundern, geschah plötzlich etwas Seltsames. Während ich meinen Blick durch die Küche wandern ließ, konnte ich nicht anders. Ich verspürte echte Zufriedenheit. Und war ein kleines bisschen stolz. Es roch gut und sah zwar nicht toll aus, aber zumindest halbwegs bewohnbar. Ich hatte etwas Furchtbares in etwas Gutes verwandelt. Das war ganz untypisch für mich. Nicht schlecht.

Nicht etwa, dass das zur Gewohnheit werden würde. Und wenn jetzt die Jungs hereinkommen und überall ihren Dreck verteilen würden, dann würde ich morgen mit Sicherheit nicht wieder von vorn anfangen. Ich hätte auch gar keine Zeit dafür, ich musste einen Job finden, damit dieser Unsinn mit dem Putzen so schnell wie möglich ein Ende hatte.

Kurz nach sechs Uhr kam Eck zur Tür herein und warf schwungvoll die Schlüssel beiseite.

»Oh, wow.« Er stutzte und blieb stehen. »Man sehe und staune.«

Ich spürte, wie sich auf meinem Gesicht ein Grinsen breitmachte, und versuchte, es ein wenig zu dämpfen. Was für eine alberne Reaktion auf ein bisschen Seifenlauge.

»Wow«, wiederholte er und ließ die Finger über die Schränke gleiten. »Ich glaube, das hab ich noch nie …« Er lächelte mich an. »Gut gemacht, Sophie, das ist echt top.«

Ich lächelte zurück. Ich konnte nichts dagegen tun, sein Enthusiasmus war ansteckend.

»Erst mal herzlich willkommen!«, sagte er. »Wow. Wenn du so weitermachst, erhöhen sie uns am Ende womöglich noch die Miete.«

»Danke«, erwiderte ich und wünschte mir, nicht von oben bis unten völlig verdreckt zu sein. »Und, ein harter Tag in der Spinnenfabrik?«

Er zog eine Grimmasse. »Frag nicht. Das ist jetzt mein letztes Jahr, also geht es darum herauszufinden, ob die letzten drei Jahre eine völlige Zeitverschwendung waren.«

»Aber Spinnen mag doch jeder!«

Er verzog wieder gequält das Gesicht. »O Gott, hör bloß auf, das ist nicht witzig. Ich hätte bei der Buchhaltung bleiben sollen.«

»Künstler und Buchhalter«, murmelte ich. »Ist doch sehr romantisch.«

»Genau das hab ich mir auch gedacht.« Eck grinste. »Bis ich meinen ersten Studentenkredit verbraucht hatte. Was von Zahlen zu verstehen hilft dabei eher weniger.«

»Ich dachte, die Boheme kümmert sich nicht um Zahlen.«

»Die Boheme isst auch nicht. Ich hingegen bin am Verhungern.«

»Ich koche nicht«, stellte ich klar.

Eck lachte.

»Was denn?«

»Du hättest mal dein Gesicht sehen müssen, als du gedacht hast, ich würde dich zum Kochen verdonnern!«

»Na ja, das steht jedenfalls außer Frage.«

»Ist schon in Ordnung, aber du hast mich angesehen, als hätte ich dir gerade Cals Schlange überreicht.«

»Eigentlich hat der doch gar keine Schlange«, versetzte ich heftig.

»Ja, stimmt. Und eigentlich musst du auch gar nicht kochen, also nimm den Besen runter.«

»Was ’n los?«

Das war James, der ebenfalls in die Küche kam. Er schien über unerschöpfliche Energiereserven zu verfügen, war noch in Army-Klamotten und über und über mit Schmutz und Tarnfarbe bedeckt.

»Stehen bleiben!«, rief Eck. »So kommst du hier nicht rein.«

»Wieso?«, fragte James. »Unterwanderung durch den Feind?«

»Ja. Durch deine schmutzigen Stiefel auf unserem makellosen Fußboden.«

James machte ein paar Schritte rückwärts und steckte den Kopf zur Tür herein.

»Wow«, staunte er. »Sophie, du bist eine ganz unglaubliche Frau.«

Na super. Ich hatte immer darauf gewartet, dass mich jemand eine ganz unglaubliche Frau nannte, und dann lag es an meinen frisch erblühten Fähigkeiten im Haushalt.

»Ich verschwinde dann mal unter die Dusche«, erklärte James. »Ich kann es kaum erwarten zu sehen, was du mit dem Badezimmer angestellt hast … Oh.«

»Das mache ich morgen«, versicherte ich. »Ich bin doch nicht Superwoman.«

»O doch, das bist du«, meinte Eck. Dann hüstelte er und wirkte plötzlich verlegen. »Hm. Wie auch immer.« Er sah sich um. »Gekocht wird also nicht …«

»Fish and Chips!«, ertönte es aus James’ Richtung. Es hörte sich an, als würde er die Stiefel zusammenschlagen und den Dreck über den ganzen Flur verteilen. »Lasst uns Fish and Chips holen. Ich hatte heute Manöver, und wir können die Küche jetzt nicht wieder verwüsten.«

»Also werdet ihr einfach für den Rest eures Lebens jeden Abend bei der Frittenbude vorbeischauen?«

James steckte wieder den Kopf zur Tür herein. »Ich hab schon Schlimmeres gehört. Willst du auch was?«

Na, das war wirklich ein Tag der ersten Male. Vermutlich hatte ich früher schon mal Fish and Chips gegessen, ich konnte mich nur nicht mehr daran erinnern. Weil mein Vater Amerikaner war, hatte er darauf bestanden, dass wir Englands Nationalgericht wenigstens ein einziges Mal probierten. Und anscheinend war das selbst ihm zu viel gewesen, einem Mann, der an die übermäßigen Fettmengen der amerikanischen Küche gewöhnt war. Und seitdem wäre ich lieber vor Hunger in Ohnmacht gefallen, statt irgendwas Frittiertes zu essen (und das war tatsächlich auch mal passiert; eine Zeit lang hatten Carena und ich das Mittagessen ausfallen lassen und waren zu früh bei den Cocktails hängen geblieben). Aber ich war immer ziemlich glücklich damit gewesen, an diesem fettigen Zeug nie Gefallen gefunden zu haben.

Jetzt musste ich allerdings feststellen, dass ich völlig ausgehungert war.

»Sicher.« Ich nickte. Ich hatte noch zwölf Pfund übrig – ob das wohl reichen würde? Ich hoffte es.

»Was ist mit Cal und seiner Klette?«, warf Eck ein. Das war Musik in meinen Ohren.

»Sind die immer noch zugange?«, fragte James. »Meine Güte. Entweder die haben einen Mordshunger, oder sie sind inzwischen tot, also sollten wir mal lieber nachsehen. Und es ist auch nicht fair, Wolverine den ganzen Tag im Garten zu lassen.«

Fünfzehn Minuten später kam James mit einer riesigen, dampfenden, duftenden blauen Tüte zurück. Ketchup, Salz und Essig wurden herausgeholt und großzügig über dem knisternd heißen Fisch und den leckeren Pommes verteilt. Es war absolut und vollkommen köstlich. Und nicht nur das, ich spülte es auch noch mit einem Bier runter. In Gedanken entschuldigte ich mich bei meinen Hüften und bei meiner ganzheitlichen Ernährungsberaterin Fluffo Magenta (zu der ich ohnehin nur äußerst ungern ging, da sie eigentlich immer nur wollte, dass ich mehr Sachen aß, die ich selbst im Wald gesammelt hatte) und fragte mich, wie viele Kalorien ich beim Putzen wohl verbraucht hatte. Jede Menge, vermutlich. Und auf meiner Liste der momentanen Prioritäten stand das wirklich ganz, ganz weit unten. Also langte ich ordentlich zu.

Cal erschien allein auf der Bildfläche.

»Lass mich raten – du hast sie zu Tode gepoppt«, mutmaßte James fröhlich.

»Nein, sie ist gegangen«, erklärte Cal. »Endlich. Klasse, manchmal wird es nämlich echt schwierig, sie loszuwerden.«

»Ihr habt Probleme, weil es Frauen gibt, die diese Wohnung nicht freiwillig wieder verlassen wollen?«, hakte ich nach und konnte meine Skepsis kaum verbergen.

»Na, du bist ja immerhin noch da«, meinte Cal, öffnete eine Flasche Bier und trank einen großen Schluck. »Lasst die Silberzwiebeln für Wolverine übrig, der schmollt nämlich immer noch.«

Wir vier saßen rund um den wackeligen Tisch. James erzählte uns von einem Feldwebel, der eine Visage wie aus der Muppet-Show hatte und kaum einen Befehl brüllen konnte, ohne dass die Truppe »Mensch, Kermit!« rief oder irgendwer den Mahna-Mahna-Song trällerte.

Eck berichtete von seinem Versuch, sich auf dem Sperrmüll mit Altmetall einzudecken, nur um auf eine üble Gang von jugendlichen Schrottsammlern zu treffen, die wild entschlossen waren, ihm seine Beute wieder abzujagen.

»Das waren die reinsten Piraten«, versicherte er. »Bissige kleine Minipiraten. Mit Klappmessern.«

»Und, hast du Schiss bekommen und bist abgehauen?«, fragte Cal.

»Na selbstverständlich«, meinte Eck und schenkte mir sein süßes Lächeln. »Ich bin Künstler, ich darf sensibel sein und kann so was probemlos zugeben. Es muss doch noch andere Mittel und Wege geben, billig an Blech zu kommen.«

»Hast du es mit dem Dach der Akademie versucht?«

Eck verdrehte die Augen. »O Mann! Natürlich!«

Dann richtete Cal sein Augenmerk wieder auf mich.

»So, Miss Mopp. Erzähl uns doch mal was über dich. Was machst du so?«

Bleib ruhig, redete ich mir zu. Ganz ruhig. Die mussten ja nicht unbedingt wissen, dass ich in ein paar Monaten um mehrere Millionen Pfund reicher sein würde, denn dadurch würde alles nur unnötig kompliziert. Außerdem würden sie dann alles wissen wollen, und ich war noch nicht bereit, die ganze Geschichte zu erzählen. Jedenfalls nicht fremden Leuten, und was meine Freunde betraf … na ja. Je weniger ich über die redete, desto besser.

»Ich interessiere mich für Fotografie«, erklärte ich, den Mund voll Ketchup-triefender Pommes. »Ich arbeite für Julius Mandinski.«

Da sie künstlerisch tätig waren, hatte ich gedacht, sie hätten den Namen vielleicht schon mal gehört, aber er rief keinerlei Reaktion hervor. Und da ich seit Wochen nicht mehr im Studio aufgetaucht war und niemand mich angerufen oder versucht hatte, mich ausfindig zu machen, arbeitete ich dort vermutlich sowieso nicht mehr.

»Und wer soll das sein? Irgend so ein Schickimicki-Spinner, der Bilder von Frauenhintern in Krokodilmäulern macht und die dann irgendwelchen Idioten verkauft?«, spottete Cal und machte selbst aus dem Verspeisen von Pommes frites eine wesentlich elegantere Tätigkeit, als ich es mir je hätte träumen lassen.

Ich holte bereits tief Luft, um Julius nach allen Kräften zu verteidigen, aber es stimmte, diese Art von Fotos stand bei ihm nie außer Frage. Ich erzählte ihnen von dem einen Mal, als er für ein Shooting einen Wolf ins Studio mitbrachte und sechs polnische Teenager völlig die Nerven verloren. Ich fand es schön, dass sie darüber lachten.

»Also, jetzt komm schon. Warum bist du hier?«, bohrte Cal weiter. »Mal im Ernst. Ein kleiner Recherche-Trip in die Slums? Oder nur so zum Spaß?«

Eck warf Cal einen Blick zu. »Pscht.«

»Darf man denn nicht mal fragen?«

»Na ja, ich bin schließlich auch hier«, warf James mit seiner wohlklingenden Stimme ein.

»Du bist hier, weil es dir nicht einmal was ausmacht, mit Zweigen im Hintern im Wald zu übernachten«, stellte Cal fest. »Vier Wände machen dir doch eher Angst. Wenn wir hier auch noch Möbel hätten, würdest du sicher die Flucht ergreifen. Also, komm schon, Aschenputtel. Du bist doch offensichtlich ’ne vornehme Tussi. Was war denn los? Ärger mit den Fonds? Zu viel bei Louis Vuitton geshoppt?«

Ich hatte gewusst, dass diese Mistkerle mir dabei zugesehen hatten, wie ich mein Gepäck ins Haus schleppte.

»Oder suchst du etwa Inspiration für einen Film? Demnächst gehst du sicher zurück und erzählst all deinen Freunden, was für unglaublich erbärmliche Zustände in Südlondon herrschen, oder? Und dann lacht ihr euch tot und bestellt noch eine Flasche Cristal?«

»Lass es gut sein, Cal«, unterbrach Eck männlich. »Hör auf, überall deine Nase reinzustecken, du billiger Mistkerl!«

Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen stieg. Und dabei werde ich nie rot!

»Ich zeige doch nur ein angemessenes Interesse an meinem Nächsten – oder meiner Nächsten«, versicherte Cal. »Das tun Künstler nun mal, wisst ihr.«

»Oder, du weißt schon – Arschgeigen«, erwiderte Eck. James und Cal hingegen sahen mich immer noch erwartungsvoll an.

»Das ist doch alles gar nicht echt«, behauptete ich schließlich. »Meine Großmutter hat mich zu einem Voice Coach geschickt. Was das betrifft, ist sie ein echter Snob. Wir sind aus …« Ich kramte in meinen Erinnerungen. »Äh, Hackney.«

Die anderen nickten, bis auf Cal, der mich aus zusammengekniffenen Augen fixierte.

»Wo denn in Hackney?«

»Das kennst du sowieso nicht.«

»Vielleicht doch.«

»Ehrlich gesagt sind wir so arm, dass unsere Straße nicht einmal einen Namen hat.«

»Tatsächlich? Du gehörst also bestimmt nicht zum bürgerlichen Abschaum?«

»Wie schrecklich«, sagte James. »Also, weißt du, die Armee bietet auch gute Chancen, dem Elend zu entkommen.«

»Das ist doch wirklich deine Antwort auf alles.« Cal seufzte. »Hör mal, nicht jeder hat Lust, sich in den Brecon Beacons die Ringelflechte zu holen.«

»Dir würde es nicht schaden«, meinte James ein wenig gereizt, »wenn du mal was anderes machen würdest außer schlafen, vögeln und Bier trinken.«

»Stimmt«, sagte Cal, »mein Leben ist echt total schrecklich.«

Wieder warf er mir einen arglistigen Blick zu. Er war wirklich eine neugierige Ratte.

»Hast du denn keine Freunde, bei denen du unterkommen könntest?«

Ich zuckte mit den Schultern und versuchte, unerschütterlicher auszusehen, als ich mich in Wirklichkeit fühlte.

»Ich wollte mal weg. Inspiration für meine Fotos finden. Und niemandem im Wege sein.«

Eck grinste mich an. »Das wirst du bestimmt nicht.«

»Ach, sieh mal an«, feixte Cal in Ecks Richtung. Puh, er war wirklich fies.

»Tut mir leid, Prinzessin«, fügte er dann hinzu. »Manchmal bin ich ein richtiges Ekel.«

»Manchmal?«, spöttelte Eck, der offensichtlich sauer war.

Das Komische an der Sache war, dass ich an dem Abend trotz all der bohrenden Fragen tatsächlich Spaß hatte. Es ging mir richtig gut. Das Gespräch drehte sich bald um andere Themen wie James’ Manöver, und Cal und Eck provozierten sich weiterhin gegenseitig, und dann kam Wolverine herein und nahm mit einem Grunzen die Silberzwiebeln an sich. Es herrschte einfach eine nette, entspannte Atmosphäre, und an so etwas konnte ich mich nicht mehr erinnern seit … na, eben seit sehr langer Zeit.

Wenn ich mit meinen Freundinnen ins Restaurant ging, waren da immer Hunderte von Menschen, und es wurde laut geredet und angegeben, und dann überbot man sich damit, möglichst wenig zu essen, und das war eigentlich gar nicht besonders lustig. So was hier – einfach mit ein paar Leuten zusammen am Tisch zu sitzen und über den Tag zu plaudern –, na ja, das war neu für mich, und es war ein schönes Gefühl.

Als ich mich auf den Weg zu meiner Zelle in den H-Blocks machte, hatte ich ziemlich gute Laune, die nur ein wenig durch die Tatsache getrübt wurde, dass ich zur Toilette musste, die ja irgendwie das Schmutzigste war, was ich je gesehen hatte, und deretwegen der nächste Tag ganz klar noch schmuddeliger werden würde als dieser. Dann lag ich im Bett, in diesem seltsamen Raum, von dem ich mir nicht vorstellen konnte, dass er sich für mich je wie ein Zuhause anfühlen würde. Ich hörte, dass bei den Männern noch Musik lief, sie drehten sich einen Joint und redeten; die riesigen LKW donnerten auf dem Weg nach Dover die Old Kent Road entlang, die bösen Buben in ihren tiefergelegten Citroëns ließen mit ihren Bässen die ganze Straße erzittern, und in regelmäßigen Abständen ertönten Polizeisirenen.

Ich war allerdings so erschöpft, dass mich selbst das nicht wach halten konnte. In meinem Traum versuchte mein Dad, mich anzurufen, doch das Telefon klingelte nicht. Stattdessen gab es ein sirenenartiges Kreischen von sich.