Kapitel fünf
Es ist schwierig, die Zeit nach dem Tod meines Vaters zu beschreiben. Noch nie hatte ich solchen Schmerz empfunden. Heute habe ich diese Trauer weggesperrt, sie tief in meinem Inneren vergraben. Diese Wochen der Alpträume, aus denen ich hochschreckte, nur um dann alles noch einmal zu durchleben; die schemenhaften Tage im Tablettennebel, an denen ich nicht einmal die Vorhänge zurückzog. Das war ein düsterer Ort, an den ich nie wieder zurückkehren will.
Gail kümmerte sich um alles, weil ich überhaupt nichts tun konnte. Ich konnte nichts essen, ich konnte nicht aus dem Haus gehen. Ich brauchte so dringend jemanden, der mich in den Arm nahm und mir erzählte, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Ich brauchte einen Freund. Ich brauchte meine Freundinnen. Aber ich hatte nichts mehr.
Ich rief an. Carena nahm nicht ab, obwohl sie meine Nummer erkannt haben muss. Dann versuchte ich es bei Philly, die, nach ein paar megalahmen Beileidsbekundungen, mit einer Kleinmädchenstimme piepste: »Bist du sehr böse auf Carena?«
»Wie bitte?«, fragte ich. Böse war gar kein Ausdruck. »Sie hat … sie hat sich benommen wie eine …«
»Ich weiß, dass sie sich deswegen auch ganz schrecklich fühlt«, erklärte Philly. »Und das mit den Gina-Schuhen hat ziemlich wehgetan.«
»Gut«, versetzte ich grimmig. »Ich hatte gehofft, der Diamant würde irgendwem ein Auge ausschlagen.«
»Sie hat mir erklärt, dass die Leidenschaft sie einfach übermannt hat … sie war stärker als sie beide …«
»Weißt du was, ich hab im Moment wirklich Wichtigeres im Kopf«, sagte ich bitter.
»Okay«, erwiderte Philly. »Hm, was ist denn mit der Beerdigung …«
»Komm bloß nicht«, knurrte ich. »Ich will euch beide nicht sehen.«
Das bereute ich später wirklich. Es war ja nicht meine Beerdigung, obwohl das Carena und Rufus sicher ganz gut in den Kram gepasst hätte. Aber sie hätten wirklich kommen sollen. Philly hat schließlich früher immer heimlich alle Muffins bei uns in der Küche verdrückt, und als mein Vater sie eines Tages dabei erwischte, lachte er Tränen und ließ einen großen Korb davon zu ihr nach Hause schicken. Und Carena hat ihm immer wieder geduldig dargelegt, warum wir die Musik so laut hören mussten. Sie waren auch ein Teil von Dads Leben. Wenigstens hatte er Rufus nie kennengelernt. Aber das bedeutete auch, dass zur Beerdigung niemand kam, den ich kannte, nur Hunderte von Finanzleuten.
»Er war so ein guter Mensch.«
»Ein toller Geschäftsmann.«
»Die Zusammenarbeit mit ihm war fantastisch.«
Das alles hatte ich erwartet, und ich versuchte, den Pingpongball in meiner Kehle hinunterzuschlucken und ihnen würdevoll zu danken. Aber ich war nicht darauf gefasst gewesen, dass so viele von diesen Wildfremden etwas über mich sagen würden.
»Und auf Sie war er so stolz.«
»Er hat erwähnt, dass Sie einen wichtigen Job als Fotografin haben.«
»Er hat oft von Ihnen gesprochen. Wie hart Sie gearbeitet haben und wie gut Sie im College klarkamen.«
Ein ums andere Mal kamen Menschen auf mich zu, die ich kaum wiedererkannte, und erzählten mir Dinge, die mein Vater über mich gesagt hatte. Darüber, wie toll ich mich machte und wie gut es bei mir lief und wie glücklich ich war.
Dinge, die angesichts meines nutzlosen Lebens – Partys, Verabredungen zum Lunch und Rumhängen – einfach nicht stimmten.
Der Sommer ging in den Herbst über, und ich merkte es kaum. Eines Tages klopfte Gail laut an meine Tür.
»Sophie? Könntest du bitte nach unten kommen? Wir sind im Arbeitszimmer.«
Ihre Stimme klang zaghaft. Ich ging ihr aus dem Weg – ging allen aus dem Weg –, aber ich hörte sie ab und zu kommen und gehen. Ich hatte sie nicht gefragt, wie sie sich fühlte; ich war zu selbstsüchtig und wie betäubt von meiner eigenen Trauer.
Gail stand steif im Arbeitszimmer. Neben ihr ein großer, grauhaariger Mann mit kleinen runden Brillengläsern und geschürzten Lippen. Und da war auch noch der alte Anwalt meines Vaters, Leonard. Er schwieg und sah traurig aus. Auf Dads Beerdigung hatte er mich in den Arm genommen. Ich hatte ihn immer gemocht. Er hatte vier Töchter und kannte mich, seit ich ganz klein war. Aber die Art und Weise, wie Gail sich neben dem großen Mann postiert hatte, machte klar, dass der jetzt das Sagen hatte.
Und tatsächlich erklärte Gail augenblicklich: »Das ist Mr Fortescue, mein Anwalt.«
Ich warf ihm erneut einen Blick zu. »Was ist mit Leonard?«
»Leonard hat nur für deinen Vater gearbeitet. Mr Fortescue greift mir bei ein paar Dingen unter die Arme.«
Die Sache gefiel mir nicht.
Gails Blick fixierte einen Punkt etwa zwanzig Zentimeter über meinem Kopf. Ihr war wirklich unbehaglich zumute. Mir war nicht klar, warum ich es nicht schon früher begriffen hatte – es war mir nicht in den Sinn gekommen, aber es ging um Daddys Testament. Natürlich. Plötzlich zog sich in meinem Inneren alles zusammen. Dann ignorierte ich dieses Gefühl; es war ja nicht so, als ob ich mir Sorgen machen musste. Ich werde immer für dich sorgen, hatte Daddy versprochen.
»Sophie«, begann sie, »hör mal. Nun ja, dein Vater wollte natürlich, dass du gut versorgt bist …«
Ich nickte.
»Sieh mal, Sophie … es tut mir so leid … das wird jetzt sicher ein Schock für dich sein.«
»Was denn?« Plötzlich geriet der Raum ringsumher ein wenig ins Wanken.
»Dir steht ein Erbe zu, natürlich. Aber es gibt da einen Haken. Dein Vater … hat dein Erbe unter treuhänderische Verwaltung gestellt.«
»Was heißt das?«
»Sophie, wie du weißt, hat sich dein Dad Sorgen um dich gemacht. Er war nicht sehr glücklich darüber, dass du keinen richtigen Job hast.«
»Ich hab doch einen Job!«
»Tut mir leid, das weiß ich ja. Na ja, er dachte vielleicht eher an eine richtige Karriere. Dein Lebensstil, die vielen Partys – darüber hat er sich Gedanken gemacht.«
Ich seufzte. »War das seine Idee? Oder deine?«
Gail sah mich gequält an. »Sophie, ich versichere dir, dass das nichts mit mir zu tun hat. Er hat nur getan, was er für das Beste hielt. Keiner hätte ja gedacht, dass er …« Plötzlich biss sie sich auf die Lippen und wandte sich ab. »Wir hätten wirklich nicht gedacht, dass wir … dass wir dieses Testament je benötigen würden. Wir dachten, uns blieben noch viele Jahre … um zu sehen, wie du deinen Weg machst … um zusammen zu sein … damit ich ein … wie auch immer. Ist ja jetzt auch egal.«
Ich konnte kaum begreifen, was sie da sagte. Mr Fortescue tätschelte ihr den Arm.
»Und ich weiß, mit diesem ganzen … hast du die Zeitungen gesehen?«
Das hatte ich. Eines der Blätter hatte eine Story gebracht, »Zickenkrieg unter Partygören«, mit einem äußerst glamourösen Foto, auf dem Carena gerade meinen Schuh abbekam. Sie stellten mich hin wie eine labile Idiotin.
»Egal, lass uns jetzt nicht darüber reden. Aber das hat mich vollends davon überzeugt, dass der letzte Wille deines Vater seine Gültigkeit haben soll.«
Dann starrte sie auf die Tischplatte, als wollte sie mich nicht mehr ansehen müssen.
»Sophie«, erklärte sie, »es gibt eine Klausel im Testament. Du musst dir deinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Sechs Monate lang. Danach können wir die Sache neu überdenken. Er hat dich geliebt wie verrückt. Aber das war nicht immer gut für dich, und das wusste er.«
Ich wich taumelnd zurück, als hätte mir jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. »Was?«, stammelte ich. Das ergab doch alles keinen Sinn.
»Dein Vater … er hat versucht, alles zum Besseren zu wenden. Du musst ausziehen. Finde dich irgendwie allein zurecht. Es ist doch nur für sechs Monate!«, fügte sie flehentlich hinzu.
»Aber du kannst mich nicht wegschicken«, stammelte ich. »Du kannst mich doch nicht aus meinem eigenen Zuhause rauswerfen. Das kann Daddy unmöglich gemeint haben!«
Die Anwälte traten unruhig und verlegen auf der Stelle. Gail reichte mir das Testament, und da konnte ich es schwarz auf weiß lesen. »Für einen Zeitraum von nicht weniger als sechs Monaten wird die Begünstigte für jeden Bereich ihres Lebens selbst aufkommen …«
Gail sah noch immer sehr kleinlaut aus. »Du weißt doch, wie er war, mit seinen Ideen und seinen Plänen. Er hatte eben den Eindruck, dass du dein Leben vergeudest.«
»Aber ich hab mich doch nur amüsiert«, beteuerte ich, wirklich betroffen. Okay, ich war zu Partys gegangen und zum Lunch, und ich war oft einkaufen gewesen, aber ich dachte, dass er es gut fand, wenn ich mir damit die Zeit vertrieb. Jedes Mal, wenn er angedeutet hatte, ich solle härter an meiner Karriere arbeiten, dachte ich, das sei indirekt nur Gail, die fies zu mir war.
»Kann ich denn nicht hierbleiben?«, fragte ich, während mir die Tränen in die Augen schossen.
Gail schüttelte den Kopf. »Natürlich könnte ich Miete von dir verlangen. Aber dein Zimmer allein würde in dieser Gegend schon etwa zweitausend Pfund im Monat einbringen. Plus Nebenkosten und Verpflegung.«
Ich sah sie an. »Aber das musst du doch nicht, oder, Gail? Du wirst mich doch nicht aus meinem eigenen Haus werfen, jetzt, wo ich keine Eltern mehr habe?«
Es gab eine lange Pause, und ich versuchte, nicht daran zu denken, wie oft ich mich ihr gegenüber schlecht benommen hatte. Sie warf ihrem Anwalt wieder einen Blick zu. »Sophie, es tut mir leid. Wirklich. Aber … ich war mit deinem Dad einer Meinung. Du bist fünfundzwanzig Jahre alt und immer noch auf andere angewiesen. So wirst du nicht erwachsen. Du kannst ja noch nicht mal die Waschmaschine einschalten oder dir einen Kaffee kochen. Ich denke … ich denke, dieses halbe Jahr ist genau das, was du brauchst.«
Ich sah hilfesuchend zu Leonard hinüber, der aber lächelte mich nur traurig an und schüttelte den Kopf.
»Natürlich hast du genügend Zeit, um dich nach einer Bleibe umzusehen und wieder in deinen alten Job einzusteigen …«
Ich war mir nicht sicher, ob ich meinen alten Job überhaupt noch hatte, denn ich war seit Wochen nicht mehr im Studio aufgekreuzt. Und was hätte es mir auch genützt, da es doch kaum Geld dafür gab?
Noch immer fassungslos taumelte ich die Treppe hoch, dann rief ich Esperanza unten in der Küche an.
»Esperanza, könntest du mir bitte einen Latte mit fettarmer Sojamilch hochbringen?«
In der Leitung herrschte lange Schweigen.
»Bitte?«, wiederholte ich.
Erneut eine Pause. Und dann: »Es tut mir leid, Miss Sophie. Ich habe Anweisungen, nichts mehr für Sie zu tun.«
»Was soll das denn heißen?«
»Ihre Mutter … sie hat gesagt, keinen Kaffee mehr, nichts zu essen, und ich soll auch nicht in Ihrem Zimmer putzen.«
»Du machst Witze.«
Plötzlich wurde mir klar, dass ich mich diesmal nicht herausreden konnte. Auf einmal ging’s ums Ganze. Das alles passierte wirklich und wahrhaftig. Und ich hatte es niemand anderem zu verdanken als mir selbst.