Kapitel eins
Seit ich arbeite, war ich immer der Meinung, dass jeder am ersten Sonnentag des Jahres das Recht auf einen freien Tag haben sollte. Ihr wisst schon, ich meine diesen Morgen, an dem man aufwacht und das Herz einen Satz macht, weil man in der Ecke des Fensters ein Stückchen Blau entdeckt und Frühling in der Luft liegt. Meint ihr nicht auch, dass dann jeder automatisch frei haben sollte, um losziehen und den Tag genießen zu können?
Natürlich sind sich die Leute nicht darüber einig, wann genau der Zeitpunkt dafür gekommen ist. Vielleicht sollte man festlegen, wie hoch die Temperatur sein muss, aber dann wären die Schotten vermutlich sauer, und, na ja, es wäre wahrscheinlich schwierig, die Idee in die Tat umzusetzen, vor allem, wenn dann plötzlich die Krankenhäuser schließen und so. Okay. Das war offensichtlich doch kein so brillanter Einfall.
Gut, aber eventuell könnte man ja jedem einen Sonnenschein-Tag im Jahr zugestehen, und man kann sich aussuchen, wann man ihn in Anspruch nimmt, so wie bei manchen Leuten im Arbeitsvertrag steht, dass sie sich ein Mal im Jahr einen Tag Auszeit gönnen dürfen, nur weil sie gerade Lust dazu haben. Und schließlich weiß doch jeder, wann es so weit ist, oder nicht? Auf der Straße sieht man es klar und deutlich, ist doch irgendwie seltsam, die Leute lächeln sich an und so. Hm. Also stehen wir wieder vor dem Problem mit den Krankenhäusern und Polizisten – allerdings genauso mit den Politessen, also wäre es keine komplette Katastrophe.
Wie auch immer. Heute ist das Wetter jedenfalls schön, und ich nehme mir frei – wir nehmen uns frei – und fahren zum Strand!
Na ja, so ein richtiger Urlaubstag ist es dann doch nicht. Seine Brötchen als selbstständige Fotografin zu verdienen hat so einige Vorteile – vor allem kann ich meinen Job im Pyjama erledigen. Der Nachteil ist, dass es irgendwann nervt, wenn die Leute sticheln: »Hey, Sophie, arbeitest du eigentlich immer im Schlafanzug?«
Außerdem bedeutet es auch, dass man ständig an die Arbeit denkt, sogar an Tagen, an denen man offiziell FREI hat. Das ist aber in Ordnung, ich habe nämlich einen Weg gefunden, wie ich beides kombinieren kann. Und deshalb hüpfe ich jetzt auf dem Bett herum. So verleiht man einem Anliegen Nachdruck!
»Komm schon! Komm schon! Lass uns zum Strand fahren! Ich kann dich doch auch dort ablichten!« Er schlägt träge ein Auge auf. »Sophie. Was, um alles in der Welt, treibst du da?«
»Schau mal! Jetzt guck schon aus dem Fenster!«, plappere ich weiter.
»Wie alt bist du noch mal? Sechs?«
»Sieh doch raus, was ist anders?«
»Hm, haben sie die Graffiti überpinselt? Sind die wilden Katzen krepiert?« Tja, unsere Aussicht ist nicht besonders.
»Sonne! Die Sonne scheint! Lass uns losziehen und Fotos machen!«
»Könnten wir vielleicht erst mal frühstücken?«
»Aber mit Eis bitte!«
Er verzieht nachdenklich das Gesicht. »Na, warum eigentlich nicht?«
Ich kann nicht anders, ich bin tatsächlich ein bisschen aufgeregt, als wir in Southend mit unseren Handtüchern aussteigen und uns durch den Strom der Pendler kämpfen. Vielleicht sollte ich immer ein Strandhandtuch dabeihaben; die Leute werfen mir so neidische Blicke zu, als wäre meine Tasche das neueste Birkin-Modell, und ich muss mich zusammenreißen, um im Zug nicht auf dem staubigen, fleckigen Sitz auf und ab zu hopsen, während wir die grauen Londoner Häuser langsam hinter uns zurücklassen und sich Essex vor uns erstreckt.
Abgesehen von ein paar Spaziergängern mit Hund ist der Strand völlig verwaist – und absolut perfekt. Hier draußen, weit weg von der Stadt, ist es ein wenig frischer, aber der Himmel zeigt ein sanftes Blau, und nach dem langen Winter fühlen sich die Sonnenstrahlen warm und belebend an. Ich will mich am liebsten strecken und räkeln wie eine Katze. Ich stelle mich mit dem Rücken zur Sonne, sodass ich die Wärme durch die Kleidung auf der Haut spüre, und schließe die Augen.
»Ah«, seufze ich.
Er lächelt. »Glücklich?«
Also, wisst ihr, das scheint so eine harmlose Frage zu sein, aber ich muss dennoch überlegen. Ich sehe mich um, blicke zu den Dünen hinüber, zu den altmodischen Hotels, die direkt am Strand stehen und zu dieser Jahreszeit ein wenig verwahrlost aussehen. Ich beobachte einen Hund, der einer Möwe nachjagt. Offensichtlich bellt er sich die Seele aus dem Leib, aber er ist so weit weg, dass ich ihn nicht hören kann.
Bin ich glücklich? Es ist lange her, dass ich diese Frage einfach so bejahen konnte. Dabei denke ich nur ungern daran, was für ein Mensch ich früher war.
»Hm, schon.« Ich lächle zurück und hole meine geliebte Leica hervor. »Ich wäre allerdings noch glücklicher, wenn du hier irgendeine Bude finden würdest, die um diese Uhrzeit schon Fish and Chips verkauft.«
Er grinst. »Du bist ein richtiges Luxusweibchen.«
»Aber zunächst mal«, verkünde ich im Befehlston und fuchtele mit der Kamera herum, »jede Menge melancholische Porträts aus mittlerer Entfernung.«
Ich betrachte ihn durch die Linse hindurch. Nach üblichen Standards sieht er gar nicht so gut aus. Was für mich genau richtig ist, denn ich entspreche auch nicht den traditionellen Schönheitsidealen. Blass, mit heller Haut. Früher hatte ich lange, blonde Haare mit einem Mittelscheitel wie Gwyneth Paltrow, bis ich auf einer Party mal so einen schmalzigen Typen mit genau der gleichen Frisur getroffen habe. Und nicht nur das, er hat mir sogar einen Song auf seiner Akustikgitarre gewidmet, was zunächst recht spannend war, bis er dann den Mund aufmachte und sich anhörte wie eine Karambolage im Wespennest. Der Text lautete in etwa »O Baby, du hast mir das Herz gebrochen, in tausend kleine Stücke zerfetzt«, was mich nicht sonderlich beeindruckte, immerhin hatten wir uns ja gerade erst kennengelernt. Kurz darauf hab ich mir dann die Haare schneiden lassen.
»Jetzt guck doch mal ernst!«, befehle ich, was gar nicht so einfach ist, weil er einen kleinen Eisklecks auf der Backe hat – ein Überbleibsel von unserem Magnum-Frühstück (weiße Schokolade natürlich, das mit Zartbitter ist doch eher ein Nach-dem-Abendessen-Magnum).
Er seufzt. »Wieso?«
»Weil du wie ein großer Künstler aussehen musst, der eifrig auf die Inspiration für sein nächstes Meisterwerk wartet. Das sollen doch schließlich Bilder für deine neue Broschüre werden.«
»Pst, beschrei es bitte nicht. Kann ich nicht einfach wie ein fröhlicher Künstler aussehen, der auf seinen nächsten Scheck wartet?«
»O nein. Das zieht so gar nicht.«
»Und was ist mit einem Künstler, der am Hungertuch nagt und nicht einmal weiß, wie er die nächste Wasserrechnung bezahlen soll?«
»Lass mal sehen«, verlange ich. »Hm. Nein. Ziemlich enttäuschend.«
»Ich war eben sehr, sehr enttäuscht wegen der Wasserrechnung.«
»Pscht. Dann schau raus aufs Meer.«
»O ja, fantastisch. Das sieht dann so aus, als würde es bei meinem nächsten Projekt um diese gestreiften Leuchttürme gehen, die es im Souvenirladen gibt.«
Ich lasse die Kamera sinken. »Damit wäre aber sicher was zu holen. Hey, das könnte funktionieren!«
»Nichts da! Wir werden die Wasserrechnung auch so bezahlen. Irgendwie.«
»Ich mag Leuchttürme«, murmle ich. O ja, das ist der andere Nachteil, wenn man freiberuflich arbeitet – man ist ständig pleite.
»Das reicht! Genug! Bitte!«
»Okay«, rufe ich. »Wild! Leidenschaftlich! So solltest du gucken!«
»Das ist doch alles Quatsch!«, beschwert er sich, aber er hält still, während ich ein Bild nach dem anderen schieße. Mit der ruhigen See im Hintergrund und den harten Linien seines Profils, überlege ich, werden die Aufnahmen wohl am besten in Schwarz-Weiß rüberkommen, und falls das mit seiner Ausstellung je etwas wird, kann er die Bilder für den Flyer nehmen.
Schließlich sind die Fotos im Kasten, und ich finde, dass wir uns ein vernünftiges Frühstück verdient haben. Also verschwindet er hinter den Dünen.
Ich lasse mich im Sand nieder und warte. Okay, es herrscht kein opulentes Mittelmeerwetter, aber es ist doch irgendwie schön; von der See her weht eine frische Brise, nur falls man mal für eine Sekunde vergessen sollte, dass man sich in England befindet. Aber abgesehen vom Rauschen der Wellen ist es ganz still. Es kommt mir vor, als wären wir die allerersten Menschen an diesem Strand. Ich stütze das Kinn in die Hände und sehe aufs Meer hinaus.
Bin ich glücklich? Genau hier? Genau jetzt? Pah, eine bedeutende Frage und eine bedeutende Antwort.