Kapitel achtzehn
Worüber lachst du?«, fragt Cal, als er zum Strand zurückschlurft. »Es ist gar nicht so einfach, die Fish and Chips zu tragen – und dich auch noch!«
May, unsere Zweijährige, kichert verzückt, als ihr Daddy sie hoch in die Luft wirbelt.
»Ich musste meilenweit laufen!«, beschwert er sich.
»Meilenweit!«, plappert May fröhlich.
»Wir mussten meilenweit laufen. Aber hier sind sie also, meine Prinzessin. Die ersten Fish and Chips des Jahres. Nur … ach, vergiss das Geld. Das können wir als Spesen abrechnen, immerhin hat Mummy jede Menge blöde Fotos von mir geschossen.«
»Und jetzt macht Mummy Fotos von mir«, flüstert May ihm zu.
»Das finde ich nur fair.«
Ich öffne das dampfende Päckchen und sehe aufs Meer hinaus. Es riecht so gut.
»Woran denkst du?«, fragt Cal. »Ich hab dich während des Weges durch die Dünen beobachtet. Du warst in Gedanken ganz weit weg.«
»Oh, ich hab mich nur daran erinnert, wie wir uns kennengelernt haben«, erkläre ich.
Er sieht mich verwundert an. »Na ja, du bist in meine WG gezogen und mir an die Wäsche gegangen.«
»Bitte nicht vor May!«
»Heiß, heiß, heiß!«, ruft May und versucht, den Möwen eine Fritte zuzuwerfen.
»Ich dachte, wir wollten ihr gegenüber immer ehrlich sein.«
Ich grinse, und er fährt mir durchs Haar.
»Na ja, ganz so einfach war das ja nicht.«
»Egal. Reich mir doch mal ein Pommes.«
Natürlich war es am Anfang nicht immer leicht, ständig aufs Geld zu achten und mit so wenig zu leben. Aber, mein Gott, wir hatten Spaß! Wir arbeiteten in Studios, die Cals neuer Mäzen für uns im East End gefunden hatte, und wir lebten von jeder Menge wildem Sex und billigen Sandwiches. Der viele wilde Sex forderte schließlich seinen Tribut, und wir wurden schwanger und dachten, na ja, man kann schließlich genauso gut ein Kind in einem liebevollen Elternhaus ohne Heizung aufziehen wie irgendwo sonst, also bekamen wir May, die natürlich im Mai geboren wurde und für uns so schön ist wie ein Frühlingsgarten.
James kam unversehrt aus dem Balkan zurück und kaufte sich endlich sein Haus, sogar ganz bei uns in der Nähe, und Wolverine ist bei ihm eingezogen, aber er hat einen großen Garten, das passt also ganz gut. Wolverine geht jetzt schon seit Jahren mit Philly ins Bett, aber wir müssen so tun, als sei es reiner Zufall, dass wir sie öfter mal bei James zu Hause antreffen. Und James schien immer genau dann bei uns vorbeizuschauen, wenn ich May gerade die Brust gab.
Die Sache mit der Fotografie läuft besser und besser – na ja, wir werden nie reich sein, aber nach Mays Geburt bot Julius mir an, als Geschäftspartnerin in seine Firma einzusteigen, also habe ich die Hochzeitsfotografie übernommen, und er kann seinen seltsamen Modestrecken noch mehr Zeit widmen. Grace, Kelly und Delilah sind Mays Patentanten, die sie abgöttisch bewundert. Dass sie auch modisch ihre Vorbilder sind, beunruhigt mich allerdings ein bisschen. Und Gail liebt sie heiß und innig. Sie arbeitet inzwischen wieder für ein Reisebüro. May klettert ihr auf den Schoß, bittet sie um Geschichten und Süßigkeiten, plappert fröhlich drauflos und kommandiert sie herum und ist in jeder Hinsicht das kleine Mädchen, das Gail selbst so gerne gehabt hätte, und es rührt mich, dass ich ihr diesen Wunsch erfüllen konnte, wenn auch erst so spät.
Inzwischen verkaufen sich Cals Arbeiten besser – vor allem die Stücke, die von Mays Händen und Füßen inspiriert sind. Offensichtlich sehen nämlich die Hände und Füße aller Babys in etwa gleich aus, und die Leute sind bereit, ziemlich viel Geld auszugeben, um sich an die Rundungen am Ellbogen ihrer heißgeliebten Kleinen zu erinnern oder an die Grübchen an ihrem Knie. Ohne Heizung ist es hier im Winter ziemlich kalt, und ich muss immer noch daran denken, nicht das ganze heiße Wasser aufzubrauchen, wenn ich bade, aber unsere Freunde sind auch alle pleite, also laden wir sie zu uns ein, zu Spaghetti Bolo, die ich mittlerweile kochen kann, und billigem Wein. Und ich beobachte Cal, wenn er in seinem Gammel-Shirt den Kopf zurückwirft und lacht oder jemanden genüsslich aufzieht oder May in die Luft wirft, und dann denke ich, mein Gott, ich bin so glücklich.
Oh, als mein armer Eck am letzten Tag in der WG vorbeikam, um seine Sachen abzuholen, war es ihm äußerst peinlich, und es tat ihm alles so furchtbar leid wie einem Schuljungen, den man beim Stehlen erwischt hat. Ich nahm ihn in den Arm und tröstete ihn – ich wollte nicht, dass er sich noch schlechter fühlte, als er es ohnehin schon tat, schlechter als ich, nachdem ich über den Schmerz der Enttäuschung hinweggekommen war. Es war hart für ihn, mit anzusehen, dass Cal und ich jetzt zusammen waren, aber mit der Zeit vertrugen die beiden sich wieder – sie waren einmal gute Freunde gewesen, bevor ich dann kam und alles durcheinanderbrachte –, und vor nicht allzu langer Zeit waren wir auf seiner Hochzeit. Er heiratete ein nettes Mädchen, eine wohlhabende Buchhalterin mit einem eigenen Haus in Battersea, einem BMW-Cabrio und Cal zufolge einer Nase wie ein Fuchs. Aber ich glaube, er war nur sauer, weil er sich auf der Hochzeitsfeier sechshunderttausend Unterhaltungen über Immobilienpreise anhören musste und wir immer noch zur Miete wohnen und daher zu ewigem Elend verdammt sind, zumindest laut Ecks neuen, aufgeblasenen Banker-Freunden. Also hat sich Cal betrunken und verkündet, dass sie doch alle nur bourgeoise Arschgeigen seien, was echt gut ankam. Er kann immer noch der unmöglichste Rüpel sein, den ich kenne. Mein Gott, er ist so sexy.
Aber dann wurde Cal vor einigen Monaten der Ausstellungsraum in der Tate Modern angeboten. Er war einer der jüngsten Künstler, denen diese Ehre je zuteil wurde, und das war ein unglaublicher Durchbruch. Der Tag der Eröffnung war der helle Wahnsinn; alle waren da – Presseleute und die ganz großen Namen der Kunstszene, wohin man auch sah. Carena kam, ohne Rufus – »Schätzchen, die meiste Zeit verbringt er jetzt auf dem Land, aber da vermisse ich London viel zu sehr«. Und auch ohne ihre beiden Jungen, die Zwillinge, die ich noch nie gesehen hatte und die vermutlich die meiste Zeit bei ihrem Kindermädchen verbrachten. Ich bemutterte May ganz schrecklich, ich konnte es nicht einmal ertragen, sie ins Bett zu bringen, ohne ihr hunderttausendmal zu versichern, dass Mummy und Daddy am nächsten Morgen wieder für sie da sein würden. Und tatsächlich stellten wir beim Aufwachen auch meistens fest, dass sie es sich im Laufe der Nacht zwischen uns beiden im Bett bequem gemacht hatte. Carena hingegen überließ diese Dinge wohl dem Personal. Zwillinge sind anstrengend, nehme ich mal an.
Cal hatte in die Halle für die Eröffnung Figuren von Menschen, die sich Skulpturen anschauen, gestellt, so wunderbar gearbeitet, dass es schwierig war, die echten Besucher von denen aus Stein zu unterscheiden, und viele Gäste fingen eine Unterhaltung mit jemandem an, der sich schließlich nur als Figur aus Marmor herausstellte. Der ganze Saal hatte sich in einen Wald verwandelt. Kritiker raunten Kommentare wie »kitschig«, aber Dutzende von Kindern rannten zwischen den Bäumen hin und her wie in einem Wunderland. Und dort standen auch zwei von Ecks Metallspinnen, so geschickt in das Design eingebunden, dass sie überhaupt nicht mehr gruselig wirkten. Wie auch immer, jedenfalls kam Leonard während der Ausstellungseröffnung auf mich zu. Wir waren in den letzten Jahren in Kontakt geblieben, und deshalb hatte ich ihn natürlich eingeladen, genauso wie Stefano und Avi aus dem Schnellimbiss. Ich hatte nie vergessen, wie nett sie zu mir gewesen waren. Und Esperanza natürlich auch, die mich wie ein lang verschollenes Familienmitglied in die Arme schloss. Leonard, der sich als mehrfacher Großvater bestens auskannte, hatte Süßigkeiten für May dabei, also klammerte sie sich an ihn wie ein glückliches kleines Äffchen.
»Sophie«, sagte er und kitzelte May, »du hast doch nächste Woche Geburtstag, oder?«
»Der dreißigste. Ich werde alt.«
»Na, dann komm doch bitte danach mal bei mir vorbei. Übrigens, eine wirklich schöne Ausstellung.«
Und heute ist also mein Geburtstag, den wir am Strand feiern, und morgen werden wir dann Leonard einen Besuch abstatten. Ich weiß auch noch nicht, warum.
May schläft den ganzen Weg zurück nach Hackney, und Cal und ich reden auch nicht viel, wir sind zu müde von der frischen Seeluft und dem Herumgerenne, und von dem Bier, das wir uns nach den Fish and Chips gegönnt haben, von dem Herumgeplansche im kalten Wasser und Mays erfolglosen Versuchen, eine MÖBE zu fangen und mit nach Hause zu nehmen. Ich habe jede Menge Fotos gemacht, und Cal hat uns beide in den Dünen gekitzelt und uns seine liebsten Frauen auf der ganzen Welt genannt. Es war ein glücklicher Tag.
Jetzt warten May und ich in der St. John’s Street auf Leonard. June freut sich, uns zu sehen, und tischt augenblicklich Tee und Kuchen auf. Mein letzter Besuch hier scheint schon eine Ewigkeit zurückzuliegen.
»Sophie«, begrüßt mich Leonard, der mit seiner kleinen Brille auf der Nase in den Raum fegt und uns beide herzlich küsst. »Ich habe da etwas für dich.«
»Du musst mir doch nichts schenken. Ich will nicht daran erinnert werden, dass ich jetzt dreißig Jahre alt bin. Trotzdem danke.«
»Es ist nicht von mir«, erklärt er und überreicht mir eine Schachtel. Sofort fängt mein Herz an zu klopfen, und ich setze May auf den Fußboden.
»Was ist das?«
Leonard zuckt mit den Schultern. »Mach es auf.«
Ich öffne die Schachtel.
Auf einer Unterlage aus eisblauem Satin liegt ein riesiger, mehrflächiger, hochkarätiger Diamant.
Mir stockt der Atem.
»Was, zum Teufel, ist das?«, frage ich schließlich.
Leonard sagt immer noch nichts und reicht mir einfach nur den Umschlag, der dazugehört.
Meine geliebte Sophie,
ich weiß nicht genau, warum ich das hier schreibe – ich glaube, ich bin ein bisschen betrunken. Ich bin sicher, dass das nicht nötig ist, aber manchmal mache ich mir eben Sorgen. Wie auch immer. Der hier ist für dich, und ich wollte ihn sicher aufbewahren, bis du dreißig wirst. Für den Fall, dass mir etwas zustößt, meine liebe Tochter. Ich bin zwar sicher, dass das nicht geschehen wird, aber nur für den Fall, dass du deine Erbschaft verpulverst oder einen Mann heiratest, der nichts taugt, oder dein Geld schlecht anlegst … Ich weiß, dass du das niemals tun würdest, mein Schatz, aber ich bin eben ein alberner alter Mann, der sich Sorgen macht. Egal. Wenn es dir gut geht, dann ist dieser Stein eben eine schöne Überraschung für dich. Wenn nicht, dann könnte er dir sogar nützlich sein. Bitte lass dir davon etwas Schönes anfertigen, das dich immer an mich erinnert.
Ich bin sicher, dass ich bei deinem Dreißigsten mit der Crème de la Crème die Puppen tanzen lassen werde (WENN ich denn überhaupt eingeladen bin – ich erinnere mich nur zu gut an deinen Einundzwanzigsten!!!), aber falls nicht, Sophie, dann solltest du wissen, dass ich dich mehr liebe als mein Leben. Du bist alles für mich. Ich hoffe, dass Gail und du euch inzwischen besser versteht, und ich wünsche dir alles Glück der Welt. Manchmal sehe ich dich an, mit deinen Partys, deinen Kleidern, deinen glamourösen Freundinnen und deinem verrückten Lebensstil, und dann frage ich mich, ob du wirklich so glücklich bist, wie du es verdienst.
Ich hoffe es, mein liebes, liebes Mädchen.
Für immer, dein
Dad. xxxxxxxxxxxxxxxxxxx
Mit tränenüberströmtem Gesicht sehe ich zu Leonard hoch.
»Warum hast du mir nichts davon erzählt?«
»Ich wusste ja nicht, was drin war«, antwortet er sanft. »Und außerdem – weißt du noch, die Schweigepflicht?« Mit einem breiten Grinsen blickt er auf den Diamanten. »Ich freue mich so für dich, Sophie. Versuch aber, das den Behörden gegenüber nicht zu erwähnen.«
Ich halte ihn ins Licht. Er ist vollendet und rein, vermutlich völlig makellos. Dutzende Karat. Ein richtiges Monster.
»Ich werde mir etwas davon machen lassen, und auch was für May«, sage ich. »Er hätte sie ebenso sehr geliebt.«
»Ja, davon bin ich überzeugt.«
Und dann müssen wir wieder nach Hause, und mir schlägt das Herz noch immer bis zum Hals.
Cal kann es kaum fassen. Er streckt seine langen Beine auf unserem mottenzerfressenen Sofa aus und kuschelt mit May.
»O mein Gott«, sagt er immer wieder. »Die Tate … und jetzt das hier …« Er schaut mich an. »Weißt du, was das heißt?«
Ich lächle. »Dass wir jetzt reich sind?«
»Ah«, ruft er und schlägt die Hände vors Gesicht. »O nein, nein, nein, nein.«
»Dein größter Alptraum.«
»Das Schlimmste, was uns je passieren konnte.«
Ich lächle und schaue zu ihm hinüber. Er blickt mich an.
»Lass mich nur noch eines sagen«, füge ich hinzu. »Du und May, ihr seid alles für mich. Alles, wovon eine Frau je träumen kann.«
»Und du für mich, Aschenputtel. Aber könnten wir jetzt nicht mal die Heizung anmachen?«
»Ich glaube, das müssen wir gar nicht mehr«, widerspreche ich. »Ich denke, es wird endlich Sommer.«