Kapitel zwölf

Ich schwebte quasi durch den Rest des Tages. Das Shooting lief gut, und Julius meinte, einige meiner Aufnahmen würden sicher vom Zoo genommen, kein Thema.

Dieses winzige Fitzelchen Optimismus verpuffte allerdings schnell, als ich später das Studio aufräumte. Da war ich also wieder, wischte den Fußboden und sammelte winzige, paillettenbesetzte Fummel auf. Und heute war alles anders. Mit dem Putzen war es jetzt ernst. Für immer. Das war kein Nachmittag im Vergnügungspark. Es ging nicht darum, sich mal ein wenig in der Gosse herumzutreiben. Endstation.

Fürs Wischen brauchte ich länger als sonst. Zum einen wegen der vielen Federn, zum anderen, weil ich vor meinem inneren Auge sah, wie sich meine Zukunft trostlos vor mir erstreckte. Die Mädchen hatten sich superschick aufgestylt und sahen aus wie Mini-Drag-Queens, weil sie sich in der All Bar One »einen Anzugtypen anlachen« wollten. »Da hast du früher bestimmt ständig abgehangen, was?«, fragte Kelly ein wenig ehrfürchtig. Ich raubte ihr nicht die Illusion.

»Oder vielleicht bei Tiger Tiger«, fügte Grace hinzu.

Sie fragten mich, ob ich nicht mitkommen wollte, was wirklich süß von ihnen war, und Grace versprach, sie würde mir sogar einen Drink spendieren, wenn ich mit so richtigem Upperclass-Akzent sprach. Aber ich war nicht in der Stimmung. Julius war schon gegangen, und ich sollte absperren, also ließ ich mir Zeit, während die Schatten die Wände des Studios mit seinen verspiegelten Glühbirnen, den kleinen Tübchen mit Glitzerlipgloss und den Talkumresten auf dem Fußboden hinaufkrochen. Ich legte schwermütige französische Musik auf und schlenderte langsam durch den Raum, dann ordnete ich die Klamotten, die wir dort aufbewahrten – Sarongs mit Tigermuster, Mini-Schottenröcke, Boas und Sonnenbrillen in Herzchenform. Im Halbdunkel sah es noch viel geschmackloser aus. Ich zog meinen Mantel an und ging zur Tür.

»Hm, hi«, sagte Eck.

Ich machte vor Schreck einen Satz.

»Äh, tut mir leid, ich habe gerade nach der Klingel gesucht.«

»Hier gibt’s keine Klingel. Ich glaube, jeder, der hier vorbeischaut, hat einfach eine unheimlich laute Stimme.«

»Oh«, machte Eck.

»Und die Mädchen sind alle schon weg, du hast also Pech gehabt.«

»Ich bin nicht wegen der Mädchen gekommen«, erklärte er und wurde knallrot. »Ich wollte zu dir. Ich dachte, du hättest vielleicht gerne ein bisschen Gesellschaft.«

Ich sah ihn an. Genauso war es.

»Hm, danke«, antwortete ich. »Allerdings hast du mir ordentlich Angst eingejagt.«

»Ich versuche eigentlich, nie allzu furchteinflößend rüberzukommen«, erklärte er. »Ist so ein Grundsatz von mir.«

»Sehr schön«, lobte ich. Auf dem Weg nach draußen hatte ich nach dem Mantel gegriffen, und Eck machte den komplexen und umständlichen Versuch, mir hineinzuhelfen, was natürlich zum Scheitern verurteilt war. Gemeinsam schlängelten wir uns unter zahlreichen »Entschuldige«, »Ups, Vorsicht« und »Oh, macht ja nichts« durch die Tür, bis wir so sehr lachen mussten, dass wir es schließlich aufgaben.

Draußen war es beinahe dunkel; mir war gar nicht aufgefallen, wie kurz die Tage inzwischen waren. Aber es war ein milder Abend. So ein Abend, an dem ich im Landhaus von Freunden zugesehen hätte, wie der Wind die braunen Blätter über den Pfad pustet und ein rosaroter Sonnenuntergang die Maisfelder erglühen lässt. Hier hingegen machte die Dämmerung es nur schwieriger, den Hundehaufen auszuweichen.

»Es ist so schön draußen«, bemerkte Eck. »Und die Busse stinken sowieso. Sollen wir nicht lieber zu Fuß gehen?«

»Okay«, stimmte ich zu.

Eine Weile liefen wir schweigend nebeneinander her. Es kam mir vor, als wollte er mir etwas sagen. Nachdem wir die Straßenseite gewechselt hatten, um einer Bande wild gewordener Typen in Kapuzenpullis auszuweichen, die gerade dabei waren, einen Hund in Brand zu stecken – nicht im Ernst, oder? –, holte er schließlich tief Luft.

»Es tut mir so leid, dass du Waise bist«, sagte er schließlich.

Als er es aussprach, wurde mir klar, dass ich das eigentlich nie so gesehen hatte, obwohl es natürlich theoretisch stimmte. Meine Mutter war bereits so lange tot, dass ich mich daran gewöhnt hatte. Für mich war es völlig normal gewesen, nur noch meinen Vater zu haben, den ich dafür aber umso mehr liebte.

»Meine Mutter ist schon vor vielen Jahren gestorben«, erklärte ich. »Ich erinnere mich kaum noch an sie. Wenn man etwas nicht richtig kennt, dann vermisst man es auch nicht.«

Das war eine unverfrorene Lüge, die ich im Laufe der Jahre perfektioniert hatte, damit die Leute aufhörten, mich zu bemitleiden und auf Partys gelegentlich sentimentale Lieder auf der Gitarre für mich zu spielen. In Gedanken aber hatte ich mir ein komplettes Bild darüber zusammengesponnen, wie meine Mutter gewesen sein musste, und ich dachte ständig an sie.

»Mein …« Er schluckte, als ob er etwas sagen wollte, das nicht leicht über die Lippen ging.

»Hm, ich hab meinen Dad auch verloren«, verriet er mir schließlich. »Als ich elf war.« Mit seinen alten Turnschuhen versetzte er dem Gehsteig einen Tritt.

»Oh«, erwiderte ich, »das tut mir leid. Was ist denn passiert?«

Im Laufe der Jahre hatte ich gelernt, dass nichts schlimmer war, als wenn die Leute vor dem Thema zurückschreckten wie vor einer giftigen Schlange. »Krebs«, stieß er hervor und sah zu Boden. »Es war schrecklich. Also, du sollst einfach wissen, dass ich für dich da bin, wenn du mich brauchst.«

Ich sah in seine großen braunen Augen. Das wuschelige Haar fiel ihm ins Gesicht. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte ich, wie es wohl wäre, es ihm hinters Ohr zu schieben. Er sah wieder hoch und schenkte mir im Dämmerlicht ein entschuldigendes kleines Lächeln.

»Es muss ja ein ziemlicher Schock für dich gewesen sein, so ganz unten zu landen«, fuhr er fort. »Ich wusste gleich, dass du anders warst, als du zum ersten Mal zur Tür hereinkamst …«

»Ach, tatsächlich?« Es lag nur ein winzig kleines bisschen Spott in meiner Stimme. »Dachtest du: ›Na, die ist sicher ein paar Millionen Pfund wert‹?« Meine Stimme zitterte ein wenig.

»Unsinn«, sagte Eck, »so ein Quatsch.«

»Eigentlich ist es gut für mich, mal eine Weile auf mich selbst angewiesen zu sein«, erklärte ich. »Um den Charakter zu formen. Du weißt schon, nur für eine gewisse Zeit.« Ich sah auf meine schmutzigen Hände hinunter.

»Na ja, ich bin jedenfalls beeindruckt. Immerhin hast du es geschafft, uns nicht alle als Proleten zu bezeichnen und beim Abendessen nach Champagnercocktails zu verlangen.«

»Oh, das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Hättest du mir denn einen gemixt?«, fragte ich.

Er schwieg lange. »Für dich würde ich alles tun«, sagte er dann ganz einfach. Ich betrachtete seine hochgewachsene Silhouette, die sich dunkel gegen das Licht der Straßenlaternen abzeichnete.

Ich sah zu ihm hoch. Was ich für eine kleine Flirterei gehalten hatte, schien in der herbstlichen Dämmerung plötzlich eine viel tiefere, ernstere Dimension anzunehmen.

»Hey, Aschenputtel«, erklang da plötzlich eine Stimme. »Wenn wir eine Flasche Cidre kaufen und Wolverine reinfurzt, kann man das dann eigentlich Champagner nennen?«

Und aus dem Schatten der zwielichtigen Wettbüros trat Cal und kam zu uns herüber.

»Was machst du denn hier?«, fragte Eck. Er schien nicht sonderlich erfreut, seinen Mitbewohner zu sehen. Cal blickte ihn stirnrunzelnd an.

»Na ja, Schlagzeilen über Sophie in der Zeitung, eine dunkle, kalte, feuchte Nacht … ich dachte mir, ich passe lieber auf, dass sie sich nicht vor den nächsten Zug wirft.«

»Also, es geht ihr gut«, sagte Eck wütend.

»Und hier bin ich übrigens«, kam ich ihm zu Hilfe. »Ich meine, falls ihr glaubt, dass ich Selbstmordgedanken hege oder so …«

»So etwas würde ich nie von dir denken«, versicherte Eck. »Obwohl die meisten Frauen nach einer Nacht mit Cal ja ziemlich down sind …«

»Ja, ja, ja«, murmelte dieser. Die Spannung zwischen den beiden war beinahe greifbar.

»Sollen wir nicht was essen gehen?« Noch während ich es vorschlug, fragte ich mich, ob ich nicht eigentlich viel zu traurig war, um was zu essen. Ich wartete sehnsüchtig darauf, dass endlich der berühmte Abmagerungsprozess der Trauer einsetzte. »Oder vielleicht doch nicht. Eigentlich hab ich gar keinen Hunger.«

»Ja, lass uns nach Hause gehen.« Eck machte Anstalten, mir seine Hand hinzustrecken, und beinahe hätte ich danach gegriffen.

»Komm doch mit mir mit«, schlug Cal vor und ignorierte Eck. »Ich bin am Verhungern. Du kannst mir beim Essen zusehen.«

Eck blickte von Cal zu mir. Schließlich grummelte er: »Dann gehen wir eben alle.« Er sah ziemlich verärgert aus. Cal zog die Augenbrauen in die Höhe, als wäre ihm das eigentlich egal.

»Okay, ich weiß, wo wir hingehen können. Kommt mit«, rief er und verschwand in einer dunklen Gasse neben den Wettbüros. Eck und ich sahen uns an. Und dann dachte ich, dass mir jetzt auch nichts Schlimmeres mehr zustoßen konnte, nach allem, was passiert war. Also folgte ich ihm, und Eck, der sich immer wieder misstrauisch umdrehte, bildete das Schlusslicht.

»Da sind wir auch schon«, verkündete Cal. Wir waren in einer Straße gelandet, in der die Beleuchtung äußerst dürftig war und man die Läden mit Brettern verrammelt hatte. Die Sache gefiel mir überhaupt nicht. Es sah aus wie eine Szene aus einem postapokalyptischen Videospiel, in dem jeden Moment irgendwelche Zombies auf uns losgehen würden. Plötzlich stieg eine Erinnerung in mir hoch: Irgendwann war ich mal bei der Präsentation so eines Spiels gewesen – keine Ahnung, warum, es hatte wohl irgendwas mit Philly zu tun. Ja, die Getränke waren teuer, aber wir waren den ganzen Abend von Geeks umringt, die uns an den Fersen klebten wie kleine Hündchen. Wir waren unglaublich fies zu ihnen, aber ich glaube, die haben das gar nicht gemerkt. Das waren noch glückliche Zeiten gewesen.

Am Ende der verfallenen Häuserzeile brannte in einem Gebäude Licht.

»Hallo, Memento«, grüßte Cal, als er die Tür zu einem Raum aufstieß, aus dem laute Musik erklang.

An der Decke summte eine Neonröhre. Es gab sechs Tische, diese weißen Kunststoffdinger für den Garten, mit billigen Plastikdeckchen und Stühlen verschiedenster Art. Vier der Tische waren besetzt. Ein kunterbunter Haufen von Menschen aller Hautfarben aß, lärmte und trank Bier. So etwas hatte ich vorher noch nie gesehen.

»Hallo«, sagte die dicke Dame hinterm Tresen, »du hast Freunde mitgebracht.« Sie musterte mich von oben bis unten mit einem abschätzigen Blick, den ich als ein wenig beleidigend empfand, wenn man bedachte, dass sie selbst etwa anderthalb Meter im Quadrat maß. »Aber immer noch ohne Freundin, hm, Cal?«

Cal rollte mit den Augen. »Mach dir um mich mal keine Sorgen, Memento, du bist schließlich nicht meine Mutter.«

»Wie immer?«

»Jap, zweimal …« Er drehte sich zu mir um. »Bist du sicher, dass du nichts willst?«

Um ehrlich zu sein, roch es wirklich verführerisch. Allmählich bekam ich Appetit. Auch wenn das hier so gar nichts mit den Sternerestaurants zu tun hatte, in denen ich bisher in meinem Salat herumgestochert hatte. Aber nein, ich war viel zu traurig.

»Nein, danke«, lehnte ich ab. Memento zog die Augenbrauen in die Höhe und nahm mich dann ein wenig genauer unter die Lupe.

»Hey … bist du nicht das Mädchen aus der Zeitung?«

»Das hat sie heute schon den ganzen Tag zu hören gekriegt«, meinte Cal sanft. Eck rückte einen Stuhl für mich zurecht. Ich setzte mich und versuchte, die Tatsache zu ignorieren, dass sich eines der Plastikbeine ziemlich krümmte.

»Ja«, seufzte ich, »ja, das bin ich.«

Memento zog wieder die Augenbrauen in die Höhe und schaute mich an. »Na ja, sie sieht jedenfalls aus, als könnte sie was zu essen gebrauchen.«

Um ehrlich zu sein, fühlte ich mich eher so, als bräuchte ich einen kompletten Beautytag mit Sauna, Dampfbad und Spa, gefolgt von einer Darmspülung, um den Schaden wiedergutzumachen, den die vielen Wurstbrötchen angerichtet hatten, aber ich war nicht in der Stimmung, Widerworte zu geben, und hob resigniert die Hände. Zehn Sekunden später setzte man jedem von uns einen dampfenden Teller Ragout vor die Nase. Es roch absolut fantastisch.

»Du musst nichts essen, wenn du nicht willst«, versicherte Eck sanft.

»Und ob sie das muss«, widersprach Cal. »Sieh sie dir doch mal an. Sie steht praktisch unter Schock. Rein damit, dann geht es dir gleich viel besser.«

»Hat jemand bei uns angerufen?«, fragte ich matt. Ohne darüber nachzudenken, schob ich mir eine Ladung Eintopf in den Mund. Er war einfach köstlich.

Cal runzelte die Stirn. »Angerufen nicht direkt«, meinte er.

»Stattdessen kampieren sie vorm Haus«, erklärte Eck, »und wedeln mit jeder Menge Geld für eine Exklusivstory herum.«

»Echt?« Ich horchte auf. »Viel Geld?«

»Die würde ich einfach ignorieren«, empfahl Cal. »Das sind doch alles Aasgeier.«

»Sind sie nicht«, entgegnete ich. »Ich bin mal in ein Rudel Paparazzi geraten. Alle rufen deinen Namen, das Blitzlichtgewitter geht los, und es ist einfach super.«

»Na ja, diese Zeiten sind wohl vorbei, Süße«, sagte Cal. »Jetzt iss dein Ziegenfleisch.«

»Mein was?«

»Meinst du nicht …«, setzte Eck an, verstummte dann aber. Er aß nicht, sondern stocherte in seinem Essen herum und schob es auf dem Teller hin und her. Seltsamerweise hatte ich einen Bärenhunger, als wollte mein Körper mir sagen, dass ich nicht aufgeben sollte. Nach und nach verputzte ich die ganze Portion, und als ich aufsah, machte Eck gerade wieder den Mund auf, während Cal mich anstarrte, als könnte er nicht fassen, was ich da alles in mich hineinschaufelte.

»Meinst du nicht, dass es möglich wäre, dein Geld zurückzubekommen?«, fragte Eck. »Immerhin kann doch nicht euer kompletter Besitz weg sein, oder? Die verkaufen sicher nur das Haus und regeln die Sache, und dann ist für dich wieder alles in Ordnung, nicht? Außerdem hat dein Dad vermutlich so einiges in irgendwelchen Steuerparadiesen in Sicherheit gebracht, und das finden die nie.«

»Das denke ich nicht.« Ich seufzte. »Er hat gewissermaßen sein eigenes Geld eingesetzt. Und das heißt, wir schulden den Banken so was wie Abertausende von Millionen Dollar oder so. Jedenfalls keine Summe, die mit dem Hausverkauf erledigt wäre.« Ich konnte es selbst kaum glauben.

»Also solltest du mal mit deiner Stiefmutter reden«, meinte Eck. »Sie wird es ja wohl wissen.«

»Warum hat sie mich dann nicht angerufen?«, warf ich ein. »Und geht nicht ans Telefon?«

Mir fiel auf, dass Eck ruhig blieb und mit durchdachten und vernünftigen Vorschlägen versuchte, mir zu helfen, während Cal Wetttipps von den Typen am Nebentisch bekam, die über dreibeinige Windhunde und Rauchen in geschlossenen Räumen palaverten.

»Ich weiß ja nicht einmal, wo sie steckt«, jammerte ich. »Steht darüber nichts in dem Bericht?«

»Da steht …« Er zog die Zeitung aus seiner Jacke. O Gott, hatte er sie etwa den ganzen Tag mit sich herumgeschleppt, um sie allen zu zeigen? »Es ist nicht bekannt, ob Mrs Chesterton ein gutes Verhältnis zu ihrer Stieftochter hat, deren Mätzchen in der Boulevardpresse für sie oft beschämend gewesen sein müssen.«

»Das sind doch keine Mätzchen, wenn man auf dem Tisch tanzt«, murmelte ich. »Das ist jugendlicher Überschwang. Das weiß doch jeder.«

»Hm-hm«, meinte Eck.

»Es stimmt schon«, gab ich zu, »wir haben uns nicht immer gut verstanden. Aber ich bin sicher, dass sie Dads Geld nicht vor mir verstecken würde.«

»Geld verändert die Menschen«, sinnierte Eck.

»Keines zu haben auch, glaub mir«, versicherte ich ihm.

»Bah, du solltest das Ganze einfach sausen lassen«, warf Cal ein und verfütterte Ecks Portion an einen räudigen Hund, der hereingetrottet war. »Vergiss das alles. Das bringt nur Ärger. Warum lebst du nicht einfach dein Leben?«

»Weil mein Leben scheiße ist.«

»Oh, ich hatte ganz vergessen, wie unerträglich es für dich sein muss, bei uns zu hausen«, spöttelte er und zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Du könntest es schaffen, Sophie«, meinte Eck. »Wir können dir helfen und diesen Kerlen mal zeigen, was ’ne Harke ist.«

»Danke, dass du zu mir hältst.« Dann wurde die Rechnung gebracht. Früher hätte ich für den Betrag nicht einmal einen Cocktail bekommen, aber jetzt wurde ich ein bisschen nervös. »Wir gegen alle Anwälte und Banker der Welt, gegen die Typen, die das Geld und das Recht auf ihrer Seite haben.«

»Sicher«, meinte Eck. »Ich übernehme die Rechnung.« Dann zwinkerte er mir zu. »Du kannst es mir ja später zurückgeben.«

Ich konnte nichts dagegen tun; mein Selbstvertrauen wuchs ein wenig.

Zurück in der WG setzte Eck den Wasserkessel auf, ich aber war fix und fertig. In den letzten achtundvierzig Stunden hatte ich kaum geschlafen.

»Nein, danke«, lehnte ich ab. Ich sah mich in der Küche um. Der Fußboden war mit Frühstücksflocken bedeckt. Ich zog eine Augenbraue in die Höhe.

»Hat Wolverine sich wieder über die Cheerios hergemacht?«, fragte Eck Cal anklagend.

»Sieht so aus«, meinte dieser.

»Das mache ich morgen sauber«, versprach ich. Ich nahm an, dass das Putzen immer noch in meinen Aufgabenbereich fiel, denn die Miete hätte man mir diesen Monat nicht erhöhen dürfen. Ich war völlig blank. »Gute Nacht, alle zusammen.«

Als ich gerade meine Zimmertür erreichte, hörte ich Schritte hinter mir. Es war Cal.

»Hey«, sagte er.

»Was denn?«, gab ich zurück.

»Ich weiß auch nicht … ich dachte, du hättest vielleicht gerne Gesellschaft.«

Um ehrlich zu sein, war eine Nacht voll gutem, aber völlig emotionslosem Sex genau das, was ich jetzt nicht brauchen konnte. Es hätte mir völlig gereicht, wenn jemand mich in den Arm genommen und mir gesagt hätte, wie sehr er mich mochte. Ich brauchte ein langes und ausführliches Gespräch mit einer guten Freundin. Oder ein Abendessen mit meinem Dad. Mir hätte in diesem Moment so einiges geholfen, aber sinnloses Herumgepoppe gehörte nicht dazu.

»Geht schon, danke«, murmelte ich. Ich musste an Eck denken. Der hätte mich nie so unsensibel angemacht. Er war respektvoll. Ein Gentleman.

»Oh«, meinte Cal, »ich dachte nur, nach der einen Nacht …«

»Waren wir nicht übereingekommen, die Nacht nie wieder zu erwähnen?«

»O ja, stimmt schon. Okay.« Er machte eine Pause. »Aber gestern hat’s dir doch gefallen.«

Irgendwie machte mich das wütend. »Schau mal«, sagte ich, »für mich läuft es im Moment nicht besonders gut. Aber du solltest wissen, dass ich normalerweise ziemlich cool bin und mein Leben halbwegs unter Kontrolle habe, wenn nicht gerade alles im Arsch ist. Also brauche ich keinen Trostfick oder Das-kommt-mir-jetzt-gerade-recht-Fick, oder was auch immer du im Sinn hattest, okay?«

»Das habe ich auch nie gedacht.«

»Du gabelst mich hier auf, als würdest du ’ne Pizza abholen.«

»Ich stehe doch einfach nur im Flur.«

»Ja, in deinem Flur! Wie praktisch. Warum verbringst du den Abend nicht mit irgendetwas Nützlichem? Du könntest zum Beispiel mal … deinen Bettbezug waschen! Das ist dieses Ding rund um die Bettdecke, und, o Wunder, das kann man abziehen! Und dann …«

»Okay, okay«, sagte er, bereits auf dem Rückzug.

Ich sah zu, wie er sich entfernte. Einen Moment tat es mir leid. Aber als wollte er noch unterstreichen, was für ein Streuner er war, schlug er schließlich die Haustür hinter sich zu, und ich beobachtete, wie er davonstolzierte, hinaus in die dunkle, düstere Old Kent Road.