Kapitel zehn
Sich auf eine Party vorzubereiten, das hieß in meinem alten Leben, einen Event-Planer und einen Designer-Floristen zu engagieren. Kleine Kanapees, brandneue, gerade erst kreierte Cocktails und oft auch noch ein Streichquartett. Ich schlug nach meiner Mutter: Ich liebte Feste.
Diese Party war ganz anders. Eck kam mit zweiundsiebzig Luftballons nach Hause, also bliesen wir die alle auf, und dann hängten die Jungen sie in Penisform auf, immer ein länglicher in der Mitte mit einem runden links und rechts. »Wie alt seid ihr noch mal?«, wollte ich wissen. Sie versicherten mir allerdings sehr überzeugend, dass jeder Mann Penisballons witzig fand, ganz egal, wie alt. Vermutlich hatten sie recht. James brachte Wackelpudding aus dem Billigsupermarkt um die Ecke mit und Wodka, der ziemlich genauso roch wie der Ofenreiniger. Aber das war es dann auch schon mit den Vorbereitungen.
Ich beging den Fehler zu fragen: »Habt ihr auch Einladungen verschickt?« Die vier starrten mich fassungslos an.
»Macht man das so in Hackney?«, fragte Cal.
Ich zuckte mit den Schultern. »Nein. Ich meine ja nur.«
Und das war alles. Ich war aufgeregt. Würde überhaupt jemand kommen? Würden sich die Leute mit mir unterhalten? Vielleicht würden sie auf der Party auftauchen, mich anquatschen, mit mir ausgehen, mir ins Höschen fassen und dann meine beste Freundin heiraten. Ach nein, Moment, das war ja schon passiert. Ich stöhnte wieder. Es war so, als würde ich mit der Zunge ständig an einer wunden Stelle im Mund herumstochern; es tat weh, aber ich konnte es auch nicht lassen. Nein, ich musste nach vorn sehen. Mich erwartete eine Party in einem Haus voller Kerle. Die Sterne mussten einfach günstig für mich stehen.
Und zum Glück war das Badezimmer sauber, denn am Samstag nahmen meine Mitbewohner es den ganzen Tag in Beschlag. Ich konnte wirklich nicht fassen, wie eitel sie waren, und kam, ein wenig traurig, zu dem Schluss, dass wohl keiner von ihnen vorhatte, mich abzuschleppen, denn sonst sah ich sie den ganzen Tag über in ihren Boxershorts durchs Haus schlurfen, und offensichtlich störte sie das nicht im Geringsten.
»Jetzt lasst es aber mal gut sein«, rief ich, während ich draußen wartete und gegen die Tür hämmerte. »Bevor ich gekommen bin, seid ihr immerhin knietief durch den Dreck gewatet.«
James machte die Tür auf. Er hatte seine sonst so soldatenmäßigen Haare stachelig in die Höhe gegelt. Es sah extrem altmodisch aus, aber ich wollte nichts sagen, für den Fall, dass es wieder in Mode gekommen war. Um mein Vogue-Abo hatte ich mich nämlich nicht gekümmert.
»Genau!«, stimmte er zu. »Und jetzt hast du uns ein behagliches Nest bereitet, in das wir auch mal Ladys mitbringen können. Also stehen unsere Chancen jetzt viel besser. Danke sehr!«
»Cal scheint das ja nicht gestört zu haben«, meinte ich. Eigentlich freute ich mich gar nicht so sehr auf den Moment, an dem ich im Bad an der Reihe war, vor allem, weil ich mir vor kurzem mal den Spiegel vorgeknöpft hatte. Jetzt war mir klar, dass er ungeputzt viel gnädiger gewesen war. Ich hatte einen dunklen Haaransatz von mehr als zwei Zentimetern, haarige Beine und dunkle Schatten unter den Augen vom frühen Aufstehen jeden Morgen. An den Händen zeigte sich ein Ausschlag von den Putzmitteln, meine Haut wirkte irgendwie grau, weil ich nicht mehr regelmäßig zur Gesichtsbehandlung ging, und ich hatte ungefähr fünf Kilo zugenommen, da ich meine frühere, effektive Diät vernachlässigt hatte, die darin bestand, möglichst keine festen Nahrungsmittel zu mir zu nehmen. Würde ich das hinkriegen? Mein hautenges Vintage-Azzedine-Alaia-Kleid passte mir nicht mehr, und ich war auch nicht hundertprozentig sicher, was den Reißverschluss an dem Stella-McCartney-Teil betraf, das sowieso immer schon ein bisschen eng gewesen war. Aber ich hatte ein zartes, schimmerndes rotes Chiffon-Kleid, das genau den richtigen Schuss mädchenhaftes Gogo-Flair rüberbrachte (das hoffte ich zumindest, vor allem jetzt, wo mein Bauch über meine Hüftknochen hinausragte), und ein paar gefährlich aussehende Schuhe. Ich wollte einfach allen zeigen – na ja, vor allem Cal, wenn ich ehrlich war –, dass ich nicht meine gesamte Zeit damit verbrachte, auf Händen und Knien auf dem Fußboden herumzurutschen und Federn aufzusammeln. (Ich hatte sie gefragt, warum die denn in der ganzen Wohnung rumflogen. Sie wollten es mir nicht verraten, was wohl hieß, dass sie wieder mit Konzeptkunst und Absinth experimentiert hatten.) Nein, ich musste auf dieser Party einfach wie eine Bombe einschlagen.
Eck kam den Flur entlang auf mich zu. »Hey«, sagte er, »wenn du ein Hemd aussuchen solltest … für einen Typen …«
»Hm-hm?«
Er hielt zwei Modelle hoch, ein blassgrünes und eines mit kleinen blauen Blumen darauf.
»Oh, okay. Ich dachte eigentlich, das wäre eine hypothetische Frage.«
»Okay. Könntest du bitte für einen Typen ein Hemd aussuchen?«
»Für einen Typen? Für was für einen Typen denn?«
»Einen umwerfend charmanten und kreativen Typen mit dem Herz eines Löwen, so stark wie zehn Männer.«
»Oh. So einen kenne ich nicht.«
»Okay. Dann eben für mich.«
»Das mit den Blumen«, entschied ich. »Eindeutig.«
»Ist das nicht ein bisschen schwul?«
»Eck, du bist auf der Kunsthochschule. Für solche Überlegungen ist es jetzt zu spät. Und was soll’s, Frauen lieben Männer in Pastellfarben. Die zeigen nämlich, dass du deine feminine Seite nicht verleugnest, dir aber trotzdem deiner Maskulinität sicher bist.«
»Also doch schwul. James!«
»Mein Gott noch mal, jetzt frag doch James nicht! Der trägt nämlich eine von diesen Schnürsenkel-Krawatten. Schau mal, ein schwuler Touch ist perfekt. Ich meine, ein bisschen bi schadet nie.«
»Hör mal, das soll jetzt nicht so klingen, als hätte ich Vorurteile oder so. Aber ich war seit Ewigkeiten auf keiner Party mehr. ›Ein bisschen bi‹ ist das Letzte, auf das ich jetzt aus bin.«
Ich lächelte. »Bist wohl auf der Suche, was?«
Plötzlich schlug die Stimmung um, und es lag eine gewisse Spannung in der Luft.
Er sah mich an und wurde mit einem Mal völlig ernst. »Und du?«
Dann herrschte plötzlich Stille zwischen uns, die nur durch die geräuschvolle Klospülung unterbrochen wurde und durch das Rattern der völlig veralteten Wasserrohre.
»Jetzt mach endlich das Bad frei, James!«, brüllte ich. »Und das ist ein Befehl.«
»Oh, okay.« Er erschien im Türrahmen. Auf Befehle reagierte James gut. Der Zauber war durchbrochen.
»Hey, da sind ja noch ein paar Federn!«, rief Eck und zeigte den Flur entlang. Als ich seinem Blick folgte, huschte er vor mir ins Bad.
Ich schaute in den winzigen Spiegel in meinem Zimmer, und mir wurde klar, dass ich mir seit Wochen kaum mehr die Mühe gemacht hatte, auch nur Wimperntusche aufzulegen. Das war einfach unglaublich. Früher hätte ich nicht einmal das Haus verlassen, um auf der anderen Straßenseite die neueste Ausgabe von Grazia zu kaufen, ohne vorher sorgfältig Lipgloss aufzutragen.
Als ich mein Gesicht genau unter die Lupe nahm, wurde mir klar, dass die Sache wesentlich schlimmer war, als ich gedacht hatte. Vom billigen Bier und zugegebenermaßen auch von einigen Nächten, die ich mich in den Schlaf geweint hatte, waren meine Augen gerötet. Mein Teint sah aus, als hätte ich mich unter dunklen Wolken versteckt – ich fragte mich, ob in Nordlondon wohl öfter die Sonne schien als im Süden der Stadt. Vielleicht war es dort ja deshalb so teuer. Meine Haare waren eine absolute Katastrophe. Sie waren immer mein ganzer Stolz gewesen, lang und sanft golden schimmernd. In letzter Zeit hatte ich sie einfach nur im Spülstein gewaschen, und das war’s. Leider sahen sie danach nicht so aus – was ich in gewisser Weise eigentlich gehofft hatte – wie eine sonnenverwöhnte lässige Sienna-Miller-Strand-Mähne. Sie erinnerten eher an die Zotteln einer alten Hexe. Als ich sie jetzt zum ersten Mal seit Wochen richtig in Augenschein nahm – strähnig und mit dunklem Ansatz –, konnte ich die Tränen kaum unterdrücken. So was wurde in Handbüchern zur Trauerarbeit nicht erwähnt.
Offensichtlich war das Föhnen für achtzig Pfund doch sein Geld wert gewesen. Es war ein Desaster. Ich würde aussehen wie eine alte Vogelscheuche in einem zu engen hübschen Fummel. Das würde absolut nicht hinhauen. Ich konnte mich auf dieser Party unmöglich blicken lassen. Es ging einfach nicht. Ich würde in meinem Zimmer bleiben, und sie konnten gerne all ihre Mäntel auf mich werfen. Je mehr, desto besser. Um mich darunter zu verstecken.
Schniefend zog ich am Gummizug meiner Jogginghose, die auch immer enger wurde, als mein Handy klingelte. Mein neues Handy. Mein schönes silbernes hatte ich nicht mehr. Ich hatte das billigste Kartentelefon aufgetrieben, das man nur finden konnte. Es war rosa. Insgeheim vermutete ich, dass es eigentlich für Kinder war. Der eingestellte Klingelton war Glamorous von Fergie. Ganz und gar nicht glamourös.
Die Nummer sagte mir nichts. Nein. Wieso auch? Vermutlich hatte sich jemand verwählt.
»Hallo?«, meldete ich mich und versuchte, jeden Anflug von Schluchzen aus meiner Stimme zu tilgen.
»Hallöchen«, kam es zurück. »Bist du das, Sophie?«
»Ja.«
»Na, da hab ich ja ein Scheißglück gehabt. Hier ist Delilah.«
»Oh, hallo«, murmelte ich. Das hatte mir gerade noch gefehlt, dass sich eine umwerfende Achtzehnjährige mit dicken Dingern bei mir meldete, die sogar in einer Mülltüte fantastisch aussehen würde – na ja, trashig-fantastisch, aber selbst damit würde sie durchkommen.
»Was soll ich denn zu dieser blöden Party anziehen? Wird das schick, oder was?«
»Was immer du willst. Ich bin sicher, du wirst toll aussehen.«
»Aber kommen da nicht Studenten oder so? Was tragen denn Studenten so?«
»Zieh einfach ein schönes Kleid an«, beruhigte ich sie, »damit kommst du auf jeden Fall gut an. Mehr noch. Du wirst alle Blicke auf dich ziehen.«
»Oh, das weiß ich«, sagte sie. »Ich will nur nich’ unangenehm auffallen.«
Dann verstummte sie. Offensichtlich erwartete sie, dass ich ihr vorschlug, schon vor der Party herzukommen, aber das hielt ich für keine gute Idee. Nein, ganz bestimmt nicht, vor allem, wenn man in Betracht zog, dass ich mich die nächsten fünf Stunden unter dem Bett verkriechen würde. Nein. Nein, ich konnte sie hier wirklich nicht gebrauchen.
»Kann ich nich’ vorbeikommen?«, fragte sie schließlich.
»Na, okay.« Ich seufzte.
»Was ist denn los?«
»Eigentlich will ich gar nicht auf die Party.«
»Warum denn?«
Wie sollte ich es bloß ausdrücken? »Ich hab einen schlechten Tag«, erklärte ich, »haarmäßig.«
»Oh, warum hast du das nich’ sofort gesagt? Ich bin gleich bei dir!«
»Oh, nein, ist schon okay …«
»Hey, ich war schließlich zwei Jahre auf ’ner Kosmetik-Schule. Haare stylen und so weiter. Ich bring meine Tasche mit.«
»Nein, wirklich, das …«
»Und ein paar Klamotten auch, dann kannst du mir gleich sagen, was ich anziehen soll, okay? Besorg uns ’ne Flasche Wodka und gib mir mal die Adresse durch.«
Ich überlegte, dass große Brüste sicher so einiges fürs Selbstbewusstsein taten.
Zwanzig Minuten später trank ich eine Tasse Tee und hörte dabei zu, wie die Jungen über die Musikauswahl für die Party diskutierten. James war für Militärmärsche. Mir kam der fürchterliche Gedanke, dass er womöglich sogar Sex im Marschrhythmus hatte.
Cal kam mit irgendwelchem seltsamen Esoterik-Kram, der sich anhörte, als würde jemand mit einem Blechhund auf Aluminium-Rohre schlagen, und Eck legte The Killers auf. Ich hätte so gerne was von Madonna beigesteuert, um das Ganze wieder ein wenig auszugleichen. In der Küche fand sich bereits eine riesige Ansammlung leerer Bierdosen, und der Duft von Haargel wehte durch die Wohnung – meine Güte, die nahmen die Sache wirklich ernst.
»Hallo!«, grölte Delilah fröhlich. Sie schleppte mehr Zubehör an, als ich bei meinem Einzug mitgebracht hatte. »Meine Güte, na sieh mal an! Da haben wir ja noch einiges vor uns.«
»Okay, okay.« Ich seufzte. Sie trug eine knallenge Jeans und ein flauschiges rosa Top.
»Sind die Jeans in Ordnung?«, fragte sie besorgt. »Ich kann mich jetzt nämlich nich’ mehr umziehen, ich komm hier nur mit ’nem Brecheisen wieder raus.«
Delilah stampfte die Treppe hinauf. Die feuchten Flecken auf der uralten Tapete schienen sie nicht zu stören, und auch nicht die Tatsache, dass die einzigen Bilder an der Wand Fotos von Motorrädern waren, die jemand aus Zeitschriften rausgerissen hatte.
»Hast du Wodka da?«
»Nein«, antwortete ich entschuldigend. »Aber wir können was von dem Bier der Jungen stibitzen. Und wir haben auch so einen fiesen …«
Delilah zog die Nase kraus. »Bier macht fett. Und schnell betrunken wird man davon auch nich’. Hier …« Sie überreichte mir eine Flasche Wein, die aussah, als stamme ihr Inhalt aus mehr als einem Land.
»Cool.« Ich war wirklich froh. Wenn ich unbedingt auf diese Party musste, dann würde der Wein sich als sehr hilfreich erweisen.
Delilah kam näher, um mich unter die Lupe zu nehmen, und runzelte die Stirn. »Was is’n mit deinen Haaren los? Warum lässt du dir nich’ den Ansatz färben und so?«
Ich wusste nicht, wie ich ihr erklären sollte, dass ich vor jedem Friseur außer Stefano Angst hatte und dass ich es mir nicht leisten konnte, mir die Haare machen zu lassen.
»Okay«, grunzte Delilah und zog ein riesiges Glätteisen aus ihrer Tasche. »Ich hoffe, die Gäste kommen nich’ zu früh, das kann nämlich dauern.«
Sie setzte mich so hin, dass ich mich selbst nicht im Spiegel sehen konnte, als sie mit der Verwandlung begann. Zwei große Gläser Wein und einiges an Ziehen und Ziepen später ließ mich Delilah einen Blick auf das Resultat werfen.
Mein erster Reflex war, in Gelächter auszubrechen. Ich sah überhaupt nicht aus wie ich selbst. Meine langen blonden Haare waren verschwunden; sie waren zu einer Art gigantischem Bienenstock aufgetürmt, der so in sich verschlungen war, dass mein Kopf damit riesig wirkte (aber den Ansatz sah man dadurch nicht mehr). Ich trug leuchtend grünen Lidschatten, der die Form meiner Augen unterstrich, und Wimpern, die nur so strotzten vor Mascara. Meine Lippen erstrahlten in hellem Korallenrosa. Ich sah aus wie die aufreizende Background-Sängerin einer Sixties-Band. Es war ein wenig eigentümlich. »Sieht gut aus«, urteilte ich trotzdem. Und das stimmte. Es hatte allerdings nichts mit meinem üblichen Aussehen zu tun – ich hatte sonst immer auf einen dezenten, glatten, teuren Look abgezielt. Und davon war jetzt nichts mehr übrig. Ich sah tough aus und irgendwie zum Totlachen, aber auf charmante Art und Weise.
»Na klar«, bestätigte Delilah, »du schuldest mir einen Drink. Was ziehst du an?«
Ich öffnete den Schrank, dessen Tür schräg in den Angeln hing, und zeigte ihr den Inhalt. Ihre Augen weiteten sich augenblicklich.
»Shit!«, rief sie. »Ist das alles echt?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ja.«
»Wo hast du das denn her, bist du etwa eine Auftragsdiebin?«
»Nein!«
»Warst du so was wie die Mieze von ’nem reichen Macker, und er hat dir jede Menge Geschenke gekauft und so?«
»Nein!«
»Also, wo hast du’s her?«
Ich beschloss, dass es wohl am besten war, sie abzulenken. »Willst du was davon anprobieren?«
»Na, und ob!«
Ich steckte sie in ein winziges Pucci-Minikleid. Obwohl sie ein kleines Bäuchlein hatte – und natürlich diese riesigen Möpse –, sah sie darin einfach fantastisch aus. Ehrlich gesagt verliehen die aus dem Top quellenden Brüste dem Ganzen noch einen besonderen Touch.
»Darf ich das anlassen?«, fragte sie atemlos.
»Darauf bestehe ich sogar«, sagte ich. »Ich passe da eh nicht mehr rein.«
Blöderweise kam es mir plötzlich so vor, als würden zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahren ganze Welten liegen. Ich sah noch einmal in den Spiegel. Nein, das ging so wirklich in Ordnung.
»Zieh das an«, befahl Delilah und reichte mir das Alice- Temperley-Kleid, das ich auch mit in den Koffer geworfen hatte – eigentlich sollte man darin blass und romantisch vor sich hinschweben. Zusammen mit der verrückten Frisur und dem dramatischen Make-up sah es allerdings cool und trendy aus, und ganz stark nach Kunststudentin.
»Wir sind megascharf«, hauchte Delilah todernst. Unten klingelte es an der Haustür, ich konnte Stimmengewirr hören, und dann wurden Dosen geöffnet. Bei der Musik hatte Cal sich durchgesetzt. Ich war richtig aufgeregt. »Wollen wir?«
Wenn ich in meinem Zimmer noch gedacht hatte, dass ich ein wenig seltsam aussah, so musste ich bald feststellen, dass mein Look nichts im Vergleich dazu war, wie die anderen gestylt waren.
Die Mädchen (in den meisten Fällen war es durchaus möglich, die Geschlechter zu unterscheiden) waren alle spindeldürr (ich musste mit Entsetzen feststellen, dass ich hier zu den ältesten und fettesten Frauen gehörte) und trugen Strumpfhosen mit zwei verschiedenfarbenen Beinen, Mülltüten, Punkfrisuren, Hochzeitskleider, psychedelische Overalls oder eine Kombination aus allem. Sie sahen aus, als stammten sie samt und sonders von einem anderen Planeten oder zumindest aus einer besonders coolen Gegend in Tokio. Auch sie trugen Bienenkorb-Hochfrisuren (hurra!) oder Dreadlocks oder einen Irokesenschnitt, und die Haare hatten alle viele verschiedene Farben. Obwohl jeder versuchte, möglichst individuell rüberzukommen und so, fiel mir auf, dass sie merkwürdigerweise alle irgendwie gleich aussahen. Beinahe gleichzeitig drehten sie sich zu uns um und sahen Delilah und mich in unseren Partyklamotten argwöhnisch an. Da war es auch nicht sonderlich hilfreich, dass in diesem Moment die Zwillinge laut rufend die Treppe heraufkamen. Sie trugen beide pinkfarbene Plastikminis, also hatte diesmal wohl keine von ihnen nachgeben wollen.
»Deli!«, kreischten sie. »Sophs!«
»Hier sehen alle Mädels total strange aus!«, rief Kelly und dämpfte ihre Stimme auch nicht angesichts der bleichen Vampire, die uns missmutig anstarrten.
»Und die Männer sind auch krass«, fügte Grace hinzu. »Aber echt sexy.«
Ich war erleichtert. Na ja, ich wollte wirklich nicht diejenige sein, die sie zur übelsten Party aller Zeiten oder so mitgeschleppt hatte.
»Das ist wirklich die übelste Party aller Zeiten oder so«, erklang eine vertraute Stimme aus dem Flur. O Gott. Das hörte sich nach Philly an. Ich hatte gehofft, die beiden würden nicht erscheinen, und mich absichtlich nicht bei ihnen gemeldet. Mir war völlig entfallen, dass sie ja meine Adresse von Esperanza hatten.
»Lasst uns mal nach da hinten gehen«, murmelte ich Delilah und den Zwillingen zu. Die schweigenden Kunsthochschul-Vampire starrten uns hinterher, während wir uns in Richtung Küche schoben.
»Lecker, lecker«, schnalzte Cal, als er uns hereinkommen sah. Er bereitete in einem Waschbottich gerade einen »Punsch« vor. Ich wusste, was schon alles in dieser Schüssel gewesen war, und schwor mir, das Gebräu auf keinen Fall anzurühren. Er trug ein weißes Hemd, enge schwarze Jeans, ein schwarzes Jackett und schwarze Converses.
»Was läuft denn da für ein Scheiß?«, quengelte Delilah. »Habt ihr keine richtige Musik?«
»Tja, ich freue mich auch, dich kennenzulernen«, sagte Cal.
»Ja«, meinte Kelly, »wir könnten doch unsere Pussycat- Dolls-Nummer abziehen.«
»Dann bin ich Nicole«, quietschte Grace.
Plötzlich wollte ich nichts lieber auf der Welt, als diese Pussycat-Dolls-Nummer sehen. Cals Gesichtsausdruck zufolge ging es ihm genauso.
»Aschenputtel! Da ist ja ein Wunder geschehen!« Cal sah mich noch einmal von oben bis unten an. »Was hast du denn mit deinen schönen Haaren gemacht? Aber du weißt schon. Sieht toll aus.«
Ich drehte mich für ihn im Kreis, und er blinzelte mir lüstern zu.
Er begutachtete mich wie ein Pferdehändler die Gäule auf dem Viehmarkt, und sein Blick machte mich nervös. Dann kam Eck mit ein paar seiner Freunde rein.
»Nettes Hemd«, bemerkte ich. Er sah aus, als würde er gleich rot werden.
»Danke. Du siehst irgendwie … anders aus.«
»Und, gefällt es dir?«, fragte ich ermutigend.
»O ja …« Er sah sich um. »Hast du was zu trinken? Oder soll ich dir noch was holen?«
Er lächelte mich hoffnungsvoll an, und plötzlich war ich richtig aufgeregt. Es war schon so lange her, dass mich jemand angebaggert hatte, und dann auch noch jemand, der nicht annahm, dass ich augenblicklich mit ihm davonziehen würde, sobald er nur seinen Porscheschlüssel schwenkte. Natürlich hatte Eck keinen Porsche. Oder auch nur einen Ford. Oder wenigstens ein Fahrrad. Aber das Ganze war trotzdem interessant.
»Ja, bitte«, bat ich eifrig und hielt ihm mein Glas entgegen. Cal zog die Augenbrauen in die Höhe, aber das konnte ich besser. Man durfte doch wohl noch ein wenig flirten? Früher hatte ich das wenigstens mal gekonnt, und so was verlernt man doch nicht, oder?
»Wo, zum Teufel, sind wir hier bloß gelandet?«
Die Stimme aus dem Treppenhaus ließ mich erstarren. Ich wusste ja bereits, dass Philly da war, aber Carena? Ich geriet in Panik. Sie war gekommen. Eigentlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass sie wirklich auftauchte. Nicht in einer Million Jahre. So kurzfristig? An einem Samstagabend? Niemals.
»Du wolltest doch hierherkommen, Schätzchen«, antwortete eine vertraute, dunkle und äußerst amüsierte Stimme. Die Erstarrung ging in Versteinerung über. Das war Rufus.
»Was ist denn mit dir los?«, erkundigte sich Cal neugierig. »Ist plötzlich jemand vom Tatler hier aufgetaucht, um ein paar Fotos von dir zu schießen?«
»Nein«, stotterte ich. Eck kehrte mit Wein aus dem Kühlschrank zurück, und ich leerte mein Glas so schnell, dass ich kaum Zeit hatte, ihm zu danken. Ich war nervös und stand unter Strom. Ich wusste kaum, was ich mit mir anfangen sollte.
»Und du warst damit einverstanden«, zischte Carena. Offensichtlich war sie an Häuser mit weitaus dickeren Wänden gewöhnt.
»Weil ich dachte, das hier wäre eine Party und hätte ausnahmsweise mal nichts mit Hochzeitsvorbereitungen und Geschirr zu tun.« Das hörte sich an, als ob Rufus so einiges zu meckern hätte.
»Na ja, eine Party ist es auf jeden Fall, oder etwa nicht?«
Ich wünschte mir so sehr, außer einem Sprung aus dem Fenster gäbe es noch einen anderen Fluchtweg aus der Küche. Ich wollte Rufus nicht gegenübertreten müssen … oh, aber andererseits wollte ich es dann doch wieder. Ich hatte mich immer gefragt, ob er sich wohl bei mir melden würde, wenn er das von meinem Dad hörte. Das würde ihm doch sicher an die Nieren gehen, und dann würde der Liebeskummer einsetzen, und er würde merken, dass er den größten Fehler seines Lebens gemacht hatte … stattdessen war er natürlich mit Carena unterwegs gewesen und hatte Eheringe ausgesucht. Vermutlich hatte er keinen Gedanken mehr an mich verschwendet.
»Wer will tanzen?«, rief ich rasch in die Runde. Die Musik war noch immer übel, aber ich musste diese nervöse Energie loswerden. Und was, zum Teufel, bezweckte Carena damit, mit Rufus hier aufzukreuzen? Gut, ich hatte zwar behauptet, es wäre alles okay, aber deshalb musste es doch noch lange nicht stimmen. Musste sie ihn mir wirklich präsentieren? Nach allem, was ich über Carena wusste – ja, vermutlich schon.
Und dann kam mir ein ganz anderer Gedanke. Sie würden auspacken – den Jungen erzählen, wer ich wirklich war. Ich hatte absolut keinen Nerv für all ihre Fragen und dafür, plötzlich im Mittelpunkt zu stehen. Denn abgesehen von der Sache mit dem Putzen fand ich meine Anonymität hier eigentlich ganz angenehm. Ich musste mich nicht mit anderen messen, perfekt aussehen, das Richtige essen, zu den richtigen Partys eingeladen werden. Das Leben in der WG war ziemlich schmierig, aber erstaunlich entspannt.
»Ich«, meldete sich Eck, aber Cals Blick traf meinen genau im falschen Moment. Mir blieb nicht viel Zeit.
»Okay«, sagte ich zu Cal.
»Beim nächsten Lied, ja?«, rief ich Eck zu, während ich Cal in Richtung Wohnzimmer zerrte.
»Hm, eigentlich wollte ich sowieso nicht tanzen«, murmelte Eck und kehrte mit verlegenem Gesichtsausdruck zu seinen Kumpels zurück.
Ich duckte mich in Richtung Wand und ging hinter Cals Jackett in Deckung. Glücklicherweise drängten sich im Flur ungefähr tausend Leute, und Carena reckte die Nase so hoch in die Luft, dass wir uns unentdeckt an ihnen vorbeischieben konnten.
Im Wohnzimmer wummerte die Musik ohrenbetäubend laut, aber seltsamerweise störte es mich nicht länger. Zunächst zögerlich reckte ich die Arme in die Luft und bewegte den Körper langsam im Takt. Gott, ich tanze für mein Leben gern. Das heißt nicht unbedingt, dass ich gut bin, aber es macht mir einfach einen Riesenspaß. Ein Klischee besagt: »Tanz so, als würde niemand zuschauen«, aber daran glaube ich nicht. Ich denke, man sollte so tanzen, als würde die ganze Welt zuschauen und als wäre man Madonna in der Wembley-Arena. Also, ihr Kunststudentinnen – aus dem Weg!
Langsam lief ich warm und merkte, dass Cal auf meine Art zu tanzen einging. Er bewegte sich erstaunlich elegant – oh, okay, eigentlich wunderte mich das nicht weiter. Jemand mit so viel Selbstbewusstsein wie er konnte kein schlechter Tänzer sein. Aber seine Bewegungen waren geschmeidiger, als ich erwartet hatte, und sexier als je zuvor, während wir enger und enger tanzten. Er sah mir dabei zu, wie ich herumwirbelte, und es lag ein anerkennender Zug um seinen Mund. Gut. Ich wollte auf keinen Fall, dass er mich kritisch musterte und dann »Jetzt komm schon, du Trampel« vom Stapel ließ.
Ich schob mich enger an ihn heran. Auch er kam näher, und schließlich berührten wir uns fast. Wir hielten länger und länger Blickkontakt. Mir war, als könnte ich in seinen dunklen Augen ertrinken; das Verlangen, seine schmale, blasse Brust zu berühren, wurde unerträglich. Vergessen waren Carena und Rufus. Ich dachte nicht einmal mehr an Daddy. Ich vergaß alles außer der stampfenden Musik, der Hitze und der äußerst geringen Entfernung zwischen uns beiden. Wir hatten völligen Einklang erreicht, bewegten uns immer langsamer und langsamer im Gleichtakt, bis es schließlich unvermeidlich schien …
»Mein Gott, ich hätte dich fast nicht wiedererkannt«, erklang plötzlich eine Stimme neben mir. »Natürlich nur, bis ich gesehen habe, wie du mit den Armen wild in der Luft herumfuchtelst. Was, zum Teufel, hast du bloß mit deinen Haaren angestellt?«
»Hallo, Carena«, grummelte ich und löste mich von Cal. Mein Vorhaben, nach außen hin ganz die elegante und starke Frau zu geben, wurde empfindlich erschüttert, als ich bemerkte, wer neben ihr stand.
Rufus sah so gut aus wie immer, vielleicht sogar noch besser. Ich spürte, dass es meinem Herzen einen Stich versetzte. Er blickte ein wenig verlegen drein. Unter den gegebenen Umständen allerdings längst nicht verlegen genug. »Hi, Rufus.«
»Hm, hi, Sophie.«
Ich dachte, er würde vor lauter Befangenheit zur Seite schauen, aber dann wurde mir klar, dass sein Blick zu den Zwillingen schweifte, die gerade den alleralbernsten Pseudo-Lesbentanz aller Zeiten aufs Parkett legten. Was Rufus und neunzig Prozent der anderen Männer im Raum nicht im Geringsten zu stören schien. Plötzlich waren sie alle wie hypnotisiert. Und für Rufus war Spaß offensichtlich immer noch das A und O.
»Hm?«, machte ich.
»Oh, ja«, murmelte er. Er konnte mir nicht in die Augen blicken, nicht einmal, wenn er es versuchte. Ich sah, dass Carenas lange Fingernägel sich fest in seinen Arm krallten, obwohl sie so tat, als würde sie ganz woanders hinschauen.
»Also … alles okay bei dir?«, fragte ich.
»Hm, ja …« Er sah aus, als wollte er dasselbe fragen, aber dann wurde ihm wohl schon allein durch die Dekoration im Flur klar, dass sich die Frage erübrigte. »Hör mal, es tut mir leid, wie das gelaufen ist … du weißt schon. Aber wir hatten doch unseren Spaß, oder nicht?«
Tief in meinem Inneren schien sich etwas zu regen, das ich nicht sofort benennen konnte. Es fühlte sich merkwürdig an. Und dann wurde es mir plötzlich klar: Im Grunde genommen tat Rufus mir sogar ein bisschen leid. Was aus meinem Munde seltsam klingen mag. Aber für ihn ging es immer nur um Spaß. Und sobald etwas keinen Spaß mehr machte, musste man es durch etwas anderes ersetzen. Nichts war von Dauer, nichts war wichtig genug, um sich dafür anzustrengen. Mir war klar, dass ich gut reden hatte, da ich noch ein paar Wochen zuvor nicht einen einzigen Tag im Leben gearbeitet hatte, aber so empfand ich es eben. Ich beobachtete, wie sein Blick wieder in Richtung Grace und Kelly wanderte – auf der Suche nach noch mehr »Spaß«, und zum ersten Mal spürte ich, wie in meinem Herzen etwas auftaute.
»Ja, das hatten wir«, stimmte ich zu. Er hatte ja recht.
Carena hörte auf, so zu tun, als würde sie sich umschauen, und da ihr klar wurde, dass sie wieder ungestraft sie selbst sein durfte, zog sie die Augenbrauen in die Höhe.
»Und du wohnst wirklich hier?«
»Ja«, antwortete ich, »der Süden ist jetzt in.«
»Tatsächlich? Na, dann wünsche ich dir eine schöne Einweihungsparty.«
Wie winzig sie war. War ich jemals so dünn gewesen?
»Du siehst schrecklich dürr aus«, bemerkte ich. Mir gefiel der Gedanke, dass ich jetzt keine Bitterkeit mehr verspürte, und ich fragte mich, ob ein Kompliment vielleicht das Eis brechen würde. »Wirklich, du bist ja nur noch Haut und Knochen.«
Sie strahlte. »Danke! Na ja, Daddy oder Rufus werden vermutlich nicht wollen, dass ich ein Kleid von der Stange kaufe, aber ich möchte meine Kleidergröße doch lieber halten, für alle Fälle.«
Ich schüttelte verwirrt den Kopf. »Was?«
»Wegen des Brautkleids. Du weißt schon. Sorry, war das jetzt taktlos, dass ich das Thema wieder angesprochen habe?«
Ich blickte zu Rufus hinüber, der wie ein freundlicher großer Hund sabberte, während er Grace und Kelly beobachtete.
»Weißt du was?«, sagte ich plötzlich und meinte es diesmal auch wirklich ernst. »Mach dir darüber mal keine Gedanken.«
Philly tauchte wie aus dem Nichts auf und küsste mich liebevoll. Zuerst war ich ganz gerührt, aber dann wurde mir plötzlich klar, dass sie sich in die Mitte gedrängt hatte und nun zwischen mir und Cal stand. Sie begann, vor ihm herumzuwirbeln.
»Tanzen?«, fragte sie.
Ich hoffte, Cal würde irgendetwas Ritterliches sagen, zum Beispiel: »Natürlich!«, und, während er sich zu mir umdrehte: »Aber mit ihr.«
Von wegen. Stattdessen grinste er mich gut gelaunt an, rückte ein wenig zur Seite, und dann legte Philly los. Ich schaute ihnen zu. Gott, er war wirklich ein guter Tänzer. Philly wackelte mit der Hüfte und gab ihr Bestes, aber wenn ich nicht völlig falsch lag, dann tanzte er mit ihr längst nicht so eng wie mit mir.
»Oh, Sophie, wenn es darum geht, einen Mann zu halten, dann hast du’s echt nicht drauf!« Carena seufzte, als wäre das unheimlich witzig.
»Rufus, jetzt geh doch mal und hol mir was zu trinken. Champagner, wenn sie welchen haben. Habt ihr welchen? Nein? Nein?«
Ich rollte mit den Augen. »Nein«, bestätigte ich.
»Hä?«, machte Rufus. Die Zwillinge gingen mit ihrem Lesbentanz jetzt noch ein bisschen weiter und verlegten sich auf gespielte Zungenküsse. Ihm lief doch tatsächlich der Sabber aus dem Mundwinkel.
»Hol mir was zu trinken, Schatz.«
Rufus blinzelte und kehrte wieder in die Wirklichkeit zurück. »Ich will aber lieber hierbleiben.«
Die Zwillinge waren direkt vor ihm. Ich hoffte nur, dass sie die Finger von seiner Brieftasche lassen würden.
Carena warf ihm einen Blick zu, und Rufus wurde ganz klein. Er rückte von Kelly ab und folgte Carena aus dem Zimmer wie ein Hündchen, das ungezogen war und ein Häufchen auf den Küchenfußboden gesetzt hatte. Bevor sie außer Hörweite waren, drehte sie sich noch ein letztes Mal zu mir um.
»Oh, geht es Gail gut?«, fragte sie mit gespielt besorgter Miene.
»Warum?«, wollte ich wissen. Plötzlich schrillten bei mir alle Alarmglocken.
»Weil ich gehört habe, dass sie auszieht. Ich habe mich nur gefragt, was da wohl los ist.«
Carenas Tonfall war zuckersüß, aber ihre Worte trafen mich wie Messerstiche. Sie zog aus? Aus meinem Elternhaus?
»Was meinst du?«, hakte ich nach. »Wo geht sie denn hin?«
»Keine Ahnung«, erklärte Carena. »Ich habe nur mitgekriegt, dass im Mirabelle darüber geredet wurde.«
Mein Herz klopfte laut.
»Ich bin sicher, das hat nichts zu bedeuten«, fügte sie hinzu.
Aber das konnte ich nicht glauben. Wenn eine Hassfreundin wie Carena den ganzen langen Weg in die Old Kent Road auf sich nahm, nur um diese Information beiläufig zu erwähnen, dann hatte es vermutlich sogar sehr viel zu bedeuten.
Ich saß wieder in der Küche. Nach dem Alkohol – und den Neuigkeiten – drehte sich mir der Kopf. Ich versuchte, Gail zu Hause und auf dem Handy anzurufen, aber es nahm niemand ab. Plötzlich ging es mir so mies wie nie zuvor.
»Was ist denn los?«, fragte Eck. Ich schaute ihn an, und er sah wirklich besorgt aus. Aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mein Haus und möglicherweise meine Erbschaft, von der ich keinem von ihnen erzählt hatte, weil ich gerne ganz normal bleiben wollte, waren vielleicht weg. Entweder hatte Gail sich aus dem Staub gemacht, oder Carena wollte mich nur aufziehen, weil sie meine Erzfeindin war, oder vielleicht gab es noch eine Million anderer Möglichkeiten … ich konnte einfach keinen klaren Gedanken mehr fassen.
»Nichts.« Ich seufzte. »Geldprobleme. Vermutlich.«
Mein Herz machte einen Satz, als ich es aussprach.
»Oh, die sind besonders spaßig.«
»Kriegst du eigentlich Bafög?«, erkundigte ich mich. Er nickte.
»Und wie ist das so?«
Er sah mich an. »Ist das dein Ernst? Warst du denn nicht auf dem College?«
Ich schwankte zwischen einer unverhohlenen Lüge und der unverhohlenen Wahrheit, aber in dem Augenblick schienen beide Möglichkeiten nicht sonderlich vielversprechend. Doch, ich war auf dem College gewesen. Aber ich hatte kein Bafög gebraucht.
»Holst du mir noch was zu trinken?«
»Sicher«, sagte Eck und machte sich auf die Suche nach mehr Wein.
»Hey«, erklang eine samtige Stimme zu meiner Linken. »Warum hast du denn die ganzen Weiber mitgebracht, wenn sie nur mit sich selbst tanzen oder meckern, weil es keinen Schampus gibt?«
Ich blinzelte. Er hatte mich aus meiner dumpfen Brüterei gerissen. Wie er sich so über mich beugte, sah Cal riesig aus. Ich fasste einen Entschluss. Vermutlich war mein Leben der reinste Scherbenhaufen. Ich musste ungefähr eine Million Sachen wieder auf die Reihe kriegen, nicht zuletzt die Beziehung zu meinen fiesen Exfreundinnen. Aber in diesem Augenblick sah ich nur eine Möglichkeit, einen freien Kopf zu bekommen und mich vom Denken abzuhalten.
Und die hatte nichts mit einem weiteren Glas Wein zu tun.
Ich stand auf, ein wenig wackelig auf den Beinen. »Könnten wir nicht ein bisschen nach oben gehen?«, fragte ich. Es kam etwas atemlos heraus, fast so, als würde ich nach Luft schnappen.
»Alles klar?«, fragte er und sah ein bisschen besorgt aus.
»Ich hab gerade schlechte Nachrichten bekommen«, erklärte ich.
»Was ist denn los? Heiratet Prinz William jetzt doch jemand anderen, Aschenputtel?«
»Nein.«
Ich wollte nicht die ganze Geschichte erzählen müssen. Ich wollte nicht darüber reden. Ich wollte nicht einmal darüber nachdenken. Ich wollte überhaupt nicht mehr nachdenken müssen.
»Können wir nicht einfach von hier verschwinden?«
Cal sah sich um. »Du meinst, uns in den geheimen Westflügel verdrücken?«
»Wie wär’s mit deinem Zimmer?«, schlug ich vor.
Er hörte mit den Sticheleien auf und sah mir in die Augen. »Bist du sicher?«
Ich fasste ihn am Arm. Ich war mir überhaupt nicht sicher, ich musste einfach raus und irgendwie all die Fragen vertreiben, die mir im Kopf herumschwirrten. »Ja«, sagte ich.
Ich folgte ihm zur Küchentür. Der Partylärm war ohrenbetäubend. Gerade als wir die Tür erreichten, hörte ich, wie jemand meinen Namen sagte, und drehte mich um. Es war Eck. Da stand er nun mit meinem Glas. Er sah verwirrt aus.
»Sophie, ist alles klar bei dir?«
Cal warf ihm einen verärgerten Blick zu.
»Mir geht’s gut«, sagte ich und versuchte so zu klingen, als wüsste ich, was ich da tat.
»Bist du sicher?«, fragte er noch mal.
Cal verzog gereizt den Mund und ging weiter. Ecks Gesichtsausdruck wirkte gequält.
Cals Zimmer lag nach vorn raus und war wohl das größte in der Wohnung. Hier sah der Holzfußboden nicht ganz so schlimm aus wie auf der Treppe. Jede verfügbare Oberfläche war mit verbogenen Metallteilen und Tonerde übersät.
»Ist das deine Arbeit?«, fragte ich.
Cal grunzte. »So was in der Art.«
Dann warf er sich aufs Bett. Ich setzte mich in den Sessel in der Ecke des Zimmers. Irgendwie machte das die Situation seltsam förmlich.
»Den hab ich auf dem Sperrmüll gefunden«, erklärte er.
»Wo ist denn deine Schlange?«, fragte ich. Plötzlich war ich nervös.
»Eigentlich gibt es gar keine Schlange.« Cal lachte. »Den Spruch solltest du wirklich vergessen. Okay. Ich hab ihr fünf Pfund zugesteckt und ihr gesagt, sie soll heute Abend ins Kino gehen und uns nicht die Party verderben.«
»Was wollte sie sich denn anschauen, Der seltsame Fall des Benjamin Natter?«
»Sie steht mehr auf Programmkinos, denke ich. Ich glaube, heute ist Schlangen über Fernost dran.«
Ich lächelte und entspannte mich, selbst als ich spürte, wie Cal mich ansah.
»Du bist eine geheimnisvolle Frau, Aschenputtel«, sagte er sanft. »Ich weiß wirklich nicht, was ich von dir halten soll, ganz im Ernst.«
Der Klang seiner Stimme ließ mich erschaudern. Genug geredet. Seine dunklen Augen waren unergründlich. Aber jetzt, da ich mich nach Vergessen sehnte, nach etwas Neuem suchte, nach etwas, womit ich mich besser fühlte, war mir das egal. Das brauchte ich in diesem Moment. Ich schenkte ihm einen Blick, der genau dies verhieß. Unter uns dröhnte der Partylärm, aber das war mir jetzt so was von egal.
Cal seufzte. »Ich wusste ja, dass es nur Ärger gibt, wenn eine Frau in die WG zieht.« Dann stand er auf. Sein großer, drahtiger Körper verdeckte das Licht, als er den Raum durchquerte und mich plötzlich heftig küsste.