Kapitel siebzehn

Ich ermahnte und bemutterte die Zwillinge. Oder anders ausgedrückt, ich hatte mein eigenes Fotoshooting mit ihnen.

»Ich kann immer noch nicht fassen, dass du uns nicht zu dieser schicken Hochzeit mitgenommen hast«, grummelte Grace.

»Ich war nicht eingeladen«, wiederholte ich zum neunzehnten Mal. »Ich habe dort gearbeitet.«

»Gott, wen wir da alles hätten abschleppen können«, murmelte Kelly und zupfte untröstlich an ihren Häschen-Ohren herum. Ich hasste die dämlichen Dinger, die waren irgendwie so erniedrigend. Es hätten genauso gut Eselsohren sein können oder ein Wieselschwanz oder irgendetwas anderes, das die Notwendigkeit eines Gehirns komplett verleugnete.

»Take That«, staunte Grace. »Meine Mutter steht total auf die!«

»Ja, ja, ich weiß, ihr seid ja ach so jung«, brummelte ich. »Aber die waren wirklich super.«

»Julius, warum nimmst du uns nicht mal zu einer Hochzeit mit?«, quengelte Kelly. Julius schnaubte geräuschvoll.

»Weil ich kein Hochzeitsfotograf bin.«

Es war aber tatsächlich interessant gewesen, einen Blick auf die Kontaktabzüge zu werfen. Meine Arbeit war wirklich gar nicht so schlecht. Und als wir die Bilder an ein Hochglanzmagazin geschickt hatten, war ihre Wahl auf eine Aufnahme gefallen, die ich und nicht Julius gemacht hatte! Er nahm es wirklich cool hin, und für mich war das ein zusätzliches Taschengeld. So langsam fragte ich mich, ob es vielleicht wirklich eine Möglichkeit für mich gab, in dieser Branche Fuß zu fassen.

»Wir würden das Ganze mit einer Portion Glamour aufmischen«, schmollte Kelly.

»Ja, mit Glamour und Chlamydien«, grunzte Julius.

Kelly schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Also weißt du, für so beleidigende Sprüche könnte ich dich verklagen.«

»Nur zu«, entgegnete Julius. »Na los, jetzt zeig mal die Bäckchen her. Ich mache die Bilder von hinten, Sophie kann die hübschen Nahaufnahmen vom Gesicht übernehmen.«

Fügsam beugte sie sich vor. »Aber wisst ihr, das könnte ich echt machen.«

Plötzlich erschien Eck in der Tür. Er sah ganz aufgeregt aus. Und er kam zu früh, um mich abzuholen.

»Hallo, ihr Schönen … alle miteinander«, rief er. Die Mädchen verunsicherten ihn immer noch ein wenig, es war wirklich süß.

»Ich kann noch nicht«, erklärte ich. »Ich muss das hier noch fertig machen.«

»Julius, kann ich Sophie schon mitnehmen?«

»Hey, nein«, ging ich ein wenig gereizt dazwischen. »Das ist mein Shooting, okay? Meine Arbeit. Ich mache das jetzt fertig, und dann können wir gehen.«

Julius und Eck sahen sich vielsagend an, mir aber war es egal. Eck zog sich am Ende des Raumes einen Stuhl heran und tat so, als würde er seine SMS checken, während er tatsächlich die ganze Zeit die Zwillinge beobachtete.

»Wohin gehen wir denn?«, fragte ich, als wir schließlich in den Frühjahrssonnenschein hinaustraten. Die Tage wurden eindeutig länger, und es regnete weniger.

»Ist ’ne Überraschung«, gab Eck keck zurück. Er war schon wieder ganz obenauf.

»Jippie!«, rief ich. »Und wo steckt die nun?«

»Wart’s ab.«

Wir bogen von der Old Kent Road in die Trafalgar Avenue ab, eine viel nettere Straße mit riesigen Gebäuden. Es gab dort mehrere große Grundstücke mit Häusern im georgianischen Stil in verschiedenen Stadien des Verfalls. Und dahin führte mich Eck.

»Tadaaa!«, rief er und blieb vor einem davon stehen.

Das Haus war weiß gestrichen, mit riesigen Schiebefenstern und jeder Menge Müll im Vorgarten. Es war vermutlich richtig hübsch, sah aber furchtbar verwahrlost aus.

»Was denn?«, fragte ich.

Eck sah ein wenig gekränkt aus.

»Na, das Haus. Das ist zu vermieten. Zumindest die unteren beiden Stockwerke. Wie eine Maisonettewohnung.«

Tatsächlich, an der wuchernden Hecke hing vorn ein ramponiertes, altes Zu-vermieten-Schild.

Eck drehte sich zu mir um und nahm meine Hände in seine.

»Weißt du, die WG löst sich bald auf. Wir sind mit dem College fertig. Jeder wird jetzt eigene Wege gehen. James wird versetzt. Cal, Wolverine und ich machen unseren Abschluss. Das war’s, es ist vorbei.«

Seltsamerweise war das für mich ein kleiner Schock. Eigentlich hätte mir das klar sein müssen, das Studentenleben konnte nicht ewig dauern, selbst wenn Cal und Eck versuchten, es noch hinauszuzögern. Aber dennoch war diese alte Wohnung … na ja, sie war das, was für mich einem Zuhause am nächsten kam.

»O Gott«, murmelte ich, »darüber habe ich nie nachgedacht.«

»Ja.« Eck nickte. »Na ja, ich dachte, vielleicht … könnten du und ich … hierher ziehen. Von hier aus bin ich schnell in der Innenstadt, wenn ich dort erst mal einen Job habe, und du hast es trotzdem nicht weit bis zu Julius, und wir könnten das Ganze ein bisschen aufmotzen und richtig schön einrichten – ich bin sicher, dass ich meine künstlerischen Fähigkeiten noch für irgendetwas nutzen kann.«

Ich war ziemlich perplex. »Eck … ich meine, das ist doch alles noch so frisch und …«

Er sah verlegen aus. »Ich weiß, ich weiß, ich dränge dich zu früh dazu, aber ich dachte einfach …«

Er verstummte, und mir wurde klar, dass das mein Stichwort war, um ihm ins Wort zu fallen und zu verkünden: »Schatz, das ist einfach fantastisch! Wow!« Aber ich hatte noch nicht so recht verdaut, dass ich die WG bald verlassen würde. Und, fragte ich mich, hatte ich das mit Eck und mir überhaupt schon verdaut? Dass wir jetzt zusammen waren? Auf so eine Art und Weise zusammen, wie er das offensichtlich annahm?

Er sprach genau das aus, was mir gerade durch den Kopf ging.

»Oh, Sophie«, begann er, »tut mir leid, dass ich so ein Idiot bin. Ich dachte … ich hab angenommen, dass wir zusammen sind.«

Und natürlich ganz zu Recht. Warum sollte er das auch nicht denken, da wir jeden Tag zusammen aßen und wohnten und schliefen und er mir ein Gefühl von Sicherheit gab, mich liebte und umsorgte. Denn so war es doch, oder nicht? Ich dachte wieder an Carena, wie sie in ihrem Hochzeitskleid dasaß und schluchzte. An Rufus, der anderen Frauen hinterherhechelte, und an Cal, der schon so ziemlich jedes Mädchen in der Stadt mit nach Hause gebracht hatte. Es gab nicht viele von den Guten. Aber Eck war definitiv einer von ihnen.

»Es tut mir so leid«, sagte ich. »Das ist eine tolle Idee. Ich würde gerne mit dir hier einziehen. Es ist nur … du weißt schon, es war schwierig, über das mit meinem Dad hinwegzukommen, und es macht mir Angst, dass ich jetzt schon wieder mein Zuhause verlassen muss.«

»Ich verstehe«, antwortete er leise. »Deshalb dachte ich auch, dass wir uns was hier in der Nähe suchen sollten. Für den Anfang. Und du weißt ja, dass ich meinen Vater auch verloren habe.«

Ich fühlte mich augenblicklich schlecht, weil ich nicht mehr Begeisterung gezeigt hatte. Als würde er sich nicht auch nach einem Zuhause sehnen so wie ich.

»Wir werden etwas Wunderschönes daraus machen«, versprach ich. Ich drückte ihm ganz fest die Hand und küsste seine vertrauten Lippen.

Am nächsten Morgen sprang Eck aus dem Bett, noch bevor ich richtig wach war.

»Was hast du vor?«, murmelte ich mit halb geschlossenen Lidern. Heute gab es für mich keinen Tee, fiel mir auf. Eck hopste im Zimmer herum und versuchte, im Halbdunkeln seine Hose anzuziehen.

»Mist«, fluchte er. »Theoretisch wollte ich los, bevor du aufwachst.«

»Warum?«, wollte ich wissen. Und dann: »Trägst du etwa einen Anzug?«

Er lächelte nervös. »Oh, ich wollte dir eigentlich nichts davon erzählen, falls es schiefgeht. Ich habe ein Vorstellungsgespräch!«

»Nein!«, rief ich. »Wow. Im Moment bist du ja ein richtiger Geheimniskrämer.«

Er hörte mit dem Rumgezappel auf und grinste mich an.

»Du beflügelst mich eben, Sophie Chesterton. Ist alles nur für dich.«

»Na, leg dich meinetwegen nicht zu sehr ins Zeug …«, begann ich, aber er verschwand bereits in Richtung Badezimmer.

In dem Anzug sah er richtig elegant aus, sehr attraktiv.

»Weißt du, das tut dir sicher gut, in der City zu arbeiten«, sagte ich.

»Das hoffe ich«, erwiderte er. »Es wäre doch schön, mal nicht nach Terpentin zu riechen.«

»Ich hab mich daran gewöhnt.«

Ich stand auf und machte Tee, während er sich rasierte.

»Viel Glück«, wünschte ich ihm.

»Danke«, sagte er und lächelte mich im Spiegel an, was leider augenblicklich damit bestraft wurde, dass er sich schnitt. Er zuckte gequält zusammen. Ich sah ihm nach, als er auf der Straße zur Bushaltestelle ging und versuchte, lässig zu wirken. Ich lächelte.

»Ah. Ein sehnsuchtsvoller Blick für den Göttergatten auf dem Weg zu einem harten Tag in der Mine?«, spöttelte eine Stimme hinter mir. Es war Cal. Er sah blass und mager aus, offensichtlich war er die ganze Nacht aufgeblieben. »Gibt es noch Tee?«

»Nein«, fauchte ich bissig und wickelte mich noch enger in Ecks riesigen Pullover. »Ehrlich gesagt hat er ein Vorstellungsgespräch. Und du?«

»Künstler haben keine Vorstellungsgespräche«, erwiderte Cal abfällig.

»Auf dem Arbeitsamt schon«, stichelte ich.

Cal sah nach, ob noch Wasser im Kessel war. Er war leer.

»Weißt du, er macht das alles nur für dich.«

»Tut er nicht«, erwiderte ich hitzig. Das war so unfair. »Das hat nichts mit mir zu tun. Ich hab ihm gesagt, er soll bei seiner Kunst bleiben.«

»Das hat ausschließlich mit dir zu tun. Er will dir ein vernünftiges Leben bieten können.«

»Hab ich ihn etwa darum gebeten?«

»Du sehnst dich danach«, erklärte Cal. »Du kannst gar nicht anders. Du bist so aufgewachsen.«

»Na, das ist ja wohl nicht meine Schuld, oder? Ich benutze hier seit Monaten denselben Billiglippenstift, und jetzt kommst du mir damit, ich soll mich nicht nach etwas Besserem sehnen.«

»Ist ja nicht deine Schuld«, sagte er. »Jeder will doch was Besseres als das, was er hat. Ich meine ja nur, bevor du Eck zu einem Leben in Knechtschaft verdammst, solltest du sicher sein, dass er das ist, was du willst. Lass nicht zu, dass er alles für dich aufgibt, auch wenn er glaubt, dass er es so will.«

Plötzlich wurde ich wütend.

»Wenn er glaubt, dass er es will? Verdammt noch mal, ich kann ihn nicht aufhalten. Wenn er losziehen und sich Arbeit suchen will, dann kann er schließlich losziehen und sich Arbeit suchen, und das tut er dann nicht für mich, sondern für sich selbst. Dagegen kann ich gar nichts machen, also lass mich in Frieden, okay?«

»Okay. Sorry. Ich wusste ja nicht, dass es dir so ernst mit ihm ist.«

»Wir ziehen zusammen«, verkündete ich, noch bevor ich tief in meinem Inneren überhaupt den Entschluss gefasst hatte.

Cal zog die Augenbrauen hoch. »So, so«, murmelte er. »Ich wusste, dass es ihn so richtig erwischt hat, aber bei dir war ich mir da nicht so sicher …«

Ich blickte zu Boden.

»Denn zu so einem Schritt würde sich ja niemand entschließen, nur um irgendwo hinzugehören.«

»Nein«, bekräftigte ich kategorisch, »das würde wohl niemand tun.«

Aber Eck setzte sich nicht meinetwegen so unter Druck. Da war ich mir sicher. Zumindest war es nicht nur meinetwegen. Inzwischen war beinahe schon Sommer. An dem Tag, an dem ich eigentlich meine Erbschaft hätte antreten sollen, blieb ich den ganzen Tag zu Hause, nur für den Fall, dass dies alles nur eine furchtbar verzwickte Prüfung gewesen war, oder falls sie schließlich noch irgendeinen Nachtrag finden würden, dem man entnehmen konnte, dass mein Geld letztlich doch abgesichert war. Natürlich hatte niemand angerufen.

Selbstverständlich hatte Cal recht damit, dass ich die materielle Sicherheit vermisste – wem würde es nicht so gehen? Ich wusste nicht, ob ich genug Geld hatte, um Käse und Waschpulver zu kaufen. Es wäre doch eher merkwürdig, wenn mich das nicht beunruhigen würde. Aber er lag falsch, wenn er dachte, dass ich mir Eck als wehrloses Opfer ausgesucht hatte. So falsch, dass es mein Blut in Wallung brachte. Und tatsächlich hatte ich inzwischen auch mehr und mehr zu tun. Die Models arbeiteten gerne mit mir zusammen, und eine Bekannte aus meinem früheren Leben hatte mich angerufen, nachdem sie die Fotos von Carenas Hochzeit gesehen hatte, und gefragt, ob ich Bilder von ihrer Verlobungsparty machen könnte. Ich würde Visitenkarten drucken und anfangen, so richtig die Werbetrommel zu rühren.

Die Männer bekam ich kaum noch zu Gesicht, denn ihre Abschlussausstellung stand ja bevor. Eck war deshalb so aufgeregt, dass er kaum noch den Mund aufmachte. Und es war fast lächerlich, wie angestrengt Cal wirkte.

Die Show fand an einem Donnerstag im Mai statt. Es war eine ziemlich große Sache; Reporter aller Londoner Zeitungen würden vorbeischauen, um das Terrain zu sondieren und zu sehen, ob irgendwas besonders Witziges dabei war, das sie dieses Jahr an die Daily Mail verscheuern konnten, wenn möglich ein Werk aus Elefantenkot. Als ich die Einladung in der Hand hielt, wurde mir sogar klar, dass man mir früher schon einmal eine geschickt hatte, aber selbstverständlich war ich nie auf einer Veranstaltung so weit im Süden der Stadt gewesen – warum auch, wenn die Frieze Art Fair im Regent’s Park so viel praktischer war?

Ich fragte Eck, ob seine Mutter kommen würde, aber er sagte nein, das wäre sinnlos, jetzt, wo er das alles aufgab – sie konnte zur Weihnachtsfeier in seiner Firma kommen, witzelte er. Er hatte noch nichts wegen des Jobs gehört, aber wir drückten die Daumen.

Die Jungen machten sich alle schick – als uns auffiel, dass sich keiner die Mühe gemacht hatte, die geliehenen Theaterkostüme zurückzubringen, zog ich wieder das rote Kleid an, und Cal entschied sich für den Smoking.

Ich starrte lange auf den Scheck, den ich für Carenas Hochzeitsfotos bekommen hatte. Damit konnte ich die Kaution für die neue Wohnung bezahlen. Oder vielleicht ein paar Möbel, wenn wir dort eingezogen waren. Es würde seltsam sein, in einer Wohnung mit gekauften Möbeln zu wohnen statt mit, sagen wir mal, Sperrmüllfunden. Ich würde meine Steuerschulden abbezahlen können. Ich blickte lange auf den Scheck. Und dann machte ich mich schnurstracks auf den Weg zu meinem alten Friseur.

Es war toll, wie sehr er sich freute, mich wiederzusehen, und er gewährte mir einen aberwitzigen Rabatt, während er erzählte, dass er meine extrem kurze Karriere in der Boulevardpresse aufmerksam verfolgt hatte.

»Du hättest zu mir kommen sollen, Süße«, tadelte er. »Du hättest hier im Salon arbeiten können. Auf die Art und Weise hätten wir wenigstens deine Haare im Griff gehabt. So siehst du ja aus, als würdest du gleich anfangen zu bellen. Dein Haar! Dein wunderschönes Haar!«

»Ich weiß«, räumte ich beschämt ein. Noch jemand, der mir in meiner dunkelsten Stunde zur Seite gestanden hätte und an den ich nicht einmal gedacht hatte. »Es war so schrecklich, ohne meinen Vater und so … ich wusste gar nicht recht, was ich tue.«

»Aber dass du dich auf diese schreckliche Philly einlässt«, meinte er. »Mir läuft es jedes Mal kalt den Rücken runter, wenn die hier hereinstolziert. Graue Schamhaare, kannst du dir das vorstellen?«

»Nein!«, rief ich. Damit war der Tag für mich gerettet, allerdings wurde es noch viel besser, als Stefano mich herumwirbelte und ich mich im Spiegel sah. Ich … ich schaute wieder wie ich selbst aus. Ich war drauf und dran, in Tränen auszubrechen.

»Das hätten wir also, Schätzchen«, verkündete er.

Ich sah mir das Spiegelbild genauer an. Es war nicht genau dasselbe Mädchen wie früher. Aber sie war ganz okay.

Stefano drückte mir einen Kuss auf die Wange, und ich trat mit beschwingtem Schritt und wippendem Haarschopf auf die Straße.

»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte Eck.

»Ich hab mir für deine Abschlussausstellung die Haare machen lassen. Gefällt’s dir nicht?«

»Hat das denn nicht jede Menge Geld gekostet?«

»Sogar alles, was ich hatte«, gab ich zu. »Aber das geht schon in Ordnung, die Hochzeitssaison steht vor der Tür. Ich denke, ich werde ziemlich beschäftigt sein.«

Eck sah besorgt aus. »Ich hatte gehofft, wir würden etwas von deinem Geld für die Kaution sparen können.«

Plötzlich fühlte ich mich furchtbar. »Oh, das tut mir leid, Eck. Ich wollte bei deiner Veranstaltung toll aussehen. Das war das erste Mal, dass ich Geld hatte, seit … na ja, seit ziemlich langer Zeit. Es tut mir so leid.«

»Ist ja auch egal.« Eck war tatsächlich ein wenig eingeschnappt. »Deine Haare sind schließlich viel, viel wichtiger als unser gemeinsames Zuhause.«

»Sind sie nicht!« Verzweifelt versuchte ich, ihn zu besänftigen. Es war unser erster Streit. »Es tut mir so leid. Ich werde nie wieder Geld ausgeben, ohne es mit dir zu besprechen.«

»Na ja, ich bin ja nicht die Polizei«, murmelte er. »Es ist dein Geld. Ich dachte nur, dass dir unsere Zukunft genauso wichtig ist wie mir.«

»Ist sie auch!«, rief ich. »Ist sie wirklich!«

Aber er ließ mich einfach stehen. Ich schrieb es dem ganzen Druck zu, unter dem er wegen der Ausstellung stand.

»Hey, Blondie!« Cal schlenderte vorbei, einen seltsamen, von einem Laken verdeckten Gegenstand unter dem Arm. »Siehst gut aus.«

Gott sei Dank konnte Eck mir nicht lange böse sein. Nach einem Kuss und einem Kompliment von ihm machten wir uns endlich auf den Weg zur Ausstellung. Als wir alle die Treppe hinunterpolterten, kam James als Letzter aus seinem Zimmer. Er trug seine Galauniform.

»Wahnsinn!«, staunte ich. »Lass dich mal anschauen!«

»Ehrlich gesagt muss ich die tragen, ich bin jetzt im aktiven Dienst. Morgen früh breche ich auf.«

»Du machst Witze! Wohin geht’s denn?«

»Auf den Balkan, denke ich. Da brodelt es wieder gewaltig. Aber wenigstens ist es nicht der Irak.«

»Und du ziehst morgen los?«

Er nickte. Ich nahm ihn ganz fest in den Arm. Unsere WG löste sich viel schneller auf, als ich gedacht hatte.

»Bleib bloß am Leben!«, befahl ich streng.

»Auf jeden Fall«, sagte er. »Ich lasse mich doch nicht umlegen, bevor ich nicht deine Titten gesehen habe.«

»Das freut mich.« Ich grinste. »Damit hast du dir gerade selbst ein langes Leben beschert.«

»Ach Mann!«

Der zweite Schock kam dann im Taxi. Wolverine trug einen Graduiertentalar, komplett mit Barett.

»Wir setzen Wolverine unterwegs ab«, erklärte Cal. »Der kommt nicht mit zur Ausstellung. Er feiert heute seinen Abschluss.«

»In welchem Fach denn?«, fragte ich und sah zu, wie er sich aus dem Wagen trollte. »Plündern und reißen?«

»Seinen Doktor in Industriechemie«, erklärte Cal. »Er ist nämlich ein Superhirn, und man hat ihm einen Wahnsinns-Forschungsposten in Cambridge angeboten. Ich glaube, er hat irgendwas entdeckt, das härter ist als ein Diamant oder so.«

»Nie im Leben.« Ich lachte.

»Gut in Chemie«, gab Cal zurück. »Weniger brillant im Umgang mit Menschen.«

»Meine Güte!« Ich starrte ihm hinterher.

Eck trug denselben Anzug wie für das Vorstellungsgespräch und wirkte nervös. »Eigentlich sollte ich gar nicht mitkommen«, bemerkte er. »Mir ist das jetzt alles egal.«

Ich wusste, dass er seit etwa einem Monat nicht mehr an seinen Werken gearbeitet hatte, weil er diesen Monat weitestgehend mit mir im Bett verbracht hatte.

»Es wird schon gut gehen«, versuchte er sich selbst zu überzeugen und starrte angestrengt aus dem Fenster. »Und eigentlich ist es mir sowieso egal.«

Auch Cal war ungewöhnlich aufgeregt. Er sah immer wieder zu mir herüber.

»Was denn?«, fragte ich. »Sieht das Kleid bei Tageslicht etwa merkwürdig aus?«

»Nein, nein«, entgegnete er und knetete nervös seine Finger. Dann hüllten sich beide Männer in Schweigen.

Die Akademie war ein großer roter Backsteinbau, vollgestopft mit zeitgenössischem Krimskrams (hier war Vorsicht angesagt, jeder Feuerlöscher konnte ein unbezahlbares Kunstwerk sein). Überall tummelten sich Angst einflößende, bizarr aussehende Mädchen, und es roch nach Töpferwerkstatt. Es war irre was los. Die Presse war da, kunstbeflissene Besucherinnen trugen bizarre Hüte, Mäzene huschten geheimnisvoll hin und her und versuchten, Werke unter die Lupe zu nehmen, ohne dass ihre Rivalen aufmerksam wurden. Dabei war ich mir ziemlich sicher, dass sie alle schon vorher vorbeigeschaut, ihre Entscheidung getroffen und festgelegt hatten, wer als Nächstes seinen großen Durchbruch erleben würde, so wie in diesen Tagen auch bei Abschlussausstellungen, Abschlussmodenschauen, Abschlusskonzerten und -theaterinszenierungen im ganzen Land. Jeder war auf der Suche nach dem großen Star.

Man konnte allen Studenten anmerken, wie nervös sie waren. Und die Arbeiten … da gab es gestochen scharfe und verschwommene Fotos von Menschen, von Frauen am Strand mit traurigen Gesichtern vor einem grünen Himmel; Videos von Leuten, die alles langsam und unkoordiniert taten; ein zertrümmertes Klavier, das kläglich mitten im Raum stand; Gemälde von Schweinen, die Menschen ausweideten, und Diaschauen von merkwürdigen Zelten. Es war seltsam, aber ziemlich cool. Es gab da ein Bild, das nur aus Apostrophen und Semikolons bestand. Das gefiel mir sofort. Der Aufkleber daneben bedeutete, dass es bereits verkauft war. Aber Ecks Werke konnte ich nicht entdecken … o doch, da waren sie.

Anzeichen von Leben hieß die erste Skulptur. Eine schmiedeeiserne Spinne neben schmiedeeisernen Eiern.

»Diese Arbeit stellt den Kreislauf des Lebens einschließlich all seiner Hässlichkeit, Verzweiflung und Schmerzen dar«, las ich auf dem Schildchen daneben.

»Ja, die von der Akademie helfen uns dabei, den Text zu verfassen«, grummelte Eck. Seine Arbeiten standen etwas versteckt in einer Ecke. Nur eine seiner größeren Spinnen, eine mit roten Beinen, lief gut sichtbar eine Wand hinunter.

»Die Sache mit den Spinnen«, bemerkte ich und schüttelte den Kopf.

»Ich weiß«, gab er zurück. »Ich wünschte wirklich, sie hätten nicht so viel Wert darauf gelegt, dass wir unseren innersten Gefühlen Ausdruck verleihen. Hätten sie mir doch einfach gesagt, ich soll Bilder von Pferden und Brücken mit Blumen malen.«

»Sieht doch toll aus«, erwiderte ich und küsste ihn. Ich dachte daran zurück, wie anders ich ihn bei meinem Einzug in die WG erlebt hatte. Immer fröhlich und beschäftigt, und er roch immer ein wenig nach Lötkolben. Was war bloß mit ihm passiert? Jetzt schaute er ständig aufs Handy, wegen des Jobs, oder sah nach mir, um sicher zu sein, dass es mir gut ging. War das mein Fehler gewesen? Hatte ich ihn runtergezogen, oder war das einfach das Leben?

Ich ließ Eck ein wenig verloren neben seinen Spinnen stehen und schlenderte weiter in die zweite Galerie. Dort fand ich mich in einem kleinen Garten mit Skulpturen wieder. Ich blieb stehen, um sie mir genauer anzusehen. Und dann noch genauer. Es waren Füße und Hände, herausgehauen aus dem allerreinsten weißen Marmor. Zwei Hände, die einen Wischmopp hielten. Ein Fuß mit abgesplittertem Nagellack neben einer Kloschüssel. Sie sahen aus, als hätte man sie aus einem größeren Werk herausgebrochen, aber irgendwie waren sie auch für sich allein genommen vollkommen und wunderschön gearbeitet. Je mehr ich sie betrachtete, desto mehr wurde mir klar, dass mir daran irgendetwas bekannt vorkam – das waren meine Hände und Füße.

Ich musste nicht einmal auf das Schildchen gucken, tat es dann aber doch. »Cal Hartley« stand da. Und neben jedem Werk war säuberlich der Titel vermerkt: Aschenputtel I, Aschenputtel II, Aschenputtel III usw. In jeder Arbeit gab es irgendwo eine lange blonde Haarsträhne zu entdecken. Und auf jeder einzelnen Skulptur klebte ein roter Punkt. Ich hatte das Gefühl, dass es mir die Kehle zuschnürte.

»Und, was hältst du davon?«

Cals Stimme erklang aus dem Schatten jenseits der Scheinwerfer. Dieses Mal klang sie ausnahmsweise nicht sarkastisch oder belustigt. Es interessierte ihn wirklich.

»Verrückt«, sagte ich. Dann dachte ich noch einmal darüber nach und drehte mich zu ihm um. »Die sind wunderschön«, erklärte ich. »Und du hast alle verkauft.«

»Ein paar davon hab ich behalten.«

»Bin ich das?«

Er fuhr sich verlegen durchs Haar. »Nein, also, da war auch noch diese andere Schickimicki-Tussi, die mit leeren Händen bei uns aufgetaucht ist und dann das Putzen übernommen hat.«

Ein Typ mit Hornbrille kam auf uns zu.

»Sehr schön, sehr schön«, kommentierte er. »Das Klassische und das Alltägliche. Perfekte kleine Stücke.« Er schüttelte Cal die Hand und überreichte ihm seine Karte. »Melden Sie sich doch bitte bald bei mir.«

Er sah mich an und dann die Arbeiten. Einer der Skulpturen fiel die blassblonde Mähne bis auf die Fersen. »Ist das Ihre Muse?«

Ich versuchte, bescheiden dreinzublicken.

»Sie kommen mir bekannt vor … ah, na ja. Passen Sie gut auf ihn auf«, riet er. »Er hat eine brillante Zukunft vor sich.«

Ich konnte Cal kaum ins Gesicht sehen, aber er starrte sowieso noch auf die Karte in seiner Hand, als könnte er es kaum fassen.

»Wer war das denn?«, fragte ich, als der Mann gegangen war.

»Sloan … kein Geringerer als der einflussreichste Typ der ganzen Londoner Kunstszene … O mein Gott! Sophie, Gott, weißt du, was das heißt?«

Ich schüttelte den Kopf, aber seine Begeisterung war ansteckend, und dann hob er mich hoch und wirbelte mich in einer stürmischen Umarmung im Kreis herum.

»Das bedeutet … Ich weiß selbst nicht recht, was es bedeutet, aber das ist so aufregend, ein richtiges Abenteuer.«

»Ich freue mich für dich.« Ich meinte es wirklich ernst. Plötzlich waren unsere Reibereien vergessen. »Ich freue mich sehr für dich, Cal.«

»Danke«, stammelte er. Er brachte kaum ein Wort heraus. »Danke.«

Genau in dem Augenblick stieß Eck dazu. »Wo warst du denn?«, ließ er ein wenig ungeduldig verlauten. »Ich hab dich überall gesucht. Ernst and Young haben gerade angerufen.«

»Wer?«, fragte ich verwirrt.

»Die Buchhaltungs-Firma. Du weißt schon.«

»Oh. O ja.«

»Die haben einen Ausbildungsplatz für mich! Die ganze Sache ist schon vorzeitig entschieden worden! Ich kann nächsten Monat anfangen und bei ihnen auch meine Prüfungen machen und so.«

»Das … das ist ja toll«, rief ich. »Bist du zufrieden?«

»Ja, das bin ich.«

»Okay.« Dann ging ich auf ihn zu und versuchte, ihn zu küssen, aber der Kuss ging leicht daneben und landete auf einem Nasenflügel. »Das ist echt super. Wahnsinn! Überall nur gute Nachrichten!«

Eck betrachtete Cals Arbeiten, die im schwachen Licht schimmerten.

»Gut gemacht«, lobte er mit ehrlicher Bewunderung, als er die Aufkleber entdeckte. »Du hast es dir verdient. Dafür hast du schließlich hart gearbeitet.«

»Gleichfalls«, erwiderte Cal und starrte mich dabei die ganze Zeit an. Mein Magen fühlte sich an wie eine Waschmaschine.

»Hey, ist das Sophie?«, erklang laut James’ Stimme. »Warum hast du denn keine mit ihren Titten gemacht?«

Nach jeder Menge Gratulationen und Verabschiedungen und aufgeregtem Quietschen von Seiten anderer Studenten (und einigen neidischen Blicken, da Cal offensichtlich der Star der Show war) wollten wir schließlich alle zusammen etwas trinken gehen, also hakten wir uns unter und machten uns auf den Weg in Richtung Ausgang. Wir waren schon fast draußen, als James beinahe ein älteres Pärchen über den Haufen rannte, das Ecks Spinnen anstarrte.

»Tut mir leid«, entschuldigte er sich.

»Macht nichts, junger Mann«, beschwichtigte ihn der Mann. Er trug einen altmodischen braunen Zweireiher und eine etwas seltsame blaue Krawatte. »Ich suche Alec Swinson …«

Dann erblickte er uns.

»Alec! Da bist du ja! Wir haben schon überall nach dir Ausschau gehalten.«

»Oh, ja«, murmelte Eck. »Hallo, Mum. Hallo, äh … Dad.«

Dad?

»Hast du da etwa gerade …«, setzte ich an und dachte kurz daran, dass es ja auch sein Stiefvater sein konnte, aber Eck machte bereits einen Schritt auf die beiden zu, um sie mit einem Kuss zu begrüßen. Es waren unverkennbar seine Eltern – die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen. Die Haare seines Vaters waren inzwischen zwar grau, aber sie fielen ihm an genau der gleichen Stelle in die Stirn; selbst die Körperhaltung war die gleiche.

»Ich wusste nicht, dass ihr kommen würdet«, stotterte Eck.

»Das lassen wir uns doch nicht entgehen!«, erklärte seine Mutter, die nett und fröhlich wirkte. »Es stand ja in der Zeitung.«

»So leicht wirst du uns nicht los«, scherzte sein Dad. »Nicht, nachdem du hier drei Jahre verbracht hast, hm? Und das sind deine Freunde?«

Ich lächelte, aber innerlich war ich wie betäubt.

»Äh, so was in der Art«, stammelte Eck. Er war knallrot, und auf seinem Gesicht konnte man eine Mischung aus Ärger und Verwirrung lesen. »Aber ich denke, die müssen jetzt los.«

»Aber Eck …«, flehte ich und starrte ihn an, in der Hoffnung, das alles endlich zu begreifen.

Als ihm klar wurde, wie ausweglos die Situation war, nahm Eck mich bei der Hand und zog mich zur Tür.

»Sophie …«

»Aber … aber …« Ich konnte meiner Gefühle kaum Herr werden. »Aber das ist ja dein Vater!«

Eck schlug die Hände vors Gesicht. »Ich weiß.«

»Aber … wie konntest du nur so grausam sein? Das war grausam, Eck. Wie konntest du nur?«

»Ich weiß, ich weiß … ich hab einfach versucht … ich wollte doch nur, dass du mich magst.«

»Aber ich mochte dich doch schon!«

»Ich dachte, du stehst auf Cal. Ich war … ich war einfach nur ein verdammter Idiot. Ich hab das aus lauter Verzweiflung behauptet, und dann, na ja, dann hat sich die Sache verselbstständigt, und es gab plötzlich kein Zurück mehr, nur noch diese bescheuerte Lüge.«

»Aber hast du denn gedacht, ich würde das nie rausfinden?«

»Das habe ich einfach verdrängt … Ich habe gehofft, wenn wir erst mal zusammenwohnen, dann würdest du mich irgendwann genug lieben …«

Ich sah in sein sanftes Gesicht. »Ich hätte dich genug geliebt.«

Eck schluckte heftig. »Heißt das …«

Ich antwortete nicht.

»Natürlich heißt es das«, stöhnte er. »Natürlich. Mein Gott. Himmel, wie konnte ich bloß so blöd sein?«

»Ich weiß es nicht«, flüsterte ich. Ich brachte kaum ein Wort heraus.

»Alec?« Die Stimme kam aus dem Raum nebenan.

»Ich denke, du solltest jetzt zu ihnen gehen«, sagte ich so gefasst, wie ich nur konnte, während ich versuchte, die Tränen zurückzuhalten.

»Sophie?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Geh. Bitte.«

»Was ist denn los?«, fragte Cal, als ich in die Kneipe stolperte. James zog los, um uns was zu trinken zu holen. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen. Warum wollte Eck dich denn nicht seinen Eltern vorstellen?«

»Weil«, begann ich und bekam es kaum über die Lippen, »weil er eigentlich gar nicht zwei Eltern haben sollte.«

James reichte mir ein Glas Wein und zog sich dann zurück. Ich nahm einen tiefen Schluck.

»O Gott, Cal, er hat behauptet … er hat mir erzählt, dass sein Vater tot ist.«

»Was willst du damit sagen?«

»Das hat er mir erzählt … er hat gesagt, dass sein Vater tot ist und dass er wüsste, wie ich mich fühle. Aber, Cal …« Ich kam mir vor, als wäre ich wieder fünf Jahre alt. Ich bekam die Worte einfach nicht heraus. »Mein Dad ist wirklich tot!«

Und ich begann erbärmlich zu schluchzen, so laut, dass die ganzen schicken Leute um uns herum von uns abrückten. Cal schloss mich in seine langen Arme.

»Oh, oh, Schätzchen. Bist du sicher, dass du dich nicht vielleicht vertan hast und er jemand anderen meinte?«

Ich schüttelte den Kopf, während er für uns Stühle in einer diskreten Ecke suchte.

»Du weißt«, versicherte Cal, »und ich weiß auch, wie verrückt Eck nach dir ist. Er war dir von dem Augenblick an verfallen, als du bei uns aufgetaucht bist. O Gott. Ich meine, er hätte wer weiß was gesagt, um mit dir zusammenzukommen.«

»Aber das … das ist das Schlimmste, was er überhaupt sagen konnte.«

»Ich weiß. Ich weiß, Süße. Er war hin und weg, als er dich kennengelernt hat, und er hatte Angst, du wärst eine Nummer zu groß für ihn. Da konnte er sich einfach nicht mehr bremsen. Ich denke, ein Leben mit dir – Glamour und Geld und das Ganze. Da ist er total darauf abgefahren. Und auf dich, natürlich.«

Ich schüttelte den Kopf, die Tränen tropften mir in den Schoß.

»Deshalb hat er mich also damit genervt, ich sollte mich auf die Suche nach dem Geld machen oder mit einem Anwalt sprechen oder dieser ganze Mist mit dem Schmuck. Vielleicht denkt er, bei mir wäre was zu holen.«

»Das glaube ich nicht … ich bin sogar sicher, dass es nicht so ist.«

Ich dachte an meinen lieben, sanften Eck und war sicher, dass er das nicht im Sinn hatte. Aber er hatte mich belogen, und das Ganze hatte sich immer weiter und weiter hochgeschraubt und war außer Kontrolle geraten.

»O Gott. Er fehlt mir so sehr.«

»Eck?«

»Himmel, nein. Mein Dad. Ich vermisse ihn, Cal. Er hätte nie zugelassen, dass man mich so betrügt.«

»Ich weiß.«

Ich setzte mich kerzengerade auf. »Nein, das weißt du eben nicht, Cal. Das ist es ja. Niemand kann es wissen. Außer meiner Stiefmutter, und ich bin mir nicht sicher, ob die mir je vergeben wird.«

»Warum? Was hast du denn so Schreckliches getan?«

»Er hat mich angerufen, Cal, als er seinen Herzinfarkt hatte. Er hat mich angerufen, und ich wollte nicht mit ihm sprechen. Ich hätte ihn retten können, und ich hab’s nicht getan, weil ich auf einer Party war. Ich habe ihn umgebracht, Cal! Es ist alles meine Schuld.«

Cal nahm mein Gesicht in beide Hände. »Es ist nicht deine Schuld, Sophie. Das garantiere ich dir. Es war nicht deine Schuld. Ein Herzinfarkt – das ist eine furchtbare, schreckliche Sache. Du hättest nichts mehr für ihn tun können.«

»Ich hätte ihn retten können.«

»Hättest du nicht. Du hättest ihn nicht retten können.«

Dann nahm er mich in den Arm und hielt mich ganz, ganz fest. Unendlich lange.

»Wir sollten jetzt gehen«, meinte Cal schließlich. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren.

»O ja, wir müssen los«, stimmte ich zu. »Du verpasst ja deine große Party und alles.«

»Oh, das ist längst gelaufen. Macht aber nichts. Wahrscheinlich bringt es viel mehr, wenn ich geheimnisvoll tue und nicht erscheine, sodass alle über mich reden.«

Ich schluckte. »Das tut mir leid«, sagte ich und fuhr mir übers Gesicht. Es ging mir viel besser. Seltsamerweise. Innerlich war ich irgendwie geläutert wie nach einer Katharsis. Nachdem ich die ganze Sache einfach jemandem erzählt hatte und den Alptraum, den ich durchlebt hatte, benennen konnte, damit er mich in Ruhe ließ. Ich würde mir selbst nie verzeihen können. Aber vielleicht konnte ich lernen, damit zu leben.

»Nein, ich meine es ernst«, sagte er. »Oh, da drüben ist deine Freundin Philly und rückt gerade Jay Joplin auf die Pelle. Soll ich mal rübergehen und ihr sagen, sie soll verschwinden?«

»Nein«, sagte ich und winkte ab, »dazu bleibt dir noch genug Gelegenheit.«

Als wir aus dem Lokal traten, hatte er noch immer schützend den Arm um mich geschlungen.

»Ich will nicht nach Hause«, murmelte ich.

»Ich glaube nicht, dass Eck da ist.«

Oh, Eck. Die Idee, für die er stand, hatte mir gutgetan: Vertrautheit, Beständigkeit und Sicherheit. Genau das, was ich verloren hatte. Aber alles war nur eine Lüge gewesen.

»O Gott. Ich will nicht mit ihm reden. Er hat mir so viel bedeutet, aber das alles …«

»Ich sollte das vielleicht besser nicht sagen«, begann Cal, »aber ich wusste, dass das mit euch beiden nicht gut gehen konnte. Ich bin nur froh, dass du es herausgefunden hast, bevor du eine Dummheit machst wie zum Beispiel, mit ihm zusammenzuziehen.«

»O Gott«, seufzte ich müde und traurig. »Was mache ich denn jetzt? Ich muss wieder ganz von vorn anfangen.«

»Na und?«, entgegnete Cal unbekümmert.

»Na und? Was soll das denn heißen?«

»Na ja, das Leben kann man nicht planen. Heute bist du obenauf, morgen geht alles den Bach runter. Ich bin sicher, du berappelst dich wieder.«

»Na, vielen Dank.«

»Das hast du doch schon einmal geschafft. Und du schaffst es wieder.«

Ich schniefte. Vermutlich hatte er recht. Ich würde wieder auf die Füße kommen. Ich hatte so einiges gelernt und war nicht länger die verwöhnte Ignorantin, die nicht mal eine Tasse Tee kochen konnte.

Wir machten uns auf den Weg, die endlose Straße entlang nach Hause.

»Natürlich«, fügte er schließlich hinzu, »könntest du mich auf diesen Trip auch mitnehmen.«

»Dich?«, fragte ich. »Ausgerechnet dich, mit deinen ständigen Sprüchen und deinen hunderttausend Freundinnen?«

»Na ja, erstens sind meine ständigen Sprüche meine Art, dir zu sagen, dass ich dich mag.«

»Das ist doch total bescheuert«, erklärte ich, aber ich merkte, dass plötzlich etwas Seltsames geschah. Meine Mundwinkel krümmten sich nach oben.

»Und zweitens, nicht meine hunderttausend Freundinnen, nein. Nur mich. Ich meine es ernst, Sophie. Du und ich. Aber nachdem du mich abserviert hast, musste ich meine Sorgen ja irgendwie vergessen.«

»Ich hab dich nicht abserviert!«

»Na, und ob. Eine Nacht, und das war’s dann, danach war ich passé.«

»Ich dachte … ich meine, ich bin aufgewacht, und du warst nicht mehr da.«

»Ich bin aufgestanden, um mir eine Tasse Tee zu machen. Und dir auch, stell dir vor.«

»Und ich dachte, das wäre deine Art und Weise, mir zu sagen, dass die Sache gelaufen ist.«

Cal schüttelte den Kopf. »O Gott, Sophie, sag mir bitte, dass das nicht wahr ist.«

Wir blieben stehen, und er wirbelte mich herum, sodass wir uns gegenüberstanden. Auf einmal durchfuhr es mich wie ein Stromstoß, wie damals an meinem ersten Tag in der WG. Gott, wie sehr mir dieser Typ gefiel. Plötzlich wurde mir klar, dass ich völlig verrückt nach ihm war. Aber das war doch Wahnsinn. Ich konnte ihn nicht haben. Offensichtlich gehörte er allen Frauen dieser Welt, und ich hatte mich auf jemand anderen eingelassen. Und jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich hatte gewusst, dass das mit Eck nicht funktionieren würde. Ich hatte es gewusst, Cal hatte es gewusst, aber ich konnte mir einfach nicht eingestehen, dass ich schon wieder etwas falsch gemacht hatte.

Das hier hingegen … das war etwas völlig anderes.

»Du könntest doch nie einer einzigen Frau treu bleiben«, neckte ich ihn.

»Gerade du solltest wirklich daran glauben, dass Menschen sich ändern können«, entgegnete Cal ruhig. »Oh, ich hab versucht, dich mir aus dem Kopf zu schlagen, aber vergeblich.«

»Na ja, du hattest mich doch schließlich die ganze Zeit vor der Nase.«

Aber Cal hörte nicht zu. Offensichtlich musste er sich das jetzt von der Seele reden.

»Ich werde dir nie falsche Versprechungen machen, Sophie. Ich kann dir nicht versprechen, dass wir bis an unser Lebensende glücklich sein werden, in einem kleinen Häuschen auf dem Lande, mit einem festen Job. Aber ich lege dir mein Herz und meine Seele und all das zu Füßen. Und die anderen Frauen … na ja, ich war Single, und sie haben es mir leicht gemacht. Die, die ich wollte, konnte ich nicht haben, also dachte ich mir: Was soll’s! Ich weiß, das ist jetzt schwer zu glauben, aber eigentlich mache ich als fester Freund gar keine schlechte Figur. Vermutlich.«

Ich lächelte. »Das Leben mit mir ist jedenfalls kein Zuckerschlecken.«

»Oh, das weiß ich. Aber von dem Moment an, als ich dich mit dem Kopf in der Kloschüssel sah …«

»Hey, das vergessen wir mal lieber ganz schnell.«

Da war er wieder, der grinsende, spottende Cal. Aber ich konnte spüren, dass es ihm trotz seines lockeren Tonfalls ernst war. Ich nahm mir die wunderbare, wunderbare Freiheit, mich ihm wieder zu nähern und ihn zu umarmen. Sein Herzschlag spiegelte meinen eigenen wider.

»Also?« Ich sah zu ihm hoch.

»Was denn?«

»Und was legst du mir denn alles zu Füßen?«

»Was ich habe, gehört dir. Natürlich ist das im Grunde genommen hundert Prozent ›Scheiß drauf‹.«

»Ach, das kriegen wir schon hin«, versicherte ich. »Nachtbus?«

»Lass uns laufen. Ist billiger.«

»Ja, alles klar.« Ich grinste. Dann schmiegte ich mich an ihn, und wir machten uns langsam auf den Weg die ganze lange Old Kent Road entlang, stolpernd, unter kleinen Küssen, unbeholfen und endlich erfüllt von dieser seltsamen, heftigen Glückseligkeit, die ich nie, niemals zuvor gespürt hatte.

In dieser Nacht träumte ich von meinem Dad. Und er lächelte.