SECHZEHN

~ Von Entschuldigungen, Wiedergutmachung und einer zusätzlichen Mitgift ~

Kaum ebbte die Feuersbrunst aus Lust und Sättigung ab, legte sich ein kalter, harter Stein auf Dimitri. 

Beim Schicksal, was habe ich nur getan?

Kälte ergriff Besitz von ihm, als er tief Luft holte, sein Verstand stob wild in alle Richtungen davon. 

Eisern bezwang er wieder alles Gefühl in ihm. Nein. Die Zeit für Vorwürfe und Bedauern käme später. Jetzt musste er seine Gedanken unter Kontrolle bringen und sich aus der Affäre ziehen – buchstäblich und im übertragenen Sinne – aus ... all dem hier.

Dem hier ... diesem Augenblick voll ruhiger Befriedigung, und maßlosem Entzücken, aus etwas, was ihn bis ins Mark erschüttert hatte. Etwas was sein Inneres zum Schwingen gebracht hatte, wie eine hitzige Blüte, die sich öffnete und ihre Wärme durch ihn hindurch schickte. Aber der Gedanke verdorrte auch sogleich. 

Er zwang sich dazu, die Augen zu öffnen, hob sich sanft von ihrer Schulter hoch. Seine Zähne hatte er bereits wieder eingefahren, aber die Essenz des Blutes lag ihm noch auf der Zunge, stieg ihm in die Nase. Wunderschön. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Gesicht restlos entspannt und beglückt. Er hatte noch nie etwas gesehen, was ihm das Herz so schmerzlich zusammenzog wie das hier. Obwohl er es musste, konnte er nicht wegsehen.

Ihre Lippen waren voll, rosig und feucht, und einladend, waren halbgeöffnet. Der nasse Zopf der all die Locken von Blond, Bronze, Kupfer und Walnuss zusammen gehalten hatte, war nur noch eine Erinnerung, und ihr langes, dichtes Haar klebte überall an ihrer Haut, und an seiner. Nackte Schultern und Arme, mit einer entblößten Brust, die vollkommener nicht hätte sein können. Schon beim Ansehen davon, bei der Erinnerung an ihre glatte, süße Textur, an die harte, elektrisierte Brustwarze unter seiner Zunge und seinen Lippen, zog sich sein ganzer Körper wieder krampfhaft zusammen. 

Was habe ich dir nur angetan? Und mir?

Selbst als er sich von ihr löste, kämpfte Dimitri damit, zu überlegen, wie man etwas ungeschehen machte, was man nicht ungeschehen machen konnte. Er zog wieder die kalte Mauer hoch, hinter der er sicher war und beobachtete, wie Maia – Miss Woodmore. Sie musste wieder Miss Woodmore sein – ihre Augen mit einem leichten Flattern öffnete. 

So falsch.

Er wollte sie verhöhnen, mit seinen Worten vernichten, damit sie vor ihm wegrannte. Wenn er das tat, würde sie den Earl von Corvindale hassen, wie zuvor. Sie könnte Bradington heiraten, vielleicht mit ein paar Gewissensbissen, aber zumindest würde sie immer noch mit ihm vor den Traualter treten. 

Anstatt von Dimitri zu verlangen, dass er das Ehrenhafte tat. Ihn in Versuchung führte.

Das würde ... durfte ... niemals geschehen.

„Corvindale.“

Selbst die Art, wie sie seinen Namen aussprach, immer noch in aller Form seinen Titel benutzte, klang jetzt aufreizend und vertraut. 

Er hatte sich aufgesetzt und sammelte sich, knöpfte sich die Hose zu, fand sein Hemd schließlich irgendwo zusammengeknüllt auf dem Boden. Ihr Hemd. Corvindale. Ich mag es nicht mehr sehen.

Sie werden mir nicht wehtun.

Bitte.

Er schloss die Augen. Luzifers verfluchte Hölle. Sie saß jetzt aufrecht, und er wagte es nicht, sie anzuschauen, ihr in die großen, fragenden Augen zu blicken. Verletzt. Oder vielleicht auch voller Wut und Vorwürfe – wie es auch angemessen und richtig wäre. 

„Corvindale“, sagte sie erneut, diesmal etwas lauter. „Sehen Sie mich an.“

Er zögerte und tat dann, wie sie gebeten hatte. Dank den Schicksalsgöttinnen, dass sie ihr Mieder schon wieder hochgezogen und auch den Rest ihrer Kleidung wieder hergerichtet hatte. Einziges Anzeichen ihrer Aktivitäten war die frische Bisswunde an ihrer Schulter. Sein Blick glitt hoch zu ihren Augen. Was er dort sah, war weder eine Frage noch Verwirrung, es war auch nicht Wut oder bittere Vorwürfe. Darin lag etwas ganz Zartes, die Lider schwer nach ihrem Liebespiel, und noch etwas. Ein Hinnehmen? Von all dem hier? 

„Ich nehme an, das war nicht, was Chas vorschwebte, als er Sie zum Vormund ernannte“, sagte sie und zog dieses dicke Bündel von Haar nach vorne über die eine Schulter. Sie begann, es zu einem breiten Zopf zu flechten.

Er schluckte einen kleinen, höhnischen Ton herunter. „Sie begreifen hoffentlich, Miss Woodmore, auch wenn ich nicht ansatzweise gutmachen kann, was hier geschehen ist, so ändert es rein gar nichts.“

Sie hob eine Augenbraue, ihre grünbraunen Augen richteten sich auf ihn und betrachteten ihn mit einem absolut leeren Gesichtsausdruck. Sie schwieg erst und antwortete ihm dann, „was genau meinen Sie damit, nichts wird sich ändern?“

Er bemerkte, wie ihre geschäftigen Finger entweder sehr schnell waren oder leicht zitterten. Kummer zerfraß ihm die Eingeweide. „Damit meine ich, wir werden hierüber niemals sprechen und stets verleugnen, was das ... ehem ... Ereignis hier betrifft. Niemand wird je hiervon erfahren, und Sie werden hier aus dem Zimmer gehen und Bradington heiraten, ohne den Hauch eines Skandals. Alles bleibt wie zuvor.“

Maia – verflucht, Miss Woodmore – betrachtete ihn nur weiterhin aufmerksam. Sie war fertig mit dem Zopf, und jetzt legte sie ihre Hände in den Schoß, dort, in den Falten ihres Kleids versteckt, so dass er nicht sehen konnte, ob sie zitterten.

„So wie Sie das sagen, ist das alles ja wunderbar einfach, nicht wahr, Mylord? Wir beide tun so, als wäre nichts geschehen. Aber in Wirklichkeit, Corvindale, das begreifen Sie doch sicherlich auch, ist eine ganze Menge geschehen.“ Ihre Stimme war jetzt völlig beherrscht, wurde auch etwas lauter, aber es war kein Schreien. Noch war sie wütend. Einfach nur stark, Allwissend.

„Ich verstehe, dass Sie mir niemals mein Verhalten heute vergeben können – das sollten Sie auch nicht. Es war unverzeihlich. Ich werde Ihnen zur Entschuldigung eine zusätzliche Mitgift mitgeben, und, als ein unbeholfener Versuch, Sie zu trösten, kann ich Ihnen versichern, dass Ihr Bruder mir gewiss die Vormundschaft über Sie sofort entziehen wird.“

„Ich dachte“, sagte sie, wobei ihre Lippen sich fast nicht bewegten, „Sie sagten soeben, niemand müsse je hiervon erfahren. Ich nahm an, Chas war darin mit eingeschlossen. Oder“, fuhr sie fort, „war das alles hier nur eine ausgeklügelte Finte, um meine Schwestern und mich aus Ihrer Zuständigkeit zu entfernen?“

„Gewisslich nicht“, fuhr er sie an. „Ich hatte niemals die Absicht, Ihnen je nahe zu kommen, Miss Woodmore. Und schon gar nicht – das hier.“

Sie nickte. „Das hatte ich auch so gedacht. Ich bin sehr erleichtert festzustellen, dass meine Vermutungen hier zutreffend waren.“ Sie war aufgestanden und redete weiter. „Also. Habe ich recht verstanden, dass, erstens, bieten Sie mir Ihre Entschuldigungen für das Vorgefallene an. Zweitens möchten Sie, dass niemand je erfährt, was hier vorgefallen ist. Und drittens, dass Sie beabsichtigen mir ein große Menge Geldes anlässlich meiner Vermählung zu vermachen, um Ihr eigenes schlechtes Gewissen zu beruhigen. Habe ich das richtig verstanden?“

Dimitri schaffte nur ein Nicken. Das hier war so ... merkwürdig.

„Eine große Menge Geld“, wiederholte sie und erdolchte ihn mit ihren Augen. „Richtig?“

Er nickte wieder.

„Wegen Ihres Betragens.“

Er nickte noch mal, aber diesmal etwas langsamer. War das hier eine Art Falle?

„Dann habe ich noch eine weitere Frage an Sie, Corvindale.“ Und wieder klangen diese drei Silben aus ihrem Mund anders, da war eine Vertrautheit, einfach nur, weil es ihre Lippen waren, die sie aussprachen.

„Und die wäre?“ Er blickte zur Tür des Salons, denn er hörte, wie sich jemand näherte. Oder, was wahrscheinlicher war, Rubey, die an der Tür lauschte. 

„Was hatten Sie sich gedacht, sollte ich wohl als Entschädigung für mein Verhalten anbieten?“

Er stand stocksteif da, starrte sie an. „Ehem...“

„Denn schließlich“, fuhr sie fort, noch als das Rütteln an der Tür zum Salon hörbar wurde, „geschah nichts hier ohne meine Zustimmung und“, fügte sie hinzu, ihre Augen Dolche, „und alles entsprach meinem ausdrücklichen Willen. Ich sagte doch bitte, nicht wahr?“

Die Tür öffnete sich und Rubey erschien dort. „Dimitri, deine Kutsche ist eingetroffen.“

Wo zum Teufel hatte die so lange gesteckt? 

~*~

Dimitri setzte sich nicht zu Miss Woodmore in die Kutsche. So ein großer Narr war er dann doch nicht. 

Stattdessen schickte er sie in der Obhut von Tren zurück nach Blackmont Hall, der im Übrigen sehr erleichtert war, sie beide wohlbehalten zu sehen. Dann musste er sich noch mit der überaus neugierigen Rubey auseinandersetzen und diese überreden, ihm ihre Kutsche zur Verfügung zu stellen.

Er musste jemandem noch einen Besuch abstatten. 

Weil es wieder einmal einer dieser grauen, nebligen Tage so typisch für London war, konnte er mühelos vor Lennings Gerberei aus der Kutsche aussteigen und sogleich unter das Vordach aus Holz schlüpfen, das sich vor dem Antiquariat aus der Fassade streckte. 

Für einen Moment zögerte er, spähte durch das Fenster in den Laden, war sich darüber im Klaren, dass einzelne Sonnenstrahlen fast durch den Nebel gelangten, und es ihn an seinem Nacken zwischen Hut und Kragen gefährlich kitzelte. Das Ladeninnere schien trübe und verlassen, und ihn überkam auf einmal die Angst, Wayren könnte auf immer verschwunden sein.

Aber als er an der Türe schob, öffnete diese sich, und er trat ein. Dimitri tat einen tiefen Atemzug, von dieser friedvollen, staubigen Luft, und dann schloss er die Tür hinter sich. Kein Laut war hier zu hören, und die einzige Beleuchtung kam aus einer entfernten Eckes des Ladens. Es war ein weiches, orangegelbes Leuchten, in dem die Staubflocken, die er aufgewirbelt hatte, sichtbar tanzten. 

Es überkam ihn ein seltsam merkwürdiges Gefühl, als er die Stille durchbrach und nach der Ladeninhaberin rief. Oder vielleicht befürchtete er, sie wäre nicht mehr da, und er müsste weiterhin alleine mit seiner Verwirrung und ohnmächtigen Wut fertig werden. 

Als er das leise Geräusch eines Fußes auf dem Boden hörte, dem das leise Rascheln eines Kleides dann folgte, tat Dimitris Herz einen Sprung, und er drehte sich um.

Wayren kam gerade um eine Ecke. Interessanterweise kam sie aber nicht von dort, wo das Licht brannte, sondern aus den Schatten einer ganz anderen Ecke. Heute hielt sie kein Buch in den Händen und trug auch keine Brille. 

„Da bist du also wieder“, sagte sie, und betrachtete ihn aufmerksam.

Dimitri nickte. Sein Mund schien sich nicht bewegen zu können, noch gab ihm sein Kopf die Worte vor, die er brauchte um zu sprechen. Er wusste nicht, was sagen – oder wie fragen. 

Sie wartete. Friede und Heiterkeit strahlten von ihr aus, zusammen mit dem Duft von etwas Warmen und Tröstlichen. 

„Du warst dort“, sagte er schließlich. „Ich habe aufgehört ... wegen dir.“

Ihre Augen betrachteten ihn immer noch, darin war nur Friede zu sehen. „Du hast von selbst aufgehört, Dimitri von Corvindale.“

Er schüttelte den Kopf, dieser schwarze Quell der Ungewissheit verbreitete sich gleich Teer in seinem Inneren. „Wenn du mir nicht erschienen wärst ... hätte ich sie getötet. Ich hätte genommen und genommen, ich hätte sie bis zum letzten Tropfen ausgesaugt.“ Es war eine jäh aufblitzende Vision, glasklar, als stünde sie direkt vor ihm, die in sein Trinken von Maia eingedrungen war. Das friedvolle Gesicht mit den heiteren, klaren, blaugrauen Augen war durch die rot eingefärbte Welt aus Trieb und Lust gedrungen, verschafften ihm Erleichterung in seiner Verzweifelung. Gaben ihm eine Frist der Gnade. 

„Wie ich schon sagte, du hast von selbst aufgehört. Ich habe nichts getan.“

„Aber du bist mir erschienen.“

Sie hob zur Antwort nur ihre Augenbrauen, sagte nichts, und er begriff, dass er von ihr keine Bestätigung erhalten würde. Sie schien zu wissen, wovon er sprach, aber das war auch alles, was sie hier zugestand. Ich kann nichts für dich tun, hatte sie einmal gesagt. 

Sie hatte etwas getan.

Aber es hatte nicht ausgereicht. Wo war sie gewesen, als er zum ersten Mal von Luzifer vor die Wahl gestellt wurde? Warum hatte sie ihn da nicht abgehalten?

Wayren schaute ihn an, fast so, als könne sie seine Gedanken lesen. „Du hattest damals eine Wahl, Dimitri. Du hast die Entscheidung damals aus freien Stücken getroffen.“

„Ich war schwach. Er hat meine Schwäche ausgenutzt“, erwiderte Dimitri. Aber selbst für ihn, klangen seine Worte hohl und leer. Selbst damals hatte er gewusst, dass etwas nicht richtig war. Falsch. Etwas Böses. Er hatte gezögert, ja, aber dann hatte er sich hereinlegen lassen, in dem Moment hatte seine Verzweiflung ihn beherrscht. Vielleicht hätte Meg ja trotz allem auch so überlebt. Und Luzifer hatte das womöglich auch gewusst.

„Ja, Dimitri. Das tat er. Das ist genau das, was der Satan tut.“ Trotz ihrer Worte beobachtete Wayren ihn weiterhin mit diesem friedvollen, heiteren Gesichtsausdruck. „Er macht es dir leicht, nur seinen Weg zu sehen. Er nutzt seinen Vorteil aus.“

Genau wie ich es tat.

Das Bild von Maias gelöstem Gesichtsausdruck, lustvoll entspannt, so voll von einem Frieden, den sie gefunden hatte, tauchte in seinem Kopf auf. Er schob es weg.

Es war zu spät. Er hatte gelogen, als er Maia sagte, alles bliebe wie vorher. 

Nichts blieb wie es war.

„Und so waren nun all diese Jahre meiner Entsagung und Kasteiung vergeblich“, sagte er. „Es ist alles aus.“

Sie sah ihn suchend an. „Wirklich?“

„Natürlich, wie kann es nicht so sein?“, antwortete er, wütender, als er es je bei ihr gewesen war. „Wie kann ich erwarten, den Pakt zu brechen, mich vom Teufel loszusagen, wenn ich mich wie der Teufel verhalte, zu dem Er mich gemacht hat? Wenn ich von Leuten nehme, von ihnen trinke, ihnen das Leben selbst aus dem Körper sauge, wie kann ich da je wieder menschlich, ein Mensch, sein?“ 

„Du hast also zum ersten Mal in Jahrzehnten von einem Sterblichen getrunken, und jetzt glaubst du, dass diese Tat dir die Chance genommen hat, dich vom Teufel loszusagen? Oh, in der Tat, ich sehe, wie ein Jahrhundert der Entsagung, dich wirklich an das Ziel deiner Wünsche gebracht hat.“

Schweigend starrte er sie zornig an. Sie sah ihn mit einer Art herausfordendem Gesichtsausdruck an, den er noch nie bei ihr gesehen hatte. „Du verstehst nicht“, sagte er verbittert. „Ich habe von einem Menschen getrunken. Ich habe ihr Blut getrunken. Ich–“, die Stimme versagte ihm, als das Wasser ihm wieder im Mund zusammenlief. Selbst jetzt konnte er die körperliche Reaktion seines Körpers, den er so lange kasteit hatte, nicht unterdrücken. Er konnte es immer noch schmecken. Fühlte die Energie, das Leben durch ihn strömen. „Es ist Missachtung. Es ist eine Sünde.“

„Aber diese Entsagung, was hat sie erreicht, außer dich als kalte, harte, leere Hülse zurückzulassen? Auch das kann man nur schwerlich als Menschen bezeichnen?“ 

Schockiert und zutiefst beschämt fühlte Dimitri, dass er blinzeln musste. Er kniff sich mit zwei Fingern wütend an der Nasenwurzel, bevor die Tränen wirklich kamen. „Meine ... Abneigung, was Geselligkeit und Gesellschaftsleben betrifft, hat nichts mit dem Problem hier zu tun. Ich war noch nie ... sonderlich gesellig.“

„Hast du die Geschichte gelesen, die ich dir gab?“, fragte Wayren.

Dimitri runzelte die Stirn, blinzelte immer noch verzweifelt. „Das Märchen über das Biest? Ein bisschen. Ich fand darin nichts, was mir helfen könnte.“

„Wirklich nicht?“

Ungeduld packte ihn, und er wischte alles mit einer zornigen Geste rasch weg. „Es tut mir Leid, dich gestört zu haben. Ich dachte...“ Er schüttelte noch einmal seinen Kopf, bitter, presste die Lippen aufeinander. 

„Dimitri von Corvindale“, sagte Wayren. Ihre Stimme war jetzt ganz sanft. „Wenn du wirklich wieder menschlich, ein ganzer Mensch, sein willst, der nicht mehr an Satan gefesselt ist – dann musst du dir auch wieder zugestehen zu leben. Zu fühlen.“

„Ich fühle“, knurrte er.

„Tust du das? Oder knurrst du nur und fauchst – wie du es heute hier getan hast – und rennst dann in die entgegengesetzte Richtung, sobald irgendetwas dein Herz zu erweichen droht?“

„Earls rennen nicht“, warf er empört ein, aber in ihm kam etwas in Bewegung.

Sie lächelte. „Nein, dieser wohl nicht. Stattdessen schließt du dich ein, in deiner selbstgemachten Festung mit Mauern aus Stein, damit niemand an dich herankommt, damit du auf gar keinen Fall Gefahr läufst, je etwas zu empfinden.“

Es war sicherer so. Einfacher. Weniger kompliziert. „Ich schließe mich ein, damit ich forschen kann“, sagte er. Aber selbst in seinen Ohren klangen die Worte hohl. „Ich möchte nicht gestört werden.“

Wayren schenkte ihm ein trauriges, sanftes Lächeln. „Aber deswegen sind die Menschen hier auf Erden. Eben um gestört zu werden. Um zu fühlen. Zu leben. Zu lieben. Und ... um geliebt zu werden. Das ist es, was euch von jeder anderen Kreatur unterscheidet. Und das macht den Menschen auch letztendlich stärker als Satan selbst. Begreifst du das nicht? Er hat dir deine Seele genommen und damit zugleich auch deine ureigene Menschlichkeit. Eben genau jener Teil von dir, der dich retten könnte.“

Sein Magen verdrehte sich leicht, und sein Schädel pochte. Maias Gesicht sickerte ihm in seine Erinnerungen und wurde dann von Meg verdrängt. Und Lerina. Er schüttelte abwehrend den Kopf, aber im selben Moment, setzte sich etwas Kleines, sachte, in seiner Brust in Gang. Wärmte ihn. Etwas, was er schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gespürt hatte.

Wayren beobachtete ihn. „Wie du wünschst, Dimitri von Corvindale, ich wünsche dir das Allerbeste.“ 

~*~

Auf der Fahrt zurück von dem Haus von Rubey, mit ihren scharfen Augen, denen wenig entging, und zu Corvindales Wohnsitz, versuchte Maia ihren Kopf einfach nichts denken zu lassen. Sie musste über so viel nachdenken, musste sich über so viele Gefühle klar werden, und musste sich entscheiden, mit welchen davon sie sich auseinandersetzten sollte, dass sie das lieber erst angehen wollte, wenn sie sicher zu Hause und alleine in ihrem Zimmer war. 

Vorzugsweise während sie sich nochmals badete, wobei sie dann auch alle Spuren von dem Zwischenspiel in Rubeys Salon von sich abwaschen konnte.

Sie zitterte, eine kleine warme Flamme flackerte in ihr auf. Diese Episode reichte schon vollauf, um sie und ihre Gedanken heillos ins Chaos zu stürzen. Aber sie durfte jetzt nicht daran denken. Daran: Es bleibt alles wie zuvor. Wir werden nie hierüber sprechen. Alles verleugnen. 

Ihr Mund wurde hart. Corvindale war wirklich nicht bei Trost, wenn er dachte, alles wäre wie zuvor. 

Als die Kutsche vor Blackmont Hall zu stehen kam, fiel Maia als Allererstes auf, dass dort eine weitere, ihr wohlbekannte Kutsche stand. Ihr Magen flatterte wild. 

Alexander.

Als müsste sie sich nicht schon mit genug anderem herumschlagen. Sie biss sich auf die Lippen und öffnete die kleine Tür hinter dem Fahrer und bat diesen, sie nach hinten zum Dienstboteneingang zu fahren. 

So etwas Unerhörtes tat man natürlich nicht. Eine Dame vornehmer Abkunft durch den Dienstboteneingang. Aber das wäre immer noch der Option vorzuziehen, Alexander erklären zu müssen, warum ihr Haar völlig unfrisiert war und woher diese vier kleinen Bisswunden an ihrem Hals stammten. Und an ihrer Schulter. Und an ihrem Handgelenk, das seit gestern kein Handschuh mehr bedeckt hatte.

Also schlüpfte sie durch den Hintereingang ins Haus, durchquerte die warme Küche, ging Flure entlang, die nicht mehr ganz so trübsinnig aussahen wie vor Maia und Angelicas Ankunft hier. Zumindest waren seit ihrem Eintreffen nicht mehr bei allen Fenstern die Vorhänge zugezogen. 

Maia ließ Alexander unten Nachricht zukommen, dass sie wohlbehalten eingetroffen war und ihn bat, später am Nachmittag wiederzukommen. Sie bräuchte jetzt erst einmal etwas Ruhe.

Kaum hatte sie ihre Zofe mit dieser Aufgabe losgeschickt und mit dem Auftrag, ein Bad vorzubereiten, als auch schon ein stürmisches Klopfen an der Tür zu hören war. Bevor Maia hinspringen konnte, um die Tür zu verriegeln, denn sie kannte ihre Schwester nur zu gut, stand diese auch schon im Zimmer. 

„Maia! Oh, dem Himmel sei Dank, du bist wieder da!“ Sie warf sich Maia in die Arme und warf diese dabei auch fast rückwärts auf das Bett, denn Angelica war nicht nur sehr aufgewühlt, sie war auch einfach etwas größer und schwerer als ihre Schwester. „Bist du verletzt? Was ist geschehen?“

„Ich bin überhaupt nicht verletzt“, erwiderte Maia, „abgesehen davon, dass du mir gerade die Luft und vieles mehr abdrückst.“

Ihre Schwester ließ sie los und tat einen Schritt zurück. „Besser so?“, fragte sie. Und dann erstarrte sie vor Schock. „Ist das auch das, was ich denke? An deinem Hals?“

Maia berührte die Bisswunden, die ihre Schwester leider gesehen hatte. „Wenn du das hier für einen Vampirbiss hältst“, sagte sie wesentlich leiser als Angelica, „so hast du Recht.“

„Einer von Moldavis Vampiren?“, fragte Angelica und setzte sich neben ihr auf das Bett. „War es fürchterlich? Haben sie dich entführt? Alles, was ich Corvindales Nachricht entnehmen konnte, war, dass man dich wohlbehalten gefunden hat.“

„Ja, es geht mir gut, und ich bin unverletzt. Hast du Nachricht von Chas erhalten?“, fragte sie und versuchte, Angelica damit von den Vampirbissen abzulenken.

„Chas hat sich noch nicht persönlich gemeldet, aber er hat Nachricht gesandt. Er wird bald hier eintreffen. Alexander ist unten.“

„Ich weiß, aber ich habe ihm ausrichten lassen, dass ich ihn heute Nachmittag empfangen würde. Ich muss ... mich erst einmal zurechtmachen.“

„Er hat sich geweigert zu gehen. Er sagt, er wird hier warten, bis du bereit bist, zu ihm herunterzukommen.“

Maia schloss die Augen. Edelmütig. So edelmütig. „Es wird eine Weile dauern, bis ich herunterkommen kann. Vielleicht kannst du ihm das ausrichten, dass es mir gut geht, aber dass ich mich erst zurechtmachen muss.“

„Ich tue mein Bestes, aber er ist genauso starrköpfig wie du.“ Angelica schaute sie scharf an. „Was ist mit dir geschehen, Maia? Woher hast du diese Bisse?“

„Ich möchte darüber nicht sprechen“, entgegnete sie, ihre Stimme entschlossen. „Aber ich möchte jetzt ein Bad nehmen.“

Trotz der Proteste von Angelica und deren Fragen schaffte Maia es, sie mit einer Botschaft an Alexander aus dem Zimmer zu schicken. Dann ließ sie sich in ihr zweites Bad an dem Tag gleiten, das auch von einem zweiten, verwirrten Tränenausbruch begleitet wurde. 

Was sollte sie nur Alexander erzählen? Wie könnte sie ihn heiraten – nach dem, was mit Corvindale passiert war? Wie konnte sie ihn heiraten, wenn sie in einen anderen Mann verliebt war? 

In einen anderen Mann verliebt.

Diese Worte sprangen ihr aus dem Strudel ihrer Gedanken entgegen, und setzten sich unerbittlich in ihrem Kopf fest. Maia hielt inne, Badewasser und Tränen vermischten sich und flossen ihr über das Gesicht. 

In einen anderen Mann verliebt, der zufällig auch ein Vampir war.

Wie konnte sie in ihn verliebt sein? Der Gedanke war absurd. Er war unhöflich und arrogant, und er redete unerhört laut mit ihr und stritt sich über alles und jedes. Er war herablassend. Er war beleidigend. 

Er küsste sie. Oh, wie er sie küsste.

Er stritt sich mit ihr, aber dennoch: er ignorierte sie nicht. Bei all den ärgerlichen Bemerkungen, die er unablässig fallen ließ, schien er ihr doch stets zuzuhören. Er war ein Mann von Ehre. Intelligent. 

Er konnte niemals mit ihr ein Picknick unter offenem Himmel machen. Er konnte niemals mit ihr ausreiten oder sie tagsüber irgendwohin begleiten. 

Aber die Art, wie er sie anschaute ... etwas in seinen Augen. Etwas ... Hilfesuchendes. Etwas Verlorenes. Etwas verbarg sich dort.

Sie ließ ihre Hände in das warme Wasser gleiten, das nach Lilien und Vanille duftete, und das jetzt ein bisschen über den Rand schwappte. 

Was für eine abstruse Idee. Dass sie in einen Vampir verliebt war. In den Earl.. In den Mann, der ihre Gegenwart kaum ertrug. 

Und wenn sie in ihn verliebt war – wahrhaftig verliebt war, und wie sollte das denn möglich sein, wahrhaftig? Und wenn, was für einen Unterschied machte es schon? Er konnte sie ja nicht lieben. Und...

Sie war dabei, Alexander zu heiraten. Einen guten Mann. Der sie möglicherweise liebte, in jedem Fall aber respektierte. Selbst wenn seine Küsse langweilig waren und die Gespräche mit ihm nicht annähernd so interessant, ja, so explosiv, wie die mit Corvindale. 

Die Hochzeit war ... grundgütiger Himmel ... morgen!

In der Aufregung um Corvindales Verschwinden und Maias eigener Entführung und Wiederkehr ... hatte sie ihr Zeitgefühl verloren. Ihre Vermählung mit Alexander war für morgen vorgesehen gewesen. Kein Wunder ließ er sich nicht abwimmeln. 

Maia biss sich erneut auf die Lippen und stellte fest, dass diese schon ganz wund waren, von all dem sorgenvollen Knabbern daran ... und vielleicht auch von den wüsten Küssen von heute Morgen. Sie schloss die Augen, eine warme Erinnerung strömte durch sie hindurch. Lust stach ihr in den Bauch. 

Was würde sie tun? Sie hatte die Hochzeit schon einmal verschoben, als Corvindale verschwunden war, aber da er jetzt wohlbehalten zurückgekehrt war, und sie ebenso ... mussten sie einen Tag festsetzen.

Was soll ich nur tun?

Die Wahrheit kam bitter über sie. Sie musste Alexander heiraten. Dank dem Earl war sie jetzt kompromittiert. Vielleicht trug sie auch schon sein Kind unter dem Herzen.

Bei dem Gedanken wurde ihr abwechselnd heiß und kalt. Und dann erfasste sie rasender Zorn, dass Corvindale beabsichtigte sich freizukaufen, indem er ihr zur Hochzeit eine Mitgift schenkte, nachdem er sie kompromittiert hatte. Um für das Kind zu bezahlen, sollte es eins geben. 

Ein Kind, das man dann Alexander als seins unterschieben würde. 

Alles bleibt wie zuvor. 

Wie konnte er es wagen, etwas Derartiges zu sagen? Vielleicht war für ihn alles geblieben wie zuvor, aber für sie? Alles, aber auch alles hatte sich geändert.

Sie hatte etwas unvorstellbar Törichtes getan, aber ... sie würde es wieder tun. Es war unmöglich gewesen, sich dort zurückzuziehen, es abzubrechen. Sie wollte ihn, brauchte ihn ... auf diese Art. 

Was sie miteinander geteilt hatten, war... Sie zitterte, Hitze blühte erneut in ihr auf. Es war wie in ihren Träumen. Aber besser. Echt.

Maia setzte sich auf, in Gedanken ordnete sie, fand sie, sah sie. Das Herz stand ihr still, ihr Atem stockte. Ihre Träume. Davon, mit einem Vampir zu schlafen.

Es war er gewesen. Corvindale.

In ihren Träumen, die ganze Zeit über war es Corvindale gewesen.

Sie hatte von ihm geträumt, seit sie den Fuß in dieses Haus gesetzt hatte. Und ihr letzter Traum, der Traum, der sie so erschreckt hatte, der voll gewesen war, von Finsternis und Schmerz und Rot ... das war gewesen, als er von Lerina gefangen gehalten worden war.

Gab es irgendwie eine besondere Verbindung zwischen ihnen? Über ihre Träume? Hatte sie geträumt, was er gerade erlitt? Oder, was er ... träumte?

Sie schüttelte den Kopf, zitterte. Die Wege des Zweiten Gesichts sind sonderbar.

Und urplötzlich wünschte Maia sich, Oma Öhrchen wäre noch hier, so dass Maia sie nach ihren Träumen befragen könnte und den Verbindungen... Sie schloss die Augen und schürzte ihre Lippen. Es gab jetzt andere Probleme zu regeln.

So wie das, was sie heute mit Corvindale getan hatte, äußerst leichtsinnig gewesen war. Sie hätte sich kompromittieren können, und damit auch ihre gesamte Familie. Alexander verletzen.

Aber ... trotz der Art und Weise, wie er damit umgegangen war, diese abscheuliche, kalte, Earl-hafte Art ... hätte sie es wieder getan. Würde sie es wieder tun. Es war richtig gewesen, obwohl alles darum herum ihr falsch erschien. 

Das Wasser war kalt geworden, und ihre Hände und Füße waren schon ganz runzlig, wie ein zerknittertes Seidengewand. Und Maia wusste immer noch nicht, was sie tun sollte.

Logik, die guten Sitten, alles, was ihr je beigebracht worden war, sagten ihr, dass sie Alexander heiraten musste. Es gab wirklich keinen guten Grund, es nicht zu tun, und jede Menge Gründe dafür.

Wenn man eine Verlobung löste, und noch dazu so kurz vor der Hochzeit, dann gäbe es einen riesigen Skandal. Einer von ihnen beiden würde die Schuld auf sich nehmen müssen, und es wäre entweder Maia – die dann kompromittiert wäre – oder Alexander, der dann zum Narren gemacht wurde. Sie wollte weder das eine noch das andere, aber sie wollte Alexander auch sicherlich nicht zum Sündenbock machen oder ihm Hörner aufsetzen. Und genau das würde sie tun, wenn sie die Verlobung nicht löste.

Und wenn er die Nachricht publik machte, was in diesem Fall sein gutes Recht wäre, Würde das Maia als loses Frauenzimmer abstempeln. Ihr Ruf wäre ruiniert, und sie würde niemals heiraten und wahrscheinlich auch aus der besseren Gesellschaft ausgestoßen werden. 

Und wenn sie ein Kind trug, würde es noch schlimmer werden.

Übelkeit überfiel sie. Wie konnte etwas, das so wunderschön gewesen war, das sich aus tiefster Seele richtig angefühlt hatte, solche schrecklichen Konsequenzen haben?

Sie schüttelte den Kopf. Alexander zu heiraten, wäre gar nicht so schlimm.

Im Gegenteil, es wäre gut. Es würde nett sein, und es war das einzig Richtige. 

Sie erhob sich aus der Badewanne. Es war Zeit, hinunterzugehen und ihn zu sehen.

~*~

Dimitri öffnete die Augen, um dort an seiner Brust die Spitze eines Holzpflocks zu erblicken. 

„Tu es“, sagte er und blickte in der Dunkelheit hoch, in das finstere, wütende Gesicht von Chas Woodmore. Er verschloss die Augen vor dem spärlich beleuchteten Zimmer, das sich um ihn zu drehen schien. Er wartete. Und hoffte. Setz dieser Pein endlich ein Ende.

Der Druck an seiner Brust ließ nach. „Öffne die verdammten Augen, Dimitri. Ich möchte es aus deinem Mund hören.“

Er zwang sich dazu, die Augen wieder zu öffnen, und das Zimmer kippte bedrohlich. Er schloss sie wieder, schmeckte immer noch den Blutwhisky auf der Zunge und auf den Lippen, roch ihn an den Händen und auch noch in der leeren Flasche auf dem Schreibtisch vor ihm. Sein verschwommener Blick verriet ihm, dass es draußen allmählich dämmerte, aber dass die Welt immer noch in nächtliche Stille getaucht war. Er befand sich in seinem Arbeitszimmer, was gut war, denn das war auch das Letzte, woran er sich erinnerte. Sich hier niederzulassen mit zwei – vielleicht waren es auch drei – Flaschen von dem Zeug. Genau zu Sonnenuntergang. Die Geräusche, die Gerüche, die Erinnerungen, die Finsternis darin ertränkt zu haben.

Es war zwei Tage nach Dem Vorfall bei Rubey. 

Zwei Tage, nachdem sich alles verändert hatte. 

„Was hast du meiner Schwester angetan?“, sagte Chas. Seine Stimme war heiser vor Zorn und voller Abscheu. Er stand Dimitri am Schreibtisch gegenüber, nur eine Armeslänge entfernt. „Ich habe dir vertraut.“

„Es gibt keine Erklärung für das, was vorgefallen ist. Es ist dein gutes Recht, die Dinge hier und jetzt zu beenden.“ Dimitri schlug hilfsbereit seine Weste zur Seite, zurück blieb nur das Hemd. „Ich werde mich nicht wehren, Chas. Ich bitte dich nicht einmal darum, es schnell hinter uns zu bringen. Nur tu es, verdammt noch mal. Ich warte schon lange darauf.“

„Der Teufel hole dich, hast du heute Nacht die ganze Flasche ausgetrunken?“ Es klirrte leise, als Chas sie hochhob, um den Inhalt zu überprüfen.

„Nein“, sprach Dimitri. „Zwei.“ Seine Augen fielen wieder zu. Die Besinnungslosigkeit war herrlich.

Mehr Geklirre und das Rascheln von Büchern und Papier. „Was zum Teufel tust du da, Corvindale?“, fragte Chas ihn zornig.

„Warten. Was in der verdammten Hölle hält dich denn noch zurück? Du warst nie so langsam wie jetzt.“ Seine Augen bleiben geschlossen.

„Was hast du Maia angetan?“

Mit voller Absicht wählte Dimitri die vulgärsten Worte aus. „Ich habe sie gefickt. Ich habe sie missbraucht. Ich habe verdammt noch mal von ihr getrunken.“ Er versuchte sich zu konzentrieren. „Aber sie wird Bradington heiraten. Niemand wird davon erfahren. Und du wirst mich pfählen. Bald. Jetzt, hoffentlich.“

„Und wenn sie schwanger ist?“

„Ich bete, dass sie es nicht ist. Es ist nicht sehr wahrscheinlich.“ Aber, oh Schicksalsgöttinnen, es war möglich.

„Aber wenn sie es ist ... dann kann Luzifer das Kind einfordern.“

Übelkeit stieg jäh in Dimitri auf, und er musste mehrmals schlucken. Als ob der Gedanke ihn nicht schon heimgesucht hätte, ihm im Whiskynebel seines Hirns herumgegeistert wäre, ihm den Magen verdreht hätte. Ihn tagelang und nächtelang verfolgt hatte, bis in seine Träume.

Stille.

Dimitri öffnete die Augen und erblickte Chas über sich. Mitleid schien den abgrundtiefen Ekel dort ersetzt zu haben, aber die eiskalte Wut war immer noch zu sehen. Worauf zum Teufel wartete er denn? Dimitri hätte nicht gewartet. Er hätte den Pflock schon längst hineingerammt. „Ich habe es von Rubey erfahren“, sagte Chas und beantwortete Dimitri damit eine Frage, die diesem eigentlich gleichgültig war. „Nicht von Maia. Sie hat nichts erzählt. Zu niemandem.“

Dimitri setzte sich in seinem Stuhl auf und blinzelte. Anscheinend musste er noch ein zivilisiertes Gespräch führen, bevor der Mann ihn tötete. „Es gibt verdammt noch mal nichts, was ich tun könnte, um daran etwas zu ändern“, sagte er. „Es ist geschehen. Ich habe eine Mitgift für sie–“ 

„Sie braucht keine verdammte Mitgift von dir“, sagte Chas. „Und ganz sicher gibt es nichts, was du tun könntest. Wenn du ein Sterblicher wärst, würde ich dich schon morgen vor den Altar gezerrt haben, weil ich zumindest weiß, dass du ihr nie wehtun würdest. Aber unter keinen Umständen wirst du sie je wieder anrühren.“

Dimitris Lachen war bitter. „Das wird nie wieder geschehen.“

„Sehr gut. Das Traurige daran ist, dass ich dir glaube, Dimitri.“ Chas schob den Pflock wieder zurück in seine Innentasche. „Ich kam aus einem anderen Grund. Außer diesem hier, nämlich dich zu töten.“

„Aber du hast mich nicht getötet, du verfluchter Scheißkerl“, sagte Dimitri verbittert.

„Nein, und ich denke, ich werde es auch nicht tun. Es ist klar, dass dich zu töten, all das hier für dich viel zu leicht machen würde. Abgesehen davon werde ich dich vielleicht brauchen, eines Tages. Du stehst in meiner Schuld.“

„Warum bist du hier?“

„Ich werde Sonia besuchen, in Schottland. Ich werde sehen, ob sie bereit ist, ihre Gabe zu nutzen, und mir etwas über Moldavi erzählt. Damit wir ihn ein für alle Mal los sind. Narcise wird niemals frei sein, solange er am Leben ist.“

Dimitri spürte, wie Interesse in ihm aufkeimte. „Sonia hat eine andere Gabe als Angelica. Sie könnte es tun. Sie könnte uns hier eine Hilfe sein.“

„Aber sie will nichts mit ihrer Gabe zu tun haben“, sagte Chas. „Ich kann sie hoffentlich dazu überreden. Sie überzeugen, dass es wichtig ist.“

Dimitri setzte sich auf, schüttelte vorsichtig seinen Kopf, um die Nebelschwaden darin etwas zu lichten. „Begleitet Narcise dich?“

„Ja.“ Woodmore sah ihn an, schien etwas sagen zu wollen, aber tat es dann nicht. „Wir brechen morgen früh auf. Ich werde zu Maias Hochzeit vielleicht nicht zurück sein.“

Maias Hochzeit. Anfangs hatte er befürchtet, irgendetwas würde passieren, und die Hochzeit würde einfach abgeblasen werden, aber Dimitri wusste, dass sie jetzt nur um zwei Wochen verschoben worden war, der Tag stand fest. Viel zu lange bis dahin. Aber zumindest würde sie stattfinden. Zumindest wäre sie dann nicht mehr in seiner Verantwortung. Nicht mehr in Reichweite.

„Weiß sie davon?“

„Nein. Das ist ein Teil von dem, was du mir schuldest, Corvindale. Du wirst es ihr sagen ... und meinen Platz einnehmen, sie zum Altar führen und sie dem anderen zur Ehe reichen.“

„Lass verflucht noch mal mich an deiner Stelle nach Schottland gehen“, schlug Dimitri vor.

Die Antwort von Chas war ein Lachen, genauso bitter wie das von Dimitri. „Nein, du wirst hier bleiben und gewährleisten, dass meine Schwester heiratet, und es nicht den kleinsten, verdammten Hauch von einem Skandal gibt. Und wenn du Bradington dafür zum Altar schleifen musst, wenn du die halbe Londoner Gesellschaft mit dem Bann belegen musst, du wirst dafür sorgen, dass es passiert. Das ist der glücklichste Tag in ihrem Leben ... du verfluchter Scheißkerl. Du schuldest mir was, Dimitri. Du hast mein Vertrauen missbraucht, du hast deine verdammten Vampirhände – und die Zähne – nicht von meiner Schwester lassen können, als sie in deiner Obhut war. Du schuldest mir verdammt noch mal was. Wenn wir uns nicht schon so lange kennen würden, wenn ich dir nichts schulden würde, wärst du jetzt schon tot.“

Niemand hatte je so zu Dimitri gesprochen und das Gespräch auch noch überlebt. Aber diesmal tat er nichts. Chas war im Recht.

„Ich werde es tun. Sehr gerne.“ Er konnte es kaum erwarten, Maia Woodmore loszuwerden.