DREI

~ In welchem dem Karobuben etwas äußerst Unangenehmes widerfährt ~

Dimitri konnte nicht atmen. 

Sein Blut schien auf einmal zu brodeln, raste mit Wucht durch ihn, er konnte nicht mehr klar sehen, war wie betäubt.

Nach dem langen Leugnen seiner Instinkte, explodierte der Drang plötzlich mit aller Kraft in ihm. Seine Finger zitterten, seine Zähne drohten in kompletter Länge sichtbar zu werden, wölbten sich in seiner Mundhöhle. Er musste die Augen schließen, um das hungrige, rote Glühen vor Miss Woodmore zu verbergen.

Dummer, verdammter, idiotischer, wahnsinniger Bastard. 

Was in Luzifers Hölle hatte er sich nur dabei gedacht, eine Frau wie sie in eine dunkle Ecke mitzunehmen? Ganz besonders eine Frau, die ihn sowohl zur Weißglut als auch schlicht in den Wahnsinn trieb?

Aber er war keines klaren Gedankens mehr fähig. Sie zerstoben wie ein Häufchen Staub in einem Windstoß, als ihre behandschuhte Hand an seiner Krawattennadel aus buntem Glas zu ruhen kam. Irgendwie größer, hob sie das Gesicht genau richtig, genau so viel wie nötig, und platzierte sich genau dort. Da bei ihm. 

Der Wasser lief ihm im Mund zusammen. Ihm war heiß unter der Maske. Es lag so lange zurück, dass er eine Frau hatte küssen wollen. Er versuchte, dagegen anzukämpfen, aber das Mal an seiner Schulter wütete und brannte noch heißer, erinnerte ihn daran, wie lange er schon unnötig so enthaltsam gewesen war. Ihre Lippen luden ihn ein, voll und rosa, und er wollte herausfinden, ob sie ebenso süß und köstlich schmeckten, wie sie aussahen. Der grauenvolle Schmerz brannte jetzt noch stärker, als Luzifer seine Zweifel spürte, er setzte sich fort bis hinunter in Dimitris Beine und dann wieder nach oben zur Schulter.

Von endlosem Schmerz gepeinigt, überwältigt von Verlangen und dem lang unterdrückten Drang konnte er nicht anders als, sich über sie zu beugen und seinen Mund auf ihren zu legen. 

Sie umgab ihn: ihr würziger, süßer Duft, ihr selbstischeres Auftreten, ihre kleinen Hände, der kleine See, den ihr Gewand um seine Füße herum bildete, ihr Mund ... der ihn wahnsinnig machte und dann wieder neckte, mit dieser Oberlippe, die ein kleines bisschen voller war als die untere ... wurde weich, passte sich seinen Lippen an und fuhr an ihnen sanft entlang, und hauchte ihm dort Verlangen auf seine eigenen, zitternden Mund ... und dann löste sie sich.

Er wollte jetzt aber mehr und war nicht mehr ganz Herr seiner selbst. Erneut fand er ihre provozierenden Lippen und trank sich noch einmal an ihnen satt, lang und ausgiebig. Sie ließ ein leises, köstliches Seufzen hören, wobei Begehren erneut wie eine Stichflamme in seinen Eingeweiden aufbrannte, ihre Lippen hingen nun mit aller Kraft an seinen. Die Welt war rot und heiß, und der Duft ihres blumigen Parfüms füllte Dimitri die Sinne. 

Vielleicht war es das – das Wiedererkennen ihres aufreizenden Duftes, die Vertrautheit und damit verbunden auch das Verbot –, was es ihm ermöglichte, nach dem letzten bisschen Kontrolle zu schnappen und sich endlich von ihr zu lösen. Gott und alle Schicksalsgöttinnen, nicht sie. 

Niemand, aber sie schon gar nicht. 

Seine Finger verkrallten sich ineinander, er spürte sie durch den Stoff seiner Handschuhe. Er trat zurück, das Herz hämmerte ihm bis zum Hals, er atmete viel zu laut. Seine Reißzähne waren völlig außer Kontrolle und kämpften darum, frei zu sein, und er musste sich abwenden, seine Augen schließen, damit Maia ihn nicht als den Dämon erkannte, der er war. 

Nachdem er sich wieder fest – aber nicht so ganz eisern wie sonst – in der Gewalt hatte, bannte er die Hitze und die Süße, die er gerade gekostet hatte, aus seinen Sinnen, schluckte schwer. Versuchte nicht zu tief einzuatmen, aus Angst, er würde wieder von vorne beginnen, wenn er sie roch.

Und der kleine Riss, der sich in seiner geordneten Welt gebildet hatte, schloss sich augenblicklich wieder.

Panik überkam ihn, beim Gedanken, was sie wohl in seinen Augen sehen würde. Er stellte unendlich erleichtert fest, dass auch sie sich ein wenig zur Seite gewandt hatte. Als er zu ihr hinuntersah, bemerkte er, dass ihre Hand irgendwie immer noch auf seiner Brust lag. Sie selbst schien ihren eigenen Kampf um Kontrolle zu führen. 

Oder, was eher der Fall sein mochte, um das Gleichgewicht. 

Dimitri war sich nicht sicher, ob er den Champagnerpunsch verfluchen sollte, den sie getrunken hatte, oder ob er dankbar sein sollte, dass der Punsch ihr die Sinne etwas vernebelt hatte. 

„Und damit wären es fünf“, sagte er, erleichtert, dass seine Stimme kühl und gelassen klang. Ganz ohne Gefühle. Er erinnerte sich gerade noch daran, leise zu sprechen, um seine Identität auch weiterhin zu verbergen. Möge das Schicksal mich wenigstens davor verschonen, dachte er. „Ich frage mich, ob Sie beim nächsten Maskenball wohl versuchen werden, das halbe Dutzend der gekosteten Lippen voll zu machen?“

Hier schaute sie zu ihm hoch, und fast hätte er sich wieder über sie hergemacht. Ihre Lippen waren geschwollen und schimmerten feucht, standen ihr überrascht halbgeöffnet, dort am unteren Rand ihrer Maske. Er blinzelte, hielt die Luft an und konzentrierte sich auf den rasenden Schmerz hinten an seiner Schulter. Das war eine willkommene Erinnerung daran, dass in diesem Kampf immer noch er das Heft in der Hand hatte. 

Und immer noch dem Willen des Teufels widerstand. 

Einen Augenblick später ließ sie schon ein leises Lächeln über ihre Lippen huschen, und sie überraschte ihn aufs Neue, als sie erwiderte, „nein, mein werter Herr Bube. Ich denke, es ist ratsam, es bei fünf zu belassen.“

„Ist dem so?“ Er musste ihr seinen Arm anbieten, um sie wieder zum Ballsaal zurückzubringen, raus aus der Versuchung, die hier in diesem abgelegenen Alkoven lauerte. Und weg von dem Gedanken daran, was hier gerade passiert war, 

Er hatte noch etwas Blutwhisky in der Kutsche. Das würde ihn wieder etwas beruhigen, dem wiedererwachten Verlangen die Spitze nehmen. Später könnte er sich irgendwo in Vauxhall heute Abend eine Rauferei leisten. Nach dem Lundhame Ball hatte er sich bei einer Prügelei in St. Giles austoben können, in der er fünf Schurken in den Fluss befördert hatte, nachdem diese auf der Suche nach seinem Geld versucht hatten, ihn mit einem Messer den Garaus zu machen. Man konnte wirklich nicht leugnen, er würde nicht seinen Beitrag dazu leisten, Londons Diebesmilieu aufzuräumen.

„Ja, ich denke ich werde es bei fünf belassen“, erwiderte sie, als sie den Flur entlangspazierten. Sie torkelte jetzt auch nicht mehr wie zuvor. „Es ist bedauerlich, dass die Küsse meines Verl– meines Mannes nie derart berauschend waren. Es wird wohl zum Besten sein, diese Erinnerung als meine letzten, verbotenen Früchte zu betrachten.“

Dimitri versuchte, an gar nichts zu denken, und weigerte sich, ihre zweideutigen Worte wirklich zu verstehen, in ihrer ganzen Tragweite. Er brauchte wahrlich nicht daran erinnert zu werden, dass sie verlobt war. Diese Tatsache hatte überhaupt nichts mit seiner Riesendummheit von heute Abend zu tun; seine Handlungen hatten auch nichts mit Miss Maia Woodmore im Besonderen zu tun. 

Jede Frau hätte ihn derart in Versuchung führen können, denn er gab nur selten den Verlockungen des Fleisches nach. Und selbst dann war es stets kurz und unpersönlich. Und zu Küssen kam es dabei niemals. 

„Nun gut. Also dann“, antwortete er, „Hatschepsut. Hier wären wir wieder im Ballsaal angelangt. Ich überlasse Sie Ihren Tänzen und Ihren Untertanen in dem Wissen, dass es keine Gelegenheit mehr geben wird, Sie zu Küssen, weder für einen Freibeuter oder einen Romeo oder für andere Charaktere.“

Und dann drängte es ihn plötzlich, weit weg von diesem schimmernden, goldenen Gewand und seiner gut geküssten Besitzerin zu sein, und Dimitri gab ihren Arm frei und mischte sich unter den Rest der Gäste, schmeckte schon das Blut und den Alkohol, der auf ihn wartete, sowie die Energie, die ihm unter der Haut juckte. 

~*~

Maia beobachtete den Buben, wie er sich seinen Weg durch den Ballsaal bahnte, erleichtert aber zugleich enttäuscht von seiner Flucht. Die Knie wackelten ihr so sehr, dass sie kaum zu stehen vermochte, und ihre Lippen fühlten sich an, als wären sie zweimal so groß wie sonst. 

Sie zitterten immer noch leicht, wenn sie mit der Zungenspitze darüber fuhr, und sie durchfuhr eine plötzliche, unerklärliche Hitze, wenn sie wieder an den Kuss dachte. 

Wie konnte ich nur so töricht sein? Was ist nur mit mir los?

Aber sie kannte die Antwort bereits, und wieder einmal war Maia allen Schutzengeln dankbar, dass die Maske einen Großteil ihres Gesichts verbarg, ebenso wie für die anderen Teile ihrer Verkleidung. Die Getränke zusammen mit dem berauschenden Wissen, dass niemand ahnen konnte, wer sie war, hatte sie wieder in eben jene leichtsinnige junge Frau von damals verwandelt, die sich vor drei Jahren fast ins Verderben gestürzt hatte.

Dem lieben Gott sei’s gedankt, dass er oder auch das Schicksal oder irgendetwas damals dazwischen gegangen war, und Corvindale damals aufgetaucht war, bevor sie mit Mr. Virgil einen unverzeihlich dummen Fehler beging. Sie hätte sich damals wie heute nur wirklich gewünscht, dass es jemand anderes als ihr derzeitiger Vormund gewesen wäre, der sie gerettet hatte. An die Einzelheiten der Nacht konnte sie sich nur vage oder sehr verschwommen erinnern, aber eine Sache, an die sie sich erinnerte, waren die wütenden, dunklen Augen des Earl.

Aber das war vor drei Jahren gewesen ... was war denn heute Abend mit ihr geschehen?

Hatte sie ihre Lektion etwa nicht gelernt?

Und obwohl sie wusste, dass ihre Leichtsinnigkeit vielleicht etwas Zuviel des guten Champagnerpunsches geschuldet war, blieb da auch die Tatsache, dass sie die letzten Jahre so perfekt sittsam und selbstbeherrscht gewesen war – es nahm sie nicht Wunder, dass es unter ihrem goldenen Mantel der Anonymität heute so geknistert hatte. Wenn Angelica auch nur ahnte, was sie so bei sich dachte ... Sie hoffte, dass Angelica vernünftig geblieben war und nicht auch noch von dem schäumenden Punsch gekostet hatte. 

Sie sah, wie der Bube verschwand, und spazierte dann in die entgegengesetzte Richtung davon, wobei sie sich wünschte, diese Maske doch endlich abnehmen zu können, unter der ihr so warm war. Die Lust auf Tanzen war verflogen – sie war sich nicht sicher, ob sie dafür genug Selbstbeherrschung aufbrachte. Und sie mied daher jeden Herrn, der womöglich versuchte, sie auf die Tanzfläche zu entführen.

Die einzige Person, mit der sie jetzt hätte tanzen wollen, wäre Alexander – und der war leider weit weg. Und er war auch schon so lange weit weg. Sie sollte sich besser auf seine Küsse besinnen und auf seine Hände, wie sie auf einem ihrer Spätnachmittagsausritte um ihr Mieder herum gewandert waren.

Und genau das tat sie dann auch. Sammelte all ihre Gedanken genau dort. Sie würde sich jetzt keine Sorgen machen, ob er sie schon vergessen hatte – ebenso wie ihre kleinen Zwischenspiele in einer geschlossenen Kutsche. Oder, ob er es sich anders überlegt hatte.

Und sie würde sich ganz sicher nicht daran erinnern, wie heiß und lebendig sie sich bei den Küssen des Buben am ganzen Körper gefühlt hatte. Schwach und zitternd. 

Der Anblick von Angelica, wie sie mit einem Mann in einem merkwürdig geformten viereckigen Hut tanzte, war eine willkommene Abwechslung, denn ihre schwesterliche Verärgerung gewann sofort die Oberhand. Im Gegensatz zu den meisten Leuten hier bedeckte seine Maske auch seine untere Gesichtshälfte, und er sah wie ein levantinischer Wegelagerer aus. Einer, der Kreuzritter überfiel. 

Angelica tanzte gerade Walzer, wie Maia missbilligend feststellte. Sie widerstand der Versuchung, sofort mitten auf der Tanzfläche einzuschreiten und Angelica wegzuzerren. Das hätte nur jede Menge unliebsame Aufmerksamkeit auf sie gelenkt und ihre Identität preisgegeben. Was Angelica, sofern sie sich überhaupt um die Habichtsaugen ihrer Schwester bekümmerte, nur zu gut wusste – und zu ihrem Vorteil nutzen würde.

Maia würde später ein Wörtchen mit ihr reden. Nur weil Chas gerade nicht hier war, um sie auf Bälle und derlei zu begleiten, bedeutete das nicht, dass ihre Schwester so leichtsinnig sein durfte. Während Maia den Raum absuchte und sich fragte, wo Tante Iliana war, bemerkte sie einen Engel auf der anderen Seite. 

Der Engel sah aus, als hätte er Probleme mit seinen himmlischen Flügeln, und da ein kurzer Blick in die Runde ärgerlicherweise immer noch nichts über den Verbleib ihrer Anstandsdame verriet, ging Maia zu Mirabella hinüber, um ihr zu helfen.

„Oh, Gott sei Dank“, sagte das junge Mädchen, als sie Maia erblickte. „Ich habe einen meiner Flügel verloren, und die Rückseite von meinem Kostüm verfing sich im Schäferstab eines Hirten, mit dem ich tanzte, und ich glaube, es ist gerissen.“

Maia sah auf den ersten Blick, dass hier eindeutig Reparaturen vonnöten waren. Entzückt über die Gelegenheit, den Ballsaal verlassen zu können, ebenso wie über die Ablenkung von all ihren anderen Sorgen, nahm sie Mirabella beim Arm und ging mit ihr zu der großen, geschwungenen Treppe, welche in die oberen Stockwerke der Sterlinghouse Residenz führte. Dort oben würden sie einen Ruheraum finden oder zumindest einen ruhigen Ort, wo man Mirabella zur Hand gehen könnte. 

Als sie den ersten Treppenabsatz erreicht hatten, bemerkte Maia wie eine Gruppe von vier Männern, alle in Schwarz gekleidet und ebenso maskiert, durch die Eingangstür hereinkamen. „Die vier Reiter der Apokalypse“, kündigte der Butler diese an, als sie sich ihren Weg in die Vorhalle bahnten.

Sie hielt kurz inne und spürte dann, wie dieses unangenehme Prickeln der Intuition ihr die Haare auf den Unterarmen aufrichtete, und sie sah zu den Männern hinunter. Da war etwas an ihnen, was ihr nicht gefiel. Etwas an ihnen stimmte nicht.

Sie liefen in die Eingangshalle, als würden sie ihren Weg schon kennen – zielgerichtet und in Eile, und ohne jemanden an irgendeinem Punkt zu begrüßen. Sie war plötzlich nervös und sich nicht sicher warum – aber auf ihre Instinkte verließ sie sich stets. Sie packte Mirabellas Arm und wies sie stumm an, die Treppen schneller hinaufzugehen. Wegen einer Biegung in der Treppe waren sie größtenteils schon außer Sichtweite, aber aus irgendwelchen Gründen wollte Maia unbedingt fort von hier, bevor es einem von ihnen noch einfiel hochzublicken. 

Oben angelangt fühlte sie sich etwas beunruhigt und wunderte sich über ihre Reaktion auf diese Männer. Vielleicht war es einfach der Tatsache geschuldet, dass ihre Kostüme so bedrohlich wirkten. Mirabella hatte ihre Eile nicht bemerkt, und Maia würde ihr das sicher nicht auf die Nase binden. Stattdessen spähte sie in eines der Zimmer, von vorherigen Besuchen wusste sie, dass die Sterlinghouse Familie eine Reihe von Salons und eine Bibliothek hier auf diesem Korridor hatten, und dass der Ruheraum für Damen sich irgendwo am Ende des Korridors befand. 

Der Raum war leer und Vollmond schien durch die Glastüren und warf ein silbernes Licht über eine Ansammlung von Stühlen und einen Tisch, was alles wie ein Zimmer für Männer aussah. Also doch keiner der Räumlichkeiten für Damen, aber es würde ausreichen: Sie konnte hier in Ruhe Mirabellas Flügel wieder richten. 

Maia musste nicht lange nach einer Lampe suchen, denn es stand gleich eine auf dem Tisch, die fast ganz heruntergedreht war. Maia machte ihnen etwas mehr Licht und hatte sich gerade hinter dem Engel hingekniet, um sich die Rückseite des Kostüms genauer anzusehen, als hinter ihr die Tür aufflog.

Sie unterdrückte einen Entsetzensschrei, sprang auf die Füße, verhedderte sich in den Falten und dem Stoff ihres Gewands und fiel wieder in einem Haufen auf den Boden. 

Als sie die Augen öffnete, stand da eine riesige, dunkle Gestalt in einem weißen Hemd über ihr, und für einen kurzen Augenblick dachte sie, es wäre einer dieser unheimlichen Männer von vorhin. Aber zugleich mit Mirabellas Ausruf, „Corvindale!“, erkannte auch sie die Gesichtszüge ihres neuen Vormunds.

Sie“, entfuhr es ihr scharf, als der Earl sie buchstäblich auf die Füße zerrte, ohne Rücksicht auf ihr Kostüm. „Was denken Sie sich denn dabei –“

Den Satz sprach sie nie zu Ende, dann ehe sie sich’s versah, umfassten sie schon zwei starke Arme und hoben sie in die Luft. 

Maia war derart schockiert und entsetzt, dass sie erst gar nichts sagte. Sie kämpfte, versuchte sich zu befreien, und hörte wie Corvindale seiner Schwester in Befehlston sagte, „nach draußen, Bella. Jetzt.“

„Lassen Sie mich–“, begann sie, aber ihr eigener Befehl brach ab, als er genau das tat, und sie geradezu auf einen der Stühle warf. Sie holte empört Luft, um gleich mit einer Standpauke loszulegen, als plötzlich ein dunkles, schweres Tuch über ihr niederging.

Verwirrt, empört und durchaus verängstigt angesichts dieser plötzlichen, ganz untypischen Wildheit des Earl, trat und strampelte Maia gegen ihn, als er das Tuch enger um sie zog. Das dämpfte ihre Schreie und ließ auch ihre Tritte und ihre Schläge ins Leere laufen, und als er anfing, es eng um sie zu schlingen und es mit etwas, was nur eine Vorhangsschnur sein konnte, festzubinden, fing ihr an, unter dem dicken Tuch die Luft auszugehen.

Er ist verrückt! Der Earl von Corvindale ist verrückt!

Er hob sie wieder hoch und trug sie irgendwohin ... nach draußen. Durch das Gewebe konnte sie die Luftveränderung spüren und erinnerte sich daran, wie er seine Schwester nach draußen kommandiert hatte. Wahrscheinlich durch die Glastüren hindurch auf eine Veranda oder einen Balkon, nahm sie an, als sie auch noch weitere, kurze Befehle hörte, in dringendem Ton gehalten und an Mirabella gerichtet.

„Halte sie still. Bleib hier hinter diesem Zierbaum, bis Iliana oder ich euch wieder holen. Ihr beide.“ Die letzten Worte waren laut genug gesprochen, dass auch Maia sie deutlich hörte, und sie begriff, dass dies auch seine Intention gewesen war. 

Sie spitzte die Ohren, und obwohl sie keine Schritte vernehmen konnte, hörte sie, wie die Verandatüren sich mit einem leisen Einschnappen hinter ihnen wieder geschlossen wurden. 

„Geht es Ihnen gut, Maia?“

Die leise Stimme war ganz nahe, und sie fühlte einen kleinen Schubser, als Mirabella sich neben sie kniete. „Holen Sie mich hier raus“, fauchte sie und atmete gleich darauf einen Fussel ein und musste in ihrem Vorhangspaket husten. Wer wusste schon, wann die zum letzten Mal ausgeklopft worden waren.

„Corvindale sagte, wir sollen hier bleiben“, sagte Mirabella. „Ich denke, da drinnen ist etwas nicht in Ordnung, Maia.“

Maia biss die Zähne zusammen, um nicht wieder zu husten und um nicht eine offensichtlich vergebliche Tirade vom Stapel zu lassen und schloss die Augen. Das Mädchen ließ sich von ihrem Bruder so einschüchtern, dass sie ihn nicht einmal mit seinem Vornamen anredete und auch blind jeden Befehl von ihm befolgte. „Ich kann nicht atmen“, schaffte sie noch zu sagen, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Jetzt, da sie nicht mehr so stark strampelte, entdeckte sie, wie Luft durch das Gewebe zu ihr strömte. 

„Ich werde versuchen, das hier etwas zu lockern“, sagte Mirabella, und Maia spürte, wie sie begann, an den Kordeln zu zerren. Aber dann hörte sie abrupt auf damit. „Oh!“ Ihre Stimme war nur noch ein entsetztes Flüstern. „Jemand – nein, zwei Männer – kamen gerade in den – oh!“

„Was passiert denn?“

„Sie kämpfen. Im Zimmer. Da sind zwei, die ihn angreifen–“

„Wer denn?“, fragte Maia und hielt einen Moment ganz still und versuchte, etwas zu hören. 

„Meine Güte.“ Mirabella machte ein merkwürdiges Geräusch. „Sie haben brennende Augen. Rote Augen. Und sie greifen den Earl an!“

Rote Augen?

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie hatte von Leuten mit roten Augen gehört. Dämonen und die Vamypre aus den Legenden. Aber solche Kreaturen gab es nicht wirklich, egal wie real die Geschichten einem auch erscheinen mochten. „Es muss ein Teil des Maskenballs sein“, flüsterte sie zurück und versuchte, nicht an die apokalyptischen Reiter zu denken. „Irgendwie haben sie sich etwas ins Auge getan, damit diese aussehen, als würden sie glühen.“

Aber noch als sie sprach, erinnerte sie sich, wie Oma Öhrchen eindringlich und spannend ihre Geschichten erzählt hatte. Bei ihr hatte es sich angehört, als würde es Vampyre tatsächlich geben, und sogar, als wäre sie ihnen selbst schon einmal begegnet. Es waren finstere, mächtige Männer, die dem Teufel ihre Seele verkauft hatten, im Austausch für die Unsterblichkeit und andere übermenschliche Fähigkeiten.

Man konnte sie mit einem Holzpflock durch das Herz töten. Sie erinnerte sich genau an den Teil der Legende, weil Chas aus irgendeinem Grund völlig fasziniert davon war, wie es eben so ist mit einem Jungen, was Gewalt und Blutvergießen betraf. Wieder und wieder hatte er Oma Öhrchen gebeten, die Geschichten zu erzählen, wie man die menschenähnlichen Unsterblichen jagte, und er zählte einen Vampyrschlächter namens Valerian zu seinen Helden.

Vampyre vertrugen auch kein Sonnenlicht und tranken Blut, um am Leben zu bleiben. Menschliches Blut. 

Maia zitterte, aber nicht vor Kälte. Es war, weil sie sich an die Fetzen eines Traums der vergangenen Nacht erinnerte. Einen Traum, den sie versucht hatte zu unterdrücken, weil er dunkel und heiß und rot gewesen war. Und in ihm war ein Vampyr vorgekommen, mit seinen schimmernden Augen, die wie Feuer auf ihrer Haut brannten ... und seinen langen Zähnen.

Der Traum hatte sie atemlos und verschwitzt aufschrecken lassen, mit hämmerndem Herzen, und mit einer Art pochender Erwartung überall in ihrem Körper. Selbst jetzt: bei der Erinnerung an das Wesentliche in dem Traum, wurde ihr am ganzen Leib warm.

„Sie greifen ihn an!“, sagte Mirabella erneut, ihre Stimme immer noch sehr leise. „Zwei von ihnen. Sie sind so ... schnell. Corvindale hat einen von ihnen quer durch das Zimmer geschleudert, aber jetzt ist der andere schon auf ihm –“

„Zwei von ihnen? Haben sie Gewehre oder Waffen?“

„Sie kämpfen mit bloßen Händen und – mit ihren Füßen und indem sie Dinge werfen. Es ist ... erstaunlich“, flüsterte sie. „Mein Bruder ... er ist so schnell, sie sind alle so ... schnell ... aber er ist ... ich kann seine Bewegungen kaum erkennen. Und ... er hat diesen schweren Schreibtisch gerade hochgehoben und nach einem von ihnen geworfen“, sagte sie. Ihre Stimme war halb schockiert, halb panisch. „Oh! Er hat einem von ihnen einen Faustschlag versetzt, und oh! Oh weh! Oh. Da. Er ist wieder auf den Beinen und hat den anderen gegen die Wand geworfen, und dann das Sofa umgestürzt und ist wieder auf seinen Füßen gelandet–“

„Wer?“, fragte Maia wieder.

„Der Earl. Er kämpft gegen sie. Gegen beide. Er ist – er blutet ... und da fliegt ihm schon wieder ein Stuhl auf den Kopf und oh!

Als Nächstes nahm Maia nur wahr, wie das Mädchen sie schob und an ihr zog, irgendwohin. „Wir müssen uns verstecken. Hinter diesem ... Zierbaum und dem Topf.“ Sie schaffte das gerade so, aber war völlig außer Atem. „Sie könnten uns sehen!“

Aber da hatte Mirabella bereits aufgehört, an ihrem gut verschnürten Körper zu ziehen und zu zerren, und Maia hatte den Eindruck, dass sie nicht mehr direkt neben ihr stand. Wo war sie hin? Hoffentlich hatte Mirabella sie nicht hier alleine zurückgelassen, verschnürt wie eine Weihnachtsgans?

Und dann ... Angelica! Furcht ergriff von ihr Besitz, und in einem Anfall von blankem Entsetzten erinnerte sie sich an die vier apokalyptischen Reiter und die bösartige Aura, die sie umgeben hatte. Jetzt begann sie, wieder zu strampeln, aber Corvindale war sehr gründlich gewesen, die Vorhangsschnur gab nicht nach. Sie konnte sie nicht lockern, und Mirabella schien nicht geneigt, ihr hier zu helfen.

„Mirabella?“, sagte sie, diesmal etwas lauter.

Ein Luftzug und dann die Gegenwart von jemand anderem neben ihr, bedeuteten ihr, dass die junge Frau zurückgekehrt war. Maia fühlte, wie sie in der Eile an sie stieß. „Es ist Corvindale! Ein dritter Mann kam herein, und dann ist etwas passiert – er hörte einfach auf. Corvindale ... er hörte einfach auf. Er liegt jetzt auf dem Boden, oder ist tot, oder sonst was!“

„Haben sie ihn erschossen?“, fragte Maia. „Haben Sie da viel Blut sehen können?“

„Ich habe gar nichts gesehen, und einen Schuss hätte ich sicherlich gehört.“

„Holen Sie mich doch bitte hier heraus“, sagte Maia und strampelte noch mehr. Sie musste etwas sehen. Sie musste Mittel und Wege finden, sich hier um alles zu kümmern. Der Earl konnte nicht tot sein. „Können Sie Blut sehen?“

„Er schaut sich gerade in dem Zimmer um – da ist jetzt nur noch ein Mann“, zischte Mirabella, ihr Mund ganz nah dort, wo sie Maias Kopf vermutete, aber was in Wirklichkeit ihre Schulter war. „Ein Dritter ist jetzt hereingekommen. Er hat gerade nach meinem Bruder getreten ... und der hat sich nicht bewegt. Oh, lieber Gott!, bitte lass ihn nicht tot sein!“

„Lösen Sie jetzt endlich diese Schnur!“, sagte Maia. Sie konnte einerseits kaum glauben, dass der halsstarrige Earl zu Boden gegangen war – und schon gar nicht, dass er sich einfach so treten ließ. Andererseits war sie panisch bei dem Gedanken, was Angelica vielleicht gerade widerfuhr, und so zappelte sie verzweifelt wie ein Fisch im Netz hin und her. Waren das dort wirklich Vampyre?

„Nein, ich tue das lieber nicht. Nicht bis– oh, der Mann hat das Zimmer verlassen. Ich warte noch kurz, um sicherzugehen, dass er auch wirklich fort ist. Dann schleiche ich mich hinein und sehe nach dem Earl.“

 Mirabella bewegte sich, und Maia hörte, wie sie sich von ihr entfernte, und dann, nach einer halben Ewigkeit, ein leises Rütteln an den Glastüren. Und dann, ein etwas lauteres Rütteln und das gleiche Schubsen wie vorhin, als Mirabella wieder zurückkam.

„Noch jemand ist ins Zimmer gekommen! Er hat mich fast gesehen. Ich weiß nicht, wer es ist, aber ich glaube, ich sollte–“

„Was ist mit Corvindale? Haben Sie Blut gesehen? Sind Sie hineingegangen?“

„Er bewegte sich nicht, aber seine Augen scheinen geöffnet zu sein. Und sein Hemd ist komplett zerrissen, und da liegt eine Halskette aus Rubinen quer über seinem Hals, die er vorher noch nicht anhatte. Es ist äußerst merkwürdig. Aber ich konnte nicht nahe genug an ihn herankommen, denn die Tür öffnete sich, und ich bin wieder nach draußen gerannt.“

Maia konnte die Angst in der Stimme ihrer Freundin hören, und sie nahm an, man konnte ihr keinen Vorwurf machen, die Flucht ergriffen zu haben, als sich die Tür wieder öffnete. Aber wie hatte sie nur ihren Bruder dort zurücklassen können? Maia hätte nie–

Mirabella keuchte. „Der Mann nimmt sich gerade die Rubinhalskette! Er ist ein Dieb – oh! Corvindale!“

Und dann das Geräusch von den Glastüren, die sich krachend öffneten, und von schweren Schritten – Maia wurde angst und bange.

„Sind Sie verletzt?“, fragte Mirabella gerade, als Maia plötzlich wieder hochgehoben wurde und aus ihren Fesseln befreit wurde. Und das ausgerechnet von Corvindale, wie sie an den sicheren und geschickten Griffen merkte, die sie erneut irgendwohin fortzerrten. 

Bis dann das Tuch endlich ihr Gesicht freigab, und sie sah, dass der Earl anscheinend ohne nennenswerte Kratzer davongekommen war, setzte er sie auch schon mitten in dem Zimmer ab, wo sie vorher gewesen waren. Es war ein Schlachtfeld.

„Angelica!“, war das Erste, was ihr über die Lippen kam, gerade als sie bemerkte, wie Lord Dewhurst das Zimmer verließ. Er hatte eine Kette von Rubinen bei sich.

Die Vorhänge lagen in einem wilden Durcheinander zu ihren Füßen, verhedderten sich in ihren hohen Schuhen und den vielen, langen Falten ihres Kostüms. Sie versuchte, sie mit den Füßen wegzutreten, panisch vor Angst wegen ihrer Schwester, aber Corvindale hielt sie am Arm umklammert. „Nehmen Sie Ihre Hände da weg“, fuhr sie ihn an, „ich muss Angelica finden.“

Corvindale ignorierte sie völlig und hob sie gerade aus dem Haufen von Tüchern und Vorhängen hoch, als sich die Tür hinter Dewhurst schloss, und sie bemerkte jetzt, dass ihm das Hemd in der Tat in Fetzen vom Leib hing, und man seine muskulösen Oberarme sehen konnte. „Dewhurst wird sich um sie kümmern“, sagte der Earl.

„Dewhurst?“, sagte Maia und starrte die Tür an. Und hätte der Viscount nicht eigentlich in Rumänien sein sollen? „Mit meiner Schwester?“

„Ich werde mich später um ihn kümmern“, sagte Corvindale mit grimmiger Miene, packte sie am Arm und zog sie hinter sich her zur Tür. „Iliana wartet schon in der Kutsche. Sie müssen hier augenblicklich fort“, sprach er und winkte Mirabella kurz zu, sie solle folgen.

„Ich gehe nicht ohne meine Schwester“, sagte Maia und stampfte auf. 

Die Reaktion des Earl war kurz und knapp und brachte sie zur Weißglut: Er hob sie einfach hoch und trug sie aus dem Zimmer, den Gang hinunter zum Treppenhaus der Dienstboten.

Als Nächstes wurde sie schon in eine Kutsche verfrachtet, zusammen mit Mirabella und ihrer Anstandsdame. Drei Lakaien waren dort, die sie begleiten sollten, was ihr zumindest ein Gefühl von Sicherheit gab. Die Tür schloss sich, und das Schloss schnappte ein, und bevor sie auch nur Atem holen konnte, fuhr die Kutsche schon mit einem gewaltigen Satz los. 

Sie konnte kaum nach Luft schnappen, so wütend war sie. Aber bevor sie ihre Gedanken wieder so weit unter Kontrolle hatte, um sprechen zu können, schaute sie zu ihren beiden Begleiterinnen hinüber. Mirabellas Augen waren weit vor Angst, ihr feuerrotes Haar hing ihr wirr um das Gesicht, ihre roten Lippen offen.

Tante Iliana sah etwas beherrschter aus, aber ein entschlossener, wilder Ausdruck lag in ihren Augen. Und zum allerersten Mal sah Maia, dass die Frau einen spitzen Holzpflock in Händen hielt. 

~*~

Maia hatte soeben schon wieder die Vorhänge im Salon von Blackmont Hall zurückgezogen – irgendjemand schien sie immer wieder zuzuziehen, was die Räume schrecklich trübe und dunkel machte –, als sie hörte, wie sich die Tür zur Eingangshalle öffnete. Das Herz schlug ihr höher, und sie rannte zur Tür des Salons, um zu sehen, ob es Angelica war, die endlich zurückkehrte. Aber die leisen, scharf gesprochenen Laute, die der Neuankömmling zu seinem Butler sprach, verrieten ihr, dass es der Earl war, der jetzt nach Hause zurückkehrte.

Entschlossen, wenigstens ein paar Erklärungen von ihm zu erhalten, rannte sie aus dem Salon und traf ihn im Korridor.

„Lord Corvindale“, sagte sie und baute sich mitten in dem Durchgang auf, sodass ihm der Weg in sein Arbeitszimmer versperrt war – wohin es ihn anscheinend trieb. Er musste direkt an ihr vorbei.

„Was ist, Miss Woodmore?“, fragte er. Seine Stimme war tonlos und hart und strafte das müde, zerzauste Aussehen des Mannes vor ihr Lügen. Entweder war er nach Hause zurückgekommen und hatte das Hemd gewechselt (obwohl sie sich sicher war, dass er das Haus nicht betreten hatte, seit sie selbst dorthin zurückgekehrt war, denn sie hatte die ganze Zeit auf ihn gewartet, um ihn zur Rede zur stellen), oder er hatte sich irgendwie ein neues beschafft, denn dieses Hemd, obschon zerknittert und lose, erschien ihr recht sauber im Vergleich zu dem zerfetzten Hemd von letzter Nacht. 

Aber seine Geschichtszüge traten heute noch schärfer als sonst hervor. Seine dichten, dunklen Augenbrauen waren jetzt zu einem finsteren Runzeln zusammengezogen, sein Mund war nur noch ein Strich, sein dichtes, schwarzes Haar fiel ihm in wirren Locken bis auf seine Schultern herab und um den Hals. Er brauchte auch dringend eine Rasur, bemerkte sie mit gerümpfter Nase. Sein Mantel war besudelt, und er trug keine Handschuhe an den Händen, wo man an einer der beiden einen Streifen von Blut erkennen konnte.

Obwohl Maia versucht hatte, ihre schlaflose Nacht mit etwas Bettruhe zu füllen, und dann mit Lektüre, und später – als nichts davon fruchtete – einem Bad, das all die noch vorhandenen Fussel und den Staub dieser Vorhänge von ihr waschen sollte, verspürte sie nur wenig Mitleid mit diesem Mann hier vor ihr ... obwohl er in der Tat restlos erschöpft aussah. Er verströmte Anspannung wie ein Feuer Wärme verbreitet, aber Maia war das egal. Sie wollte Antworten haben, sie musste sich wappnen, musste sich um Dinge kümmern und mit dieser Situation fertig werden – und sie hatte viel zu lange auf ihn gewartet. Tante Iliana, die wesentlich mehr zu wissen schein, als sie preisgab, hatte ihr lediglich versichert, dass sie Nachricht erhalten hatte, dass Angelica in Sicherheit war und Dewhurst sie in Kürze wiederbringen würde.

Die große Frage war – sicher vor was?

Vor den Vampyren?

„Es ist beinahe vier Uhr, Corvindale. Ich möchte, dass Sie mir jetzt endlich sagen, wo genau Angelica ist“, sprach sie zu ihm. „Und wann sie hier eintreffen wird. Aber vor allem brauche ich die Gewissheit, dass sie in Sicherheit ist.“

Seine Augen blitzen wütend auf. „Ihre Schwester wird in Blackmont Hall eintreffen, wenn ich überzeugt bin, dass sie hier in Sicherheit ist.“ Hier machte er eine abschließende Geste, die Maia wohl beiseite fegen sollte. „Wäre das dann alles?“

Sie holte tief Luft und starrte ihn eisig an. „Nein, ist es nicht. Ich wollte in der Tat noch mit Ihnen über Ihr Betragen gestern Nacht sprechen.“ 

„Mein Betragen?“ Und es war, als hätte sich Eis um jedes seiner Worte gelegt.

Vielleicht dachte er, dass sie bei diesem wütenden und beleidigten Ton in seiner Stimme der Mut verlassen und sie die Flucht ergreifen würde, aber da täuschte er sich gewaltig. „Es war nicht nur abscheulich und roh, Sie haben sich nicht einmal die Zeit für eine Erklärung oder Entschuldigung genommen, bevor Sie Mirabella und mich in eine Kutsche verfrachtet haben und wegschickten.“ 

„In der Tat.“

„Es gab keinerlei Veranlassung, mich so grob anzufassen“, und zu ihrem eigenen Entsetzen, versagte ihr die Stimme hier fast vor Zorn, „und mich hinaus auf den Balkon zu werfen wie eine Art von–“

Dimitri fixierte sie mit einem eiskalten Blick. „Ganz im Gegenteil. Ich hatte gute Gründe dafür. Nicht zuletzt, dass Sie mir niemals gehorcht hätten.“

„Wenn Sie mir einfach erklärt–“

„Es war keine Zeit für Erklärungen, selbst wenn ich geglaubt hätte, dass Sie dann auf mich gehört hätten, Miss Woodmore. Sie hätten mir gestern ebenso wenig gehorcht, wie Sie sich auch seit Ihrer Ankunft hier über meine Befehle hinwegsetzen, darin eingeschlossen in diesem Haus die Vorhänge zugezogen zu lassen, und meinen Wunsch nicht gestört zu werden missachten.“

Sie wich nicht zurück, obwohl seine Stimme jetzt so laut geworden war, dass auf einem Tisch in der Nähe eine Vase auf ihrem Glastablett leise schepperte. Er hatte also doch bemerkt, dass sie seine unzähligen Ausgaben der Faustlegende nach Namen und Datum sortiert hatte?

„Wenn Sie uns einfach erklärt hätten, dass wir in Gefahr schweben und keine Zeit für nähere Erklärungen hätten, hätte ich auf Sie gehört.“ Sie sog die Luft ein und schaffte es, bis drei zu zählen, bevor sie fortfuhr. „Zusätzlich zu einer Entschuldigung ist es meiner Meinung nach nicht zuviel verlangt, eine Erklärung der Ereignisse der letzten Nacht einzufordern. Ich verstehe, dass Angelica und ich in Gefahr waren, aber ich würde von Ihnen gerne wissen, weswegen und wer dahinter steckt. Und wie Sie rechtzeitig zur Stelle sein konnten, um einen womöglich schlimmeren Ausgang zu verhindern ... ganz abgesehen von der ungehobelten Art, wie Sie das erreicht haben.“

„Ungehobelte Art?“, wiederholte er, und Ärger wischte die Erleichterung wieder fort. 

Ihre Blicke bohrten sich in ihn, und sie winkte ungeduldig. Warum gab er ihr nicht eine offene Antwort? 

„Sie haben uns auf den Balkon hinausgeworfen, eingewickelt in Vorhänge. Können Sie mir nicht die Höflichkeit erweisen, mir zu erklären warum?“

„Weil dort ein paar sehr böse Männer waren, die Sie mit Gewalt von dort mitnehmen wollten. Das ist auch der Grund, warum Ihr verdammter Bruder mich umgarnt hat, Ihr Vormund zu werden. Weil er wusste, es gibt niemanden sonst, der Sie beschützen könnte.“

Sehr böse Männer? Sie konnte sich gerade noch davon abhalten, die Augen zu verdrehen. „Ich bitte Sie, Mylord, Sie klingen wie eine der Figuren aus einem dieser Schauerromane von Mrs. Radcliffe, der alle möglichen verworrenen und geheimniskrämerischen Warnungen ausstößt. Wenn Sie bitte von derlei konfusen Aussagen absehen würden und mir schlicht mitteilen könnten, was–“

„Was dann? Würden Sie dann meine Erklärungen annehmen und meinen Befehlen ohne Widerrede Folge leisten?“

War der Mann von Sinnen? „Gewisslich nicht. Aber dann würden Sie es zumindest nicht für nötig erachten, mich einzuwickeln und auf den Balkon zu werfen.“

Corvindale verschränkte die Arme vor der zerknitterten, schmutzigen Weste und starrte wütend auf sie hinunter. „Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Miss Woodmore, Ihr Bruder hat sich mit einer Bande skrupelloser Männer eingelassen und befindet sich in großer Gefahr. Weil er mit der Schwester von einem dieser Männer verschwunden ist, hat er nicht nur sich selbst gefährdet, sondern auch Sie und Ihre Schwestern. Nichts täten diese Männer lieber, als Sie zu benutzen, um sich an Chas zu rächen.“

Oh, Chas! Maia schluckte und versuchte, die in ihr aufsteigende Panik zu unterdrücken. „Sie möchten uns als Geiseln haben? Als Druckmittel?“ Dann waren die Männer also keine Vampyre. Oder etwa doch? Sie schüttelte den Kopf. Sie war von Sinnen, auch nur anzunehmen, dass es so etwas wie Vampyre auch nur geben könnte. 

Sie sprach jetzt laut vor sich hin, als sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, als wäre er gar nicht da. „Aber das hieße dann auch, dass Chas noch am Leben ist und sich irgendwo versteckt hält, wenn sie versuchen, uns zu entführen. Er muss noch am Leben sein. Und in Sicherheit.“ Erleichterung durchströmte sie. 

„Ihr Bruder ist sehr schlau und geschickt, und Sie haben wahrscheinlich Recht. Ich bin sicher, er kann sich sehr gut um sich selbst kümmern. Aber weder Sie noch Ihre Schwester dürfen dieses Haus verlassen oder irgendjemanden empfangen ohne meine Erlaubnis. Sie sind in meiner Obhut absolut sicher, aber Cezar Moldavi ist nicht nur skrupellos, sondern auch sehr intelligent. Und Ihr Bruder hat ihn auf eine ungeheuerliche Art hintergangen. Er wird nicht ohne weiteres aufgeben.“

„Cezar Moldavi?“ Maia erstarrte. 

„Sie kennen diesen Namen?“ 

„Ähnlich wie in ihrem Fall, Corvindale, ist mir der Name geläufig, aber ich habe den Mann noch nie getroffen.“ 

Dimitri verlagerte sein Gewicht, ganz offensichtlich reichlich ungeduldig. „Gewiss, gewiss, Miss Woodmore. Bitte ersparen Sie uns offenkundige Bemerkungen. Doch ich rechne damit, dass Herr Cale demnächst eintrifft. Was haben Sie sonst noch hervorgezerrt, um es mir zum Nachdenken mit auf meinen weiteren Weg zu geben?“

„Ich habe immer noch keine Entschuldigung von Ihnen erhalten“, erwiderte sie klar und deutlich und ließ sich nicht beirren. Wirklich. Die Manieren von diesem Mann! „Noch nie in meinem Leben bin ich so–“

„Miss Woodmore“, fiel er ihr ins Wort, „wollen Sie mir damit sagen, dass, sollte ein Mann Sie aus dem Weg einer heranpreschenden Kutsche schubsen, dieser sich noch vor Ihnen verneigen und buckeln sollte und um Verzeihung zu bitten hat, dass er Ihr Kleid zerknautscht hat – bevor er es tut?“

Sie musste an sich halten, um nicht mit dem Fuß aufzustampfen. War der Mann so blöde? „Nun ich glaube tatsächlich–“, diesmal unterbrach sie sich selbst. Er war es nicht wert, dass man sich seinetwegen derart aus der Façon bringen ließ. Bienen fängt man mit Honig. Obwohl sie überzeugt war, selbst wenn man diesem Mann hier Honig ums Maul schmierte, es würde nichts ausrichten. Er mochte einfach niemanden leiden. 

Nichtsdestotrotz holte sie tief Luft und fuhr fort, wobei sie ihre Stimme honigsüß und geduldig klingen ließ, als würde sie zu einem kleinen Kind sprechen. „Es war mir nicht bewusst, dass wir in Gefahr waren. Sie haben keinerlei Anstalten gemacht, mir diese Tatsache mitzuteilen – eine Tatsache die Ihnen wohl bewusst war. In Zukunft, Lord Corvindale, könnten Sie vielleicht etwas mitteilsamer sein. Insbesondere in Bezug auf Dinge, die mich und meine Schwestern betreffen.“

„Vielleicht.“

In Rage, ob der dahingeworfenen Bemerkung, die offensichtlich nur dazu diente, sie zum Schweigen zu bringen, tat sie einen Schritt vorwärts und wurde dadurch belohnt, dass er tatsächlich etwas zurückzuweichen schien. „Da ist noch eine Sache, Mylord. Ich verlange von Ihnen eine Zusicherung, dass der gute Ruf meiner Schwester unversehrt sein wird, wenn sie wieder hierher unter Ihre Obhut zurückkehrt – oder dass Sie alles Nötige veranlassen werden, sollte die Situation es erfordern.“ Das Letzte, was sie alle jetzt noch brauchten, war, dass Angelica in einen Skandal verwickelt wurde. Das würde alle ihre Chancen auf eine gute Partie mit Harrington ruinieren – oder mit jedem anderen respektablen Gentleman. 

„Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um den guten Ruf Ihrer Schwester zu schützen, Miss Woodmore“, erwiderte er förmlich. „Niemand – außer vielleicht Sie selber und Chas – ist hier besorgter als ich. Aber Sie haben keinen Grund zur Sorge. Sie ist vor Cezar Moldavi sicher und in bester Gesellschaft.“

Maias Augen wurden zu Schlitzen. Er verschweigt mir etwas. Da war sie sich sicher. Der Mann verschleierte hier etwas, verflixt und zugenäht. Aber bevor sie weiter in ihn dringen konnte, hörte man Schritte und Stimmen in der Eingangshalle.

„Mylord“, sagte der Butler, als er im Korridor erschien. „Mr. Giordan Cale ist soeben eingetroffen.“

Maia würdigte Giordan Cale kaum eines Blickes, als er durch den Korridor auf den Earl zuschritt. Vage hatte sie den Eindruck eines gutgekleideten, gutaussehenden Mannes, mit einem etwas erschöpften, angespannten Gesichtsausdruck. 

„Dimitri“, sprach Cale zum Earl. Und dann wandte er sich Maia zu. „Miss Woodmore.“ Er verbeugte sich kurz, als sie knickste und ihn dabei etwas genauer betrachten konnte. Er sah genau wie die Davidsstatue von Michelangelo aus, obwohl sie nicht ganz alle Einzelheiten seines Körpers mit denen der Statue vergleichen konnte. 

Corvindale runzelte die Stirn. „Wenn Sie uns entschuldigen würden“, sagte er herablassend zu ihr. Dann blickte er zu Cale und machte eine Handbewegung Richtung Korridor. „Mein Arbeitszimmer.“

~*~

„Es war keine Zeit, um ihr eine langatmige Erklärung zu geben, die sie sicherlich gefordert hätte – geschweige denn, Miss Woodmore davon zu überzeugen, dass es damit seine Richtigkeit hat. Ich musste die Dinge schnell in meine eigenen Hände nehmen“, sagte Dimitri wenige Augenblicke später in seinem Arbeitszimmer. 

Es ärgerte ihn nicht unerheblich, dass er sich verpflichtet fühlte, Erklärungen abzugeben, und das selbst dem Mann gegenüber, den er als seinen engsten Freund betrachtete. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ihn geradezu maßloser Zorn erfüllte, weil Belials Männer ihn mit den Rubinen restlos überrumpelt hatten. Die anderen beiden waren ihm nicht gewachsen, und Dimitri war drauf und dran gewesen, von dem Pflock Gebrauch zu machen, den er unter der Weste bei sich trug, als Belial höchstpersönlich mit dieser Rubinhalskette in das Zimmer gestürzt war. 

Er wusste nicht, wie sie von seiner Rubin Asthenie erfahren hatten. Niemand wusste davon außer Cale – und der würde eher sterben, als sie preiszugeben. Meg hatte davon gewusst, aber sie war schon vor längerem an einem Pflock durch ihr Herz gestorben. Und obwohl er in jener Nacht in Wien tapfer versucht hatte, es herauszufinden, war es Voss erst gestern Nacht geglückt, als er Dimitri mit der Halskette direkt auf der Haut vorgefunden hatte. 

Dimitris Hals brannte immer noch an den Stellen, wo die Edelsteine sich in seine Haut eingefressen hatten, und obwohl er zufrieden war, Mirabella und sein Mündel schnell genug in Sicherheit zu sich zu bringen, wäre die Sache um ein Haar fast schiefgegangen. Eine Tatsache, die Miss Woodmore anscheinend nicht willens war einzusehen oder zu begreifen. „Miss Woodmore hatte recht ausführlich ihren Unmut über meine Vorgehensweise kundgetan“, fuhr er fort. 

Cale gelang es nicht ganz, die Belustigung in seinen Augen zu unterdrücken, obwohl er immer noch müde und angespannt dreinblickte. „Sie schien von den Ereignissen nicht gerade erfreut“, stimmte er zu. „Ich habe eine ganze Menge von eurer Unterhaltung mitbekommen.“

Verfluchtes Vampirgehör. „Miss Woodmore würde sich noch mit dem Teufel herumstreiten, wenn der ihr sagte, er käme aus der Hölle“, erwiderte er und schenkte ihnen beiden einen großzügigen Schluck von seinem besten Brandy ein – diesmal ohne Blut.

Sein Schädel dröhnte immer noch ein wenig von dem ausgiebigen Genuss von Blutwhisky, den er sich zwischen dem Intermezzo mit Hatschepsut und dem Angriff von Belials Männern genehmigt hatte. Selbstverständlich war er nur eingeschritten, um zu verhindern, dass Miss Woodmore mit diesem Hofnarren den Walzer tanzte, weil dies in seinen Aufgabenbereich als Vormund fiel. Selbstverständlich. Aber es hatte zu dem überflüssigen Abstecher in jenen dämmrigen Alkoven geführt – ganz abgesehen von der weiteren Ablenkung, die seine Wachsamkeit empfindlich beeinträchtigt hatte. Und ebenso selbstverständlich hatte Dimitri seither kaum einen Gedanken an ihren flüchtigen Kuss verschwendet, aber trotzdem, dieser Abstecher hatte dazu geführt, dass er erst reichlich spät die Ankunft der Vampire bemerkt hatte. 

Was ein weiterer Grund dafür war, dass ihm nicht der Sinn danach stand, Miss Woodmore zu besänftigen. 

Er war durch das Haus gerannt, auf der Suche nach seinen Mündeln und seiner Schwester, um sie in Sicherheit zu bringen, und dies war ihm kaum gelungen, da griffen ihn schon Belials Begleiter an. Glücklicherweise legte die Abwesenheit der Mädchen nahe, dass auch Dimitri auf der Suche nach ihnen war, was die Vampire hinters Licht führte – bis Belial die Rubinhalskette nach ihm warf. 

„Es ist ihnen gelungen, auf den Maskenball zu kommen?“, fragte Cale.

„Da waren fünf insgesamt, alles Gemachte, Belial mit eingeschlossen“, erwiderte Dimitri. 

Gemachte waren Vampire, die von einem anderen Drakule gezeugt, also „gemacht“ worden waren. Zwar kamen sie in den Genuss von vielen der Vorteile, die auch die ursprünglichen und echten Drakulia Mitglieder hatten – solche wie Dimitri, Cale und Voss, die von Luzifer selbst in die Bruderschaft eingeladen worden waren. Aber diese Vampire waren weniger mächtig und deutlich anfälliger für Schwächen.

Einer der Gründe für die weitreichende und riesige Macht von Moldavi war, dass er – mit der Erlaubnis des Teufels – viele Vampire gezeugt hatte, die alle ihm verpflichtet waren. 

Solcherart gezeugte Vampire konnten wiederum ihre eigenen Untergebenen machen, aber je weiter man diese Kette nach unten wanderte, gewissermaßen, desto weniger mächtig und desto langsamer wurden sie. Jeder von ihnen bekam nicht nur beim ersten Erwachen seine eigene Asthenie mit auf den Weg, sondern erbte auch die Asthenie seines Erzeugers, und dann auch die von dessen Erzeuger, und so weiter.

„Indem er seine Männer schon jetzt herschickte, hat Moldavi schneller gehandelt, als ich vorhergesehen hatte. Aber es hätte noch schlimmer kommen können, wenn Iliana und ich nicht beim Maskenball anwesend gewesen wären. Sie hat mich gewarnt, als sie eintrafen, und hat offensichtlich einem von ihnen einen Pflock durch das Herz gerammt, der versucht hatte, Angelica im Garten anzugreifen. Und Dewhurst – ehem, Voss. Er führt jetzt mal wieder seinen Titel.“

„Und jetzt ist Voss mit der jüngeren auf und davon? Mit Angelica?“

Dimitri unterdrückte die Wut, die ihm bei dem Gedanken wie Galle hochkam, dass es Voss gelungen war, während sie unter Dimitris Schutz stand, Hand an die Schwester von Chas Woodmore zu legen, Hände die sicher schon weiß der Teufel was von Angelica erkundet hatten. Voss hatte sicher einen Grund, warum er sich gerade diese Schwester ausgesucht hatte, aber zu wissen, dass er Dimitri damit erzürnte, wäre für diesen Bastard noch das Sahnehäubchen auf dem Ganzen. 

Wenn er Voss nicht zuerst in die Finger bekam, tat Chas Woodmore das sicher schon – und würde ihm, ohne zu zögern, einen Pflock ins Herz rammen. Ein Ärgernis weniger, aber Dimitri juckte es, das selbst zu tun, wenn Angelica kompromittiert würde, solange sie unter seinem Schutz stand. Auch wenn er Voss nicht direkt für den Tod von Lerina in Wien verantwortlich machte, das Spinnennetz seiner Ränke und Spielchen hatten die ganze Kette von unglücklichen Ereignissen in Gang gesetzt. Seit jener Nacht war Dimitri nur zu leicht davon zu überzeugen, es wäre von Vorteil, diesen Mann aus der Welt zu schaffen. 

„Voss hat Nachricht gesandt, dass er sie zurückbringt, sobald er überzeugt ist, dass ich für ihre Sicherheit garantieren kann, aber er hat natürlich noch andere Gründe, sie zu entführen.“

„Natürlich hat er das. Wir reden hier über Voss. Der Mann ist unfähig seinen Schwanz oder seine Zähne drinnen zu lassen“, erwiderte Cale. „Aber er wird Moldavi ebenso wenig an sie heranlassen wie wir. Also ist sie in Sicherheit – in gewisser Weise.“

Unglücklicherweise hatte Cale da Recht. Voss würde Angelica so lange behalten, wie es seinen Zwecken dienlich war, und sie dann wie eine heiße Kartoffel fallen lassen, wenn er mit ihr fertig war. Dimitri bezweifelte, dass selbst die Drohung von Chas und seinem Eschepflock Voss einschüchtern würde. „Und das ist genau der Grund, warum ich Miss Woodmore gesagt habe, alles sei unter Kontrolle.“

„Das Blut von drei Menschen klebt an den Händen – oder soll ich sagen Zähnen – von Belial und seinen Männern. Oder waren es mehr?“, fragte Cale. 

„Drei insgesamt. Voss hat zwei davon im Ballsaal mitbekommen, während ich mit Miss Woodmore und Mirabella beschäftigt war. Er behauptet, es wären noch mehr geworden, wenn er nicht dazwischen gegangen wäre.“ Dimitri war geneigt, ihm das zu glauben, so sehr es ihm auch widerstrebte, diesem Mann irgendetwas Produktives zugute zu halten. „Obwohl er natürlich keinen Pflock gerührt hat, um sie zu stoppen.“

„Nein, so etwas würde er nicht tun. Und sie waren ganz ohne Zweifel hinter den Woodmore Mädchen her?“

„Selbstverständlich. Jetzt wo Chas mit Narcise auf und davon ist.“ Während er das sagte, beobachtete Dimitri Cale insgeheim. Es überraschte ihn nicht zu sehen, wie Cales Gesicht sich unmerklich verkrampfte, was seinen Verdacht bestätigte: Giordan Cale hatte seine ungesunde Zuneigung noch immer nicht überwunden. 

Die Frage, die sich Cale wahrscheinlich gerade stellte, war, ob Chas Narcise gegen ihren Willen entführt hatte, oder ob sie miteinander durchgebrannt waren. Beides war möglich, obschon die Ironie, dass ein Vampirjäger mit einer Vampirin durchbrannte, die letztere Variante deutlich interessanter machte.

„Ich habe natürlich den Rest der Nacht mit dem Üblichen zugebracht: die Beweise für ihren Besuch verschwinden zu lassen“, erklärte Dimitri dann weiter.

„Ich werde dir heute helfen, sollte es noch ein paar Löcher geben, die du stopfen musst“, bot Cale ihm an. Dimitri nickte dankbar, denn trotz all seiner Bemühungen während der letzten Nacht, gab es noch einiges zu tun. 

Die Strategie der letzten Nacht hatte aus ein paar Geschichten bestanden, über Maskenballspäße, die leider schrecklich misslungen waren, sowie einer Auswahl an von ihm ausgestreuten Gerüchten, und dann noch ein paar Erinnerungen, denen man auf die – falschen – Sprünge geholfen hatte. Im White’s, bei Bridge & Stokes und einigen anderen Herrenklubs. Und all das nur, damit niemand sich genau erinnerte, woran drei Leute nun denn genau gestorben waren.

Ihr Sterben war tragisch genug – und auch völlig überflüssig. Die genaue Todesursache noch ans Licht kommen zu lassen, würde die Tragödie nur noch schlimmer, ja geradezu grauenvoll erscheinen lassen. Es würde nur zu einem öffentlichen Aufschrei und Kampagnen gegen die Drakule führen, ähnlich wie in Köln im Jahre 1755. Und dann würden noch mehr Leute sterben – Dummköpfe, die glaubten, sie könnten tatsächlich Jagd auf diese starken, schnellen Unsterblichen machen und sie erlegen. Nur wenige konnten sich Hoffnungen machen, einen Vampir zu überraschen und im Kampf zu besiegen, und sie mussten dafür gut ausgebildet sein. Daher hatte Dimitri dafür gesorgt, dass seine Dienerschaft so gut für eine Begegnung mit einem Drakule gewappnet war, wie es für Sterbliche nur möglich war. Zusätzlich hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, für bestimmte Aufgaben gemachte Vampire anzuheuern, deren Erzeuger tot waren – wie zum Beispiel die Aufgabe, auf die Woodmore Schwestern Acht zu geben und sie zu beschützen. Es gab, trotz der Verbindung zu Luzifer, eine ganze Reihe von Drakule, die nicht blindlings von der Gier nach Macht oder Gewalt getrieben wurden, oder nur ihr eigenes Vergnügen suchten und nach Unsterblichkeit strebten. 

Dimitris Miene verfinsterte sich noch mehr, und die altvertraute Abscheu stieg in ihm bitter hoch. Vampire wie Moldavi und Belial, die stets eine Schneise aus Gewalt und toten Sterblichen hinter sich zurückließen, ekelten ihn an. Voss mochte ein Geschöpf sein, das sich nur um sich selbst kümmerte, aber er empfand immer noch Achtung vor den Menschen, im Gegensatz zu Moldavi und seinesgleichen – die Kinder ausgeblutet auf offenem Feld sterben ließen.

Insbesondere Moldavi gelüstete es nach dem Blut von jungen, jungfräulichen Knaben.

„Woodmore ist hier in England“, sagte Cale und überraschte Dimitri damit. „Er hat Kontakt zu mir aufgenommen. Man muss annehmen, dass Narcise bei ihm ist, aber er hat davon in seinem Schreiben an mich nichts erwähnt. Er war vorsichtig. Niemand sonst würde wissen, dass der Brief von ihm stammt.“

„Moldavi möchte seine Schwester wiederhaben, und er wird alles Erforderliche tun, um sie wiederzubekommen – und das schließt auch ein, eine Pause bei Napoleon einzulegen, dem er gerade die Eier wund leckt. Woodmore wird es auf keinen Fall riskieren, entdeckt zu werden. Dafür ist er zu verteufelt schlau.“

„Wir sind im Gasthof in Reither’s Closewell verabredet.“

Dimitri warf seinem Freund einen scharfen Blick zu, aber Cales Gesicht verriet nichts, absolut gar nichts. Und das sagte alles. 

Chas Woodmore konnte von der gemeinsamen Vergangenheit zwischen Narcise und Cale nichts ahnen, wenn er ausgerechnet diesen um Hilfe bat. Satans blutige Gebeine. Wenn Woodmore ein bisschen geduldiger gewesen wäre und auf Dimitris Hilfe gewartet hätte, für die Mission, Moldavi zu töten, würde keiner von ihnen in diesem Schlamassel hier stecken.

„Wenn du ihn siehst, dann sag Woodmore, er soll seinen Hintern nach London bewegen und sich um seine Schwestern kümmern. Du kannst dich ja um Narcise kümmern“, schlug er vor.

„Über meine verdammte schwarze Seele“, entgegnete Cale. „Sie ist jetzt Woodmores Problem.“