FÜNF
~ In welchem unser Held so manches offenbart ~
Maia schreckte aus dem Schlaf hoch.
Sie hatte nicht bemerkt, dass sie dann doch eingeschlafen war, trotz ihrer Sorge um Angelica und Chas, aber genau das war wohl passiert, denn draußen lag die Welt nun im Dunkeln – oder im silbrigen Mondlicht.
Das Herz hämmerte ihr in der Brust, und ihre Haut war heiß und verschwitzt. Sie saß kerzengerade im Bett. Dann fasste sie sich an die Schulter, die Seite ihres Halses, an ihre Kehle. Ihr Puls raste immer noch, als sie ihr Spiegelbild in dem Spiegel auf der anderen Seite des Zimmers anschaute.
Nichts. Da war gar nichts.
Ihre Schulter und ihr Hals wurden zu ihr zurückgeworfen, blass und fast gespenstisch, mit einem kleinen Schatten dort an ihrem Schlüsselbein, aber glatt und makellos. Der lange Zopf ihres Haars hing ihr über einer Schulter und zeichnete einen dunklen Streifen auf ihr blassrosa Leibchen, das sie nachts trug. Maias Augen sahen wie große dunkle Kreise aus, und ihr Mund war ein blasses Echo davon.
Es war so real gewesen. Das Brennen seines Mundes, wie er über ihre Lippen glitt, diese schmeckte und an ihnen saugte ... die Hitze war überwältigend, floss durch sie hindurch, so dass das Leibchen ihr nun an der feuchten Haut klebte. Seine Lippen waren an ihrem Kiefer entlang gewandert, zu ihrem Ohr, an der weichen Kurve ihres Halses hinunter ... und dann auf einmal diese Schmerz-Lust, als seine langen Zähne in ihre Haut bissen, und das Blut hervorströmte, das direkt darunter in den Adern floss. Sie erinnerte sich an den Traum, erinnerte sich, wie sie sich zurückgelehnt hatte, geseufzt hatte, gefühlt hatte, wie die schimmernde Wärme aus ihren Adern tropfte, als sein heißer Mund sich dort auf ihre Haut legte und trank. Leckte. Liebkoste.
Sie berührte ihren Hals noch einmal, dort, an der Seite, zog dann die Hand weg und schaute sie an, suchte, aber fand daran kein Blut. Sie strich sich mit den Fingern über die Lippen, wie um sich noch einmal zu küssen. Ihr Herz hämmerte immer noch, und ihre Brust fühlte sich warm und voll an. Und dort unten, ein insistierendes Pochen, das sie heiß an ihren lebhaften Traum erinnerte.
Es rief ihr wieder das schockierende Intermezzo mit dem Karobuben ins Gedächtnis ... so warm und schmelzend. Intensiv.
Die Bettdecke musste Maia nicht zurückschlagen. Sie hatte sie wohl schon während des Traums von sich geworfen. Sie ließ ihre Füße auf den Boden gleiten und war erleichtert, dort das relativ kühle, gebohnerte Holz zu spüren. Im Sommer brauchte sie keinen Teppich, um den Boden zu wärmen. Ihr Leibchen fiel ihr in einer zarten Wolke bis zu den Füßen, löste sich etwas und ließ ein wenig kühle Luft über ihre erhitzte Haut streichen.
Der Traum ging ihr nicht aus dem Sinn; und Maia stellte fest, dass sie im Gegenteil an den Erinnerungen daran festhielt, die drohten, wie zerrissene Spinnweben sachte davonzuschweben. Sein Gesicht hatte sie nie gesehen, das von diesem Mann im Schatten, der zu ihr kam. Sie hätte schwören können, sein Gewicht hatte sie nur Sekunden zuvor in die Matratze hineingedrückt. Sie spürte noch den Abdruck seines Körpers auf ihrem. Schwer. Heiß.
Aber sie war allein im Zimmer, so viel stand fest. Ganz eindeutig das Opfer ... oder vielleicht war Empfängerin ein besseres Wort ... von einem Traum. Ein sehr lebhafter Traum, aber nichtsdestotrotz nur ein Traum.
Und warum träumte sie nur von Geistervampiren, die sie in ihrem Zimmer heimsuchten, da sie heute doch so gute Nachrichten erhalten hatte? Maia konnte es nicht verstehen. Sie hatte endlich die Mitteilung erhalten, dass Alexander nach Hause kam und in etwa einer Woche da sei. Vielleicht auch schon früher.
Bevor sie seinen Brief öffnete, war ihr kurz bang gewesen. Beinahe hätte sie ihn beiseite gelegt, um ihn später, nachts, zu öffnen, wenn, falls, es sich um schlechte Nachrichten handelte – falls er es sich anders überlegt hatte oder nicht zurückkam –, sie damit allein in ihrem Zimmer hätte bleiben können. Das Letzte was sie Corvindale sehen lassen würde, war ihre Erniedrigung oder ihre Trauer.
Sie hatte ihn in der Hand gehalten, den zerknitterten Umschlag angeschaut, zusammengefaltet und ein bisschen staubig und schmutzig von seiner langen Reise, und überlegte, wie sie reagieren würde, wenn es sich um schlechte Nachrichten handelte. Was sie tun würde, um ihren Schmerz zu verbergen. Und dann fragte Maia sich, warum sie sich solche Sorgen machte. Alexander hatte ihr keinen Anlass gegeben zu glauben, sie stünde nicht hoch in seiner Achtung. Gewiss, es hatte damals einen ganz kleinen Hauch von Skandal um ihren Namen gegeben, nach dem Zwischenfall mit Mr. Virgil, aber sie war seither so vorsichtig gewesen, der Inbegriff der guten Sitten schlechthin. Alexander war erst über ein Jahr danach in Erscheinung getreten, und wenn er davon hatte flüstern hören, schien ihm der Zwischenfall nichts auszumachen.
Aber sollte er die Verlobung lösen ... Maias Magen verkrampfte sich. Sie hatte auch ihre Eltern verloren, und, obwohl das hier nichts wäre, im Vergleich zu dem Schmerz von damals, würde es sie zerschmettern. Die Verlobung war schon bekanntgegeben worden. Es wäre ein Skandal, wenn sie gelöst würde, aus welchen Gründen auch immer. Ein schrecklicher Skandal.
Als sie den Brief öffnete und seine kurze Mitteilung las, verflog ihre Furcht: Ich werde binnen Wochenfrist zu Hause sein. Endlich.
Das klang, als hätte er sie vermisst, oder etwa nicht?
Genau in dem Moment hörte sie ein Geräusch unten auf der mondbeschienenen Straße. Es klang wie eine Kutschentür, die sich öffnete, und Maia rannte zum offenen Fenster, als sie Stimmen hörte. War Angelica zurück?
Sie schaute hinunter und sah eine weibliche Gestalt in Umhang und Kapuze die Treppe vor dem Haus hochgehen, während die Kutsche davonfuhr. Bitte lass es Angelica sein!
Maia zögerte nicht. Sie schlüpfte leise aus ihrem Zimmer, achtete nicht auf ihre nackten Füße und das wehende Nachthemd, sondern eilte leise den Flur hinunter zur Treppe hin. Als sie die streng eckig gebaute Treppe schon halb hinabgeeilt war, machte sie auf dem Treppenabsatz einen Stock tiefer Halt, sie kannte die Stimmen da unten.
Nicht Angelica.
Eine Tür schloss sich dort unten, und sie hörte wie entschlossene Schritte aus der Richtung vom Arbeitszimmer des Earl hier entlang kamen. Die letzte Person, der Maia jetzt begegnen wollte, war Corvindale, also machte sie kehrt und stieg schon die Treppe wieder hoch. Sorge und Enttäuschung waren an Stelle der Hoffnung getreten, die sie so jäh erfasst hatte, aber dann hörte sie etwas, was sie innehalten ließ.
„–von Dewhurst“, stieg eine unbekannte, weibliche Stimme leise bis zu ihr hoch.
„Was ist die Botschaft?“, erwiderte der Earl, seine Stimme war klar und deutlich zu hören, bis zu ihr hin.
Maia kroch wieder zurück zu dem Treppenabsatz, und dann noch die nächste Treppe nach unten, und war sich wohl bewusst, dass man ihre nackten Füße dort sehen konnte, wenn man von der Eingangshalle nur hochblickte. Schaut nicht hoch.
„Er bittet Sie zu kommen, das Mädchen zu holen“, sagte die Frau, die offensichtlich nur eine Botin war. „Im Black Maude’s.“
Corvindale stieß einen kurzen, vulgären Fluch aus. „Sie ist im Black Maude’s?“
Maia sah gerade noch seinen Kopf, als er auf dem Absatz kehrtmachte und loslief, sie nahm an, wieder den Flur hinunter, um sich für die Abfahrt bereit zu machen.
„Warten Sie!“, sagte Maia und raste die Treppen hinab.
Er wandte ihr das Gesicht zu, und ihre Blicke trafen sich, als sie hinuntereilte, und für einen Moment blieb Maia einfach die Luft weg. Er.
Nein, unmöglich. Sie zwang sich zu atmen, ihre Aufmerksamkeit von seinen dunklen, glitzernden Augen wegzureißen. Er hatte eine weißes Hemd an, das schon etwas zerknittert war, und ein loses Halstuch, wie immer.
„Miss Woodmore“, sagte er, aber seine Stimme klang nicht ganz so gefühlskalt wie sonst. „Ich nehme an, Sie haben die Unterhaltung eben gehört.“
„Ich komme mit Ihnen“, sagte sie.
„Nein“, setzte er an, aber sie unterbrach ihn.
„Doch. Sie ist meine Schwester. Vielleicht braucht sie mich. Wer weiß...“, die Stimme drohte ihr zu versagen, eine Mischung aus Verzweifelung und Angst machte sie schwach. „Wer weiß, was er ihr angetan hat.“
Corvindale hielt ihrem Blick viel zu lange Stand und sagte dann abrupt, „Sie haben drei Minuten, um sich anständig anzukleiden.“ Er drehte sich um und schritt davon.
Maia schaute an sich hinunter. Für einen Moment hatte sie vergessen, wie wenig sie am Leib trug, und bemerkte, dass das Mondlicht sich über sie ergoss und über den dünnen, durchsichtigen Stoff sowie ihre nackten Füße.
Drei Minuten würde ihr niemals reichen, aber sie musste es schaffen. Sie bezweifelte keinen Augenblick, dass Corvindale ohne sie abfahren würde.
~*~
Dimitri hatte nicht damit gerechnet, dass die stets korrekte Miss Woodmore rechtzeitig zurück wäre, also war er überrascht und verärgert, als sie exakt drei Minuten später die Treppe herunterhastete. Das war es an ihr. Sie überraschte ihn immer wieder aufs Neue mit ihrer Sturheit und, so ungern er das zugab, ihrem Verstand. Selbst wenn er den großen Earl herauskehrte, gab sie keinen Zentimeter nach.
Ein kurzer Blick verriet ihm, dass sie ihre Schuhe in der Hand trug, und dass ein weiter Umhang da über ein Kleid gezogen war, von dem er vermutete, es sei hinten nicht ganz zugeknöpft, Luzifer noch mal, und er bereute es für einen Moment wirklich bitterlich.
Wenn er ihr ein wenig mehr Zeit gelassen hätte, müsste sie hier nicht lediglich halb bekleidet stehen. Obwohl – egal, was sie nun übergezogen hatte, alles war besser als jenes durchsichtige Ding da, das sie vorher angehabt hatte.
Wortlos wies er sie an, ihm zum Seitenausgang zu folgen, wo sein Lakai mit dem Landauer wartete. Er hatte es aus einer Reihe von Gründen vorgezogen, sich in einer geschlossenen Kutsche fahren zu lassen, anstatt selber zu fahren – der geringste davon war, noch ein paar Hände zur Verfügung zu haben, sollte das für die Befreiung von Angelica vonnöten sein. Aber als er nun in das sehr kleine, sehr enge Kutscheninnere mit Miss Woodmore einstieg, bedauerte er diese Entscheidung. Er hätte Iliana noch mitnehmen sollen, denn sie war in einem Kampf genauso nützlich wie ein Mann. Und für eine sterbliche Frau schwang sie den Holzpflock recht gut.
Seine Begleiterin, eine sterbliche Frau aus ganz anderem Holz geschnitzt als Iliana, aber genauso starrköpfig und stur, zog sich gerade ihre Schuhe an. Der Umhang war ihr von den Schultern gerutscht und bestätigte es: ja in der Tat, ihr Kleid saß etwas locker, weil es hinten nicht richtig zugeknöpft war. Aus dem, was er über die derzeitige Mode wusste, war es sehr unwahrscheinlich, dass sie die Zeit gefunden hatte oder auch nur in der Lage war, sich ein Korsett anzuziehen, und das war ein sehr unangenehmer Gedanke.
Dimitri lehnte sich ihr gegenüber in seinem Sitz zurück und ließ seine Augen woanders ruhen. Egal wo, nur nicht dort.
Sein abgewandter Blick nützte ihm jedoch nicht viel, denn auf so engem Raum konnte man die Gegenwart dieses verflixten Weibes schlicht nicht ignorieren. Der Duft von einem Gewürz wie Kardamom oder vielleicht etwas noch Exotischeres mischte sich mit einem süßen, blumigen Duft wie Maiglöckchen, darunter dann noch weiblicher Moschus und die gestärkte, saubere Baumwolle ihres Kleids, und alles zusammen wurde übermächtig – es gelang ihm nicht, es zu ignorieren. Wie zur verfluchten Hölle noch mal konnte eine Frau wie ein ganzes Gewürzbord riechen und wie ein Garten dazu, und immer noch so verlockend sein?
Es war entweder der Schlaf oder das übereilte Ankleiden, was ihren Zopf etwas zerzaust hatte, so dass einzelne Locken dort heraussprangen, wo er ihr über die eine Schulter hing.
Eine Schulter aus zartblau geädertem Elfenbein, nackt und makellos.
Mit einer eleganten Kurve. Und einem Hauch von Mondlicht und dann Schatten und dann die Straßenlaterne, als die Kutsche sich bewegte.
Dimitri riss den Blick von ihr. Er schluckte mehrmals, fühlte, wie sein Gaumen pochte, als er versuchte, seine Zähne dort drinnen zu behalten und auch seinen restlichen Körper unter Kontrolle zu halten. Satans schwarze Knochen, er benahm sich genau wie ein kleiner, dummer Junge bei seiner ersten Hure. Selbst mit Meg hatte er nie solche Probleme gehabt, die Kontrolle zu behalten.
Er drückte sich nach hinten gegen das Sitzpolster, drehte sich leicht, so dass seine linke Schulter dort gegen die harte Kante am Polsterrand gedrückt wurde, und presste das pochende, schmerzhafte Teufelsmal dagegen und erhöhte somit den Schmerz, diese unsägliche Pein, die ihn stets begleitete. Die heftige, beißende Antwort war eine willkommene Ablenkung.
Und doch ... seine Gedanken ließen sich nicht so leicht unterdrücken. Es wäre ein Leichtes, hinüberzureichen und seine Hände um diese glatte, zarte Haut zu schließen. Sein Gesicht wieder dem ihren zu nähern, ihre Lippen noch einmal zu kosten, seine Hände mit dem Fleisch, weich wie Seide, zu füllen. Himmel! Seine Nasenflügel weiteten sich automatisch, als sie sich erneut bewegte, was eine Duftwolke von ihrem Geruch zu ihm rüberwehte und wodurch sich ihr Gewand aufreizend verschob.
Unter Auferbietung aller Kräfte hielt er seine Augen davon ab, rot und hungrig zu glühen. Seine Zähne waren jetzt lang, aber immer noch versteckt. Es ist zu lange her.
Einhundertunddreizehn Jahre. Drei Monate. Fünf Tage.
Sein Mal zwickte ihn, heiß und schmerzhaft.
Eigentlich sollte es doch mit der Zeit leichter werden. Es sollte doch möglich sein, etwas nicht zu brauchen, was er so lange nicht mehr gehabt hatte – insbesondere, weil er nicht länger den Fehler beging sich auszuhungern. Aber das Wasser lief ihm im Mund zusammen, und das Herz hämmerte ihm in der Brust. Seine Haut prickelte, und darunter spannten sich seine Muskeln an, als würden sie sich zum Sprung bereit machen.
Es war ihre Nähe. Die Tatsache, dass sie beide sich hier in diesem Gefährt so nah, fast intim, waren. Die Tatsache, dass er sich erst gestern von ihr hatte verleiten lassen, diese verdammten, vollen, süßen Lippen zu küssen.
Sein Unbehagen rührte unter anderem auch daher, dass Dimitri, kurz bevor der Bote von Voss gekommen war, etwas geträumt hatte. Zusammengesunken auf einem Stuhl in seinem Arbeitszimmer hatte er geträumt, dass er sich über einen schlanken Körper wie aus Elfenbein beugte, seine Hände auf weibliche Rundungen legte, die Wärme ihres Mundes kostete ... sich in einen jungfräulichen, weißen Hals verbiss, das süße Lebenselixier trank, während sie stöhnte und sich wand, sich drückte, gegen–
„Wohin fahren wir?“
Miss Woodmores Frage riss Dimitri aus dem dunklen Strudel seiner Gedanken. Er schluckte, dankbar für die Unterbrechung. Angelica. Im Black Maude’s. „Billingsgate.“
Sie hatte sich den Umhang wieder über die Schultern gezogen und machte nun einige seltsame Verrenkungen, bis er begriff, dass sie gerade versuchte, ihr Kleid zuzuknöpfen.
Dimitri gab einen kurzen, ärgerlichen Laut von sich. „Drehen Sie sich um, Miss Woodmore“, sagte er. „Gestatten Sie.“
Ihr Blick flog nach oben zu seinem, aus ihren Augen von unten, dort, ihr gesenkter Kopf, was sie noch schockierter aussehen ließ. „Ich denke nicht–“
„Es wäre besser, wenn Sie das nicht täten. Denken“, fügte er als Erklärung hinzu, ein Appell, der sich an sie, aber auch an ihn selbst richtete. Denn, als sie schnaubte und sich umdrehte, um ihm ihren Rücken darzubieten, zitterten ihm die Hände, denen er soeben die Handschuhe abgestreift hatte.
Es war vielleicht nicht die intelligenteste Entscheidung, die er je getroffen hatte, aber diese ganze Farce hatte schon vor sechs Jahren mit einer törichten Entscheidung begonnen, als er zugestimmt hatte, Vormund für Chas Woodmores Schwestern zu sein. Das war gewesen, bevor er eine von Ihnen getroffen oder zu Gesicht bekommen hatte.
Nicht, dass er Chas Woodmore die Bitte abgeschlagen hätte, so oder so. Besonders, wenn er sie gesehen hätte. Denn Dimitri tat immer das Richtige. Er tat, was die Ehre verlangte, trotz der brennenden Erinnerung seines Teufelsmals, dort an seiner Schulter.
Miss Woodmores Haut war warm.
Es war nicht, dass er sie direkt berührte, aber er konnte sie durch den dünnen Stoff spüren. Und vielleicht strich auch eine Fingerspitze über diese seidige Glätte, als er den obersten Knopf an ihrem Hals zuknöpfte. Womöglich hatte auch ein Finger die sanfte Kurve dort an ihrer Schulter berührt. Ganz und gar nicht wie seine, über die sich Luzifers Zeichen wie ein Wurzelwerk aus verknoteten, vernarbten Wurzeln spannte, hie und da von Härchen besetzt.
Er war schnell, seine Finger geschickt, und die Zähne waren ihm so lang, dass sein Gaumen wehtat, füllten seinen gesamten Mund aus. Ihr Duft, die sanfte Berührung von ihrem Haar dort hinten an ihrem Nacken, die Wärme, die ihre Haut verströmte, und die Bestätigung, dass sie kein Korsett trug, ließen ihm rot vor Augen werden.
Er musste sich nicht daran erinnern, wer sie war: sein Mündel, das er geschworen hatte zu beschützen. Eine Sterbliche. Eine Göre, die ihn aus unerfindlichen Gründen zur Weißglut trieb. Eine junge Frau, die sich auf ihre Vermählung mit einem respektablen Gentleman vorbereitete. Die Schwester von einem seiner Freunde.
Nein, es war nicht, wer sie war oder wer sie nicht war, denn wenn Dimitri sie – oder irgendjemanden – gewollt hätte, würde er sie kriegen. Er würde sie einlullen und sie verführen und sie langsam hineingleiten lassen. So einfach war das, und verflucht sei jeder, der sich ihm in den Weg stellte.
Aber er wollte nicht. Nichts. Und. Niemanden.
All das hatte er schon vor Jahrzehnten aufgegeben. Er war eine Insel.
Und das würde er bleiben, bis er einen Weg fand, um wieder das zu werden, was er einmal gewesen war. Oder bis er starb.
Sobald Dimitri fertig war, nahm er rasch seine Hände von ihr und zog sich in die hinterste Ecke seines Sitzes zurück, und dort verfluchte er Voss aufs Neue, für alles, was ihm nur in den Sinn kam: die Entführung Angelicas, für das, was er ihr in der Zwischenzeit angetan haben mochte, und dafür, sich ein Versteck so weit entfernt von Blackmont Hall auszusuchen, dass die Fahrt eine Ewigkeit zu dauern schien.
„Werden Sie mir erzählen, was hier gerade geschieht?“, fragte Miss Woodmore ihn jetzt mit lauter Stimme. Anscheinend galt für sie: richtig bekleidet, gut bewaffnet.
„Ich bin nicht sicher, ob ich weiß, was Sie meinen.“ Selbst in seinen Ohren klang Dimitri gelangweilt, und er wurde damit belohnt, dass seine Begleiterin sich kerzengerade aufsetzte und vor Empörung und Zorn fast zitterte. Ihre Augen sprühten Funken, sie fauchten geradezu, und sie war nicht einmal eine Drakule.
„Das wissen Sie sehr wohl, Mylord. Denn dumm sind Sie wahrlich nicht. Waren das gestern Abend auf dem Ball wirklich Vampyre?“
Verflucht und verdammt und Luzifers Haupt auf einem Pfahl. Hatte das Personal etwa geplaudert? Natürlich waren sie im Bilde über ihren Herrn und dessen Lebenswandel, aber sie wurden gut dafür bezahlt, den Mund zu halten – ganz besonders, wenn Mirabella in der Nähe war, die keine Ahnung von ihrer Vorgeschichte mit den Drakule hatte. Als er sie aufnahm, war sie noch zu klein gewesen, sich an irgendetwas zu erinnern. Oder war Iliana eine Information entwischt?
Dimitri machte eine ungeduldige Handbewegung. „Wenn Sie es unbedingt wissen müssen, ja. Ich beantworte Ihnen Ihre Frage am besten gleich, sonst geben Sie nie Ruhe.“
Miss Woodmore schnappte deutlich hörbar nach Luft und sank wieder zurück in ihren Sitz. Anscheinend hatte sie nicht mit einer derart offenen Antwort gerechnet. „Vampyre? Es gibt sie wirklich? Sie existieren tatsächlich? Warum sind wir vor ihnen in Gefahr?“
Er zögerte einen Moment und wählte dann den Weg des geringsten Widerstandes – in diesem Fall hieß das, der Pfad, wo weniger Fragen auf ihn lauerten. „Cezar Moldavi ist ein Vampir, und weil er wütend auf Ihren Bruder ist, sucht er jetzt nach Ihnen und Ihren Schwestern.“ Er benutzte den englischen Ausdruck für die Drakule, ungeachtet der Tatsache, dass Miss Woodmore aus irgendeinem Grund über die ungarische Aussprache Vampyr unterrichtet war.
„Sonia ebenfalls?“, sagte sie erschrocken, ihre Augen wurden weit. Sie sah aus, als würde sie gleich von ihrem Sitz aufspringen und nach Schottland losrennen.
„Beruhigen Sie sich, Miss Woodmore. Ich habe bereits für die Sicherheit Ihrer jüngsten Schwester gesorgt, und habe auch Vorkehrungen getroffen, dass dem so bleibt. Eine Klosterschule ist ein ausgezeichneter Ort für jemanden, der sich vor Vampiren verstecken möchte. Sie können eine derart heilige Schwelle nicht übertreten.“ Er beobachtete sie nun scharf, wobei er sich zwang, nicht auf das verstärkte Pochen an seiner Schulter zu achten. „Vielleicht wollen Sie ihr Gesellschaft leisten.“
„Wahrlich nicht!“, entgegnete sie, und ihr schockierter, angstvoller Gesichtsausdruck verschwand. „Ich weiß, Sie wünschen sich, Angelica und ich würden Ihnen nicht länger zur Last fallen – und das teilen Sie mit anderen, denn es wäre auch mein innigster Wunsch. Aber ich lasse mich nicht nach St. Bridies abschieben. Alexander – Mr. Bradington – wird in einer Woche zurück sein, denn ich habe gerade heute einen Brief von ihm erhalten und–“
„Ah, ja. Der einstige Bräutigam kehrt nach langer Fahrt auf unser kleines Eiland wieder.“ Ein Anflug von Widerwille verdarb ihm den Magen. Nur zu, von ihm aus konnte der Mann sich diesen Zankteufel nur holen, der da vor ihm saß. „Ich nehme an, Sie werden Damenschneider ins Haus holen, und mit Blumenverkäufern und Zuckerbäckern reden, und es wird jede Menge Dinge geben, die meinen Haushalt auf den Kopf stellen, jetzt, da Sie weiterhin meine Bibliothek umsortieren.“ Er starrte wütend zum Fenster hinaus und achtete nicht darauf, wie das Mondlicht ihr Haar von einem satten Kastanienbraun in Silber verwandelte.
Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Dimitri hatte Angst, sie aussprechen zu lassen. „Wir sind fast da“, sagte er und rückte sich auf seinem Sitz zurecht und wandte ihr sein grimmiges Gesicht zu. „Sie werden in der Kutsche bleiben, Miss Woodmore. Das Black Maude’s ist kein Ort für eine respektable junge Dame.“
Ihr spitzes Kinn schoss hoch, als hätte jemand es an einem Faden hochgezogen, und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. „Meine Schwester–“
„Miss Woodmore“, sagte er, und gestattete es seiner Stimme, leise und samtweich zu werden, „von allen Leuten können Sie wohl am besten verstehen, was einer Frau passieren kann, die dort gesehen wird, wo sie nicht gesehen werden sollte.“ Sein Blick durchbohrte sie. „Nicht wahr?“
Selbst in dem schlechten Licht konnte er die ganze Bandbreite an Gefühlen sehen, die ihr über das Gesicht schossen: Schock, zuerst – das unwillkürliche Erbleichen, die weit aufgerissenen Augen und der offene Mund. Dann Demütigung und Verlegenheit, als sie versuchte, das Kinn oben und ihre Augen unverwandt auf ihn gerichtet zu behalten. Und zuletzt dann noch Wut.
„Sie erinnern sich also daran“, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Ah, diese Frau blickte der Gefahr immer ins Gesicht, ganz besonders, wenn sie mit dem Rücken zur Wand stand. Das musste er ihr lassen. „Wie freundlich von Ihnen, mich an meinen Fast-Fehltritt zu erinnern. Wie lange ist es her, drei Jahre?“
Dimitri streckte Hände und Finger in einer blasierten Geste von sich. „Ich erinnere mich nicht an alle Einzelheiten“, sagte er. „Außer, dass Sie Knabenkleider trugen, das Haar unter einen Hut gestopft, und gerade dabei waren, in einer sehr verrufenen Ecke vom Haymarket unterzutauchen.“
Und der Mann, der sie dorthin mitgenommen hatte, der eierlutschende William Virgil, hätte sie kompromittiert, wenn man sie dort gesehen hätte – oder noch schlimmer. Viel schlimmer.
„Ich war mir nie sicher, ob Sie mich damals erkannt haben oder nicht“, sagte Miss Woodmore mit überraschend eingeschüchterter Stimme. „Ich hatte eigentlich gehofft, dass niemand mich erkannte hätte.“
Aber Dimitri hatte Miss Woodmore in der Tat erkannt – an ihrem Geruch, als er an ihr vorüberging, was – so nahm er an – der Grund dafür war, dass der Geruch ihm jetzt derart in der Nase brannte, dass es ihm nicht gelang, ihn zu ignorieren, hol’s der Teufel! Ganz besonders dann nicht, wenn sie so eng beieinander saßen wie hier in dieser verfluchten Kutsche.
Miss Woodmore erinnerte sich nicht an viel von jenem Abend; dafür hatte Dimitri später dann gesorgt, indem er seinen Zauber, seinen Bann, anwendete. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie tatsächlich ein Etablissement betreten hatte, dass sich nicht übermäßig vom Black Maude’s unterschied. Ein Etablissement, das die Geschmäcker junger Männer bediente, die junge, ja, jungfräuliche Frauen haben wollten. Widerstrebende, junge, jungfräuliche Frauen.
Je mehr sie widerstrebten, desto besser.
Es war ein Ort, den sie niemals mehr verlassen hätte, wenn Dimitri nicht dazwischen gegangen wäre.
Und Miss Woodmore erinnerte sich sicherlich nicht mehr daran, wie drei Männer und die Betreiberin versucht hatten, Dimitri davon abzuhalten, sie fortzuschaffen. Und wie er Miss Woodmore einfach hochgehoben hatte, während er seine Reißzähne entblößte und seine Augen rot glühen ließ. Nachdem er mit roher Gewalt auf diese widerwärtigen Leute eingedroschen hatte.
Und wie nah er dran gewesen war, seine Reißzähne zu benutzen, zum ersten Mal seit hundert Jahren. Nicht um zu trinken, sondern um zu zerstören. Um sie in Stücke zu reißen.
Nein, Miss Woodmore konnte sich nicht daran erinnern, wie er ihren Körper in seinen Knabenkleidern sicher in seinen Armen, hinaustrug, und nicht darauf achtete, dass er da unter ihrem zerrissenen Hemd skandalös offen zur Schau gestellte Frauenkurven in Händen hielt. Das Einzige, woran sie sich später erinnern würde, war, wie er ihr in eine Kutsche geholfen und sie zu Chas Woodmore zurückgebracht hatte.
Das war die erste Kutschfahrt gewesen, in der er zum Opfer von Miss Woodmores scharfer, widerspenstiger Zunge wurde.
Durch seine Umsicht und sein rasches Handeln bestand der gesamte Skandal darin, dass Maia nachts, ohne Anstandsdame und in Hosen, in Begleitung eines nicht respektablen Gentlemans gesehen worden war – und das auch nur vom Earl von Corvindale. Und er ließ sich selbstverständlich nicht dazu herab, zu tratschen.
Dimitri betrachtete das Ganze als einen Gefallen gegenüber Chas, indem er so gehandelt hatte, und einen Gefallen, gegenüber Miss Woodmore, indem er ihrem Bruder nie die Details erzählt hatte. Es war wirklich ärgerlich, dass sie nicht wusste, was er schon alles für sie getan hatte, denn sonst wäre sie vielleicht etwas dankbarer ihm gegenüber, dachte er missgelaunt, während er sie betrachtete.
Aber nein, dachte er dann, er bezweifelte ernsthaft, ob sie das je sein könnte.
„Ich habe mich immer gefragt, was Sie sich nur dabei gedacht haben, so etwas Törichtes zu tun, Miss Woodmore“, sagte er mit der Stimme eines Schulmeisters zu einem Schüler. „Sie, die Sie dafür bekannt sind, wie strikt Sie alle Auflagen der guten Gesellschaft erfüllen, und Sie, die sich nicht einmal im Traum zwei aufeinander folgende Tänze mit dem gleichen Tanzpartner an einem Abend gestatten würden. Oder die nie ohne Handschuhe gesehen wird, selbst wenn ein kleines Malheur mit dem Tintenfass einen Klecks darauf verursacht hätte. Und gab es da nicht einmal die Gelegenheit, wo Sie sich weigerten – aber ganz die höfliche junge Dame – mit Herrn Gilbertson zu reden, weil Sie sich noch nicht offiziell vorgestellt worden waren?“
Und dann war alles wieder beim Teufel, denn sie schaute ihn plötzlich an. Scharf. Ihre Augenlider halb gesenkt, und ein unangenehmes Glitzern dort. „Meine Güte, Lord Corvindale. Ich hatte ja keine Ahnung, wie genau Sie über meinen guten Ruf wachen.“
Eine Antwort wurde ihm glücklicherweise erspart, weil die Kutsche in der dreckigen Gasse hinter dem Black Maude’s anhielt. Dimitri verlor keine Zeit damit, seinen Abgang zu machen.
~*~
Maia bemühte sich nicht, das Geräusch ihrer verärgerten Schritte zu dämpfen, als sie sich der Tür von Corvindales Schlafzimmer näherte. Es geschähe ihm Recht, wenn er sie schon den Korridor entlanggehen hörte.
Mittag war schon lang vorbei, heute, am Tag nachdem sie Angelica aus diesem schrecklichen, schmutzigen, verrufenen Ort namens Black Maude’s gerettet hatten, und Maia hatte es satt, darauf zu warten, dass der Earl geruhte, endlich aufzuwachen. Sie musste mit irgendjemanden über ihre Schwester sprechen, über das, was geschehen war.
Sie konnte es kaum fassen. Es war einfach unvorstellbar, dass Angelica nicht nur von einem dieser Vampyre gebissen worden war ... aber dass es sich dabei auch noch um Lord Dewhurst handelte. Wie konnte das sein? Wie konnte ein Mitglied der besten Londoner Gesellschaft ein Vampyr sein?
Da gab es diese Kreaturen – die, so unwahrscheinlich das auch schien, tatsächlich existierten. Und sie waren hinter ihr und ihrer Schwester her, niemand wollte ihr irgendetwas erzählen, und ihr Bruder war verschwunden, und Alexander kam nach Hause zurück, aber sein Brief hatte ihr im Grunde nichts gesagt, was ihr bewies, er liebte sie immer noch ... und sie fühlte sich so einsam.
So einsam.
Maia musste schlucken, als eine Verzweiflungsträne ihr in den Augenwinkeln brannte. Sie wollte sich nicht mehr um all das hier kümmern. Sie wollte all das hier – was auch immer es war – nicht mehr alleine bewältigen müssen. Sie wusste schlicht nicht wie. Sie verstand es nicht.
Und sie hatte Angst, richtige Angst. Vampyre, die Menschen bei einem Maskenball angriffen und töteten, und einer von ihnen war ein Mitglied der Hocharistokratie. Und dann entführte einer von ihnen ihre Schwester! Laut Angelica war Dewhurst – oder Voss wie sie ihn nannte (schon das allein war ein Warnsignal) – nicht einer der wütenden, bösen Vampyre, die beim Sterlinghouse Ball drei Menschen getötet hatten. Daraus schloss Maia, dass Angelica jetzt etwas für diesen Mann empfand, nur um dann herauszufinden, dass er nicht nur ein Wüstling, sondern auch noch ein Vampyr war.
Das war ganz sicher jemand, dem Angelica nie wieder begegnen sollte.
Maia schüttelte den Kopf und schluckte noch einmal und blinzelte mehrmals. Sie musste damals mit dem Tod ihrer Eltern zurechtkommen, als sie und ihre Schwestern noch in Kinderkleidern steckten, und musste ihnen helfen, ohne Mama und Papa auszukommen. Chas war so selten da, dass alles an ihr hängen blieb, die ganze Zeit.
Die ganze Zeit. All ihre Probleme. So lange sie denken konnte, hatte sie sich immer um alles gekümmert, und normalerweise machte ihr das auch Spaß. Sie organisierte gerne, löste gerne Probleme, kümmerte sich um Leute. Es gab ihr das Gefühl, dass sie ihr Leben irgendwie unter Kontrolle hatte.
Aber das hier ... das war schlicht zu verworren, als dass sie es alleine lösen könnte. Zu verwirrend und zu gefährlich.
Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Maia Angst.
Und es gab niemanden, an den sie sich hätte wenden können, außer Corvindale. So sehr sie den Gedanken auch hasste.
Sie würde sich vor dem Earl keine Blöße geben, aber er würde ihr endlich ein paar Antworten geben. Wusste er womöglich, dass Dewhurst ein Vampyr war? War das der Grund, warum ihn die kalte Wut gepackt hatte, als Angelica mit dem Viscount verschwunden war?
Empört bei dem Gedanken, dass er ihr diese Information vorenthalten hatte, klammerte sie sich an dieses Gefühl und holte tief Luft. „Corvindale!“, rief sie laut und klopfte entschlossen an seine Schlafzimmertür.
Sie wartete und hörte von drinnen nichts. Aber sie wusste, er war da – Greevely, der Kammerdiener des Earl hatte es ihr gesagt. Sie musste ihn zuerst niederstarren. Diesen Gesichtsausdruck purer Entschlossenheit und Überheblichkeit hatte sie sich angeeignet, nachdem sie sich um die ganzen Geschäfte der Familie kümmern musste, wenn Chas weg war. Er funktionierte immer.
Außer, wie es schien, beim Earl.
„Corvindale! Ich muss mit Ihnen reden!“, sagte sie und klopfte noch lauter und entschlossener. Sie war mehr als geduldig gewesen, darauf zu warten, dass er seine faule Haut aus dem Schlafzimmer bewegte. „Corvindale!“ Es ging um das Wohlergehen ihrer Schwester, ganz zu schweigen von Maias eigenen Sorgen.
„Verschwinden Sie.“ Sein Gebrüll ließ die Balken erzittern, aber Maia ließ sich davon nicht beirren. Sie hatte die ganze Nacht damit verbracht, ihre Schwester im Arm zu halten, so dass Angelica endlich ohne Angst schlafen konnte. Und zweimal war das arme Ding aus Albträumen hochgeschreckt.
Maia holte tief Luft und drehte am Türknauf und öffnete die Tür einen Spalt. Sie fand nicht ganz den Mut, ins Zimmer zu schauen, obwohl sie erkennen konnte, dass es in Dunkelheit getaucht war.
„Corvindale, ich muss mit Ihnen sprechen. Es ist fast zwei Uhr, und ich habe den ganzen Morgen gewartet–“
„Gehen Sie weg, Miss Woodmore. Wenn Sie mit mir reden müssen, können Sie bis heute Abend warten.“
Maia biss die Zähne zusammen. Es war nicht, dass sie in der Vergangenheit nicht auch schon ihren Bruder ein oder zwei Mal aus den Federn gescheucht hätte. Es war eine Sache, bis nachmittags zu schlafen, wenn es im Theater oder in seinem Klub spät geworden war, aber wenn er bis zum Nachmittag keinen Mucks von sich gab, und es drängende Probleme zu lösen galt...
Sie öffnete die Tür noch ein bisschen mehr, und der helle Lichtstrahl des Tages schnitt quer durch das Zimmer bis hin zu dem Fußende eines schweren Holzbetts. Der Raum roch ein bisschen wie Tabak, zusammen mit Zitrone oder Bergamotte und noch etwas anderem, scharf und würzig – vielleicht von seiner Seife oder der Pomade für sein Haar, obwohl sie sich nicht sicher war, dass Corvindale Pomade überhaupt benutzte. Sein Haar sah nie übermäßig glänzend oder steif aus, wie so oft, wenn man derlei Produkte verwendete. Und ganz sicher blieb es nie lange ordentlich an seinem Platz, sondern schien sich immer aufzurollen, dort, an seinen Ohren und in kleinen Locken dahinter.
„Corvindale! Es ist absolut erforderlich, dass ich mit Ihnen spreche. Diese Angelegenheit kann nicht aufgeschoben werden, und wenn Sie nicht herauskommen, dann werde ich hereinkommen.“
Da. Das sollte ihn nun aus den Federn kriegen. Wenn Maia eins über Männer wusste, dann dass sie äußerst ungern Frauen in ihre Schlafgemächer hineinließen.
Ehefrauen und Geliebte waren da wohl eine Ausnahme, nahm sie mal an. Und aus einem unerfindlichen Grund, lief sie hier rot an. Was, wenn er dort eine Frau bei sich hätte? Vor ihrem inneren Auge erschien ein Bild von zerwühlten Laken und einem nackten männlichen Oberkörper neben einer ebenso nackten Frau, und sie wurde tiefrot.
Pflegten unverheiratete Earls den Umgang mit dieser Art von Frauen wirklich unter ihrem eigenen Dach? Oder besuchten sie diese in aushäusigen Etablissements? Oder hatte er eine dauerhafte Geliebte?
Wie ertrug eine Frau es nur, auch nur kurze Zeit mit diesem unhöflichen, herrischen Wesen da drinnen zu verbringen? Sie nahm mal an, wenn sie mit derlei beschäftigt waren, redete er vielleicht nicht allzu viel. Das Gesicht glühte ihr jetzt.
„Ich bin zu Bett, Miss Woodmore, und habe nicht die Absicht, daraus aufzustehen. Wenn Sie darauf bestehen, um diese Zeit mit mir zu sprechen, dann lassen Sie sich nicht von Schicklichkeit davon abhalten, hereinzukommen.“
Nun, das klang, als wäre er dort drinnen alleine. Sie holte noch einmal tief Luft und schob zaghaft die Tür etwas weiter auf, wobei sie mit ihren Fingern an der Tür festhielt. Zum einen, um sie dort in Position zu halten, zum anderen, um sich daran ins Zimmer ziehen zu können. „Mylord, ich muss mit Ihnen bezüglich Angelicas sprechen.“
„Ich fürchte, Sie werden eintreten müssen. Ich kann Sie von hier aus nicht verstehen.“
Ihre Finger gruben sich fester in das Holz der Tür. Sie konnte sich das hämische Lächeln auf seinem arroganten Gesicht genau vorstellen – zumindest würde sie das, wenn sie sich nur vorstellen könnte, dass der Mann zu einem Lächeln fähig war. Und das schien gänzlich unmöglich. Er spielte mit ihr, hänselte sie. Hoffte, sie damit in die Flucht zu schlagen.
Abscheulicher Mann. Ich werde Ihnen zeigen, wer keine Angst vor Ihnen oder Ihrem Schlafgemach hat.
Sie hielt sich immer noch an der Tür fest, als sie nun über die Schwelle trat, und die Tür weit aufstieß. Sie blickte einmal kurz zu ihm hin und dann rasch weg, und ihre Wangen wurden feuerrot.
Er war nackt, und der Anblick, der sich ihr bot, war ihr nun unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt.
Und es war um ein vielfaches faszinierender – nein, nein, einschüchternder – als das Bild, dass sie sich vorhin ausgemalt hatte.
So sehr sie es auch versuchte, indem sie die Augen schloss oder blinzelte und in die dunklen Ecken des Zimmers blickte, das Bild von ihm dort im Bett, wie er da am Kopfende aufgerichtet lehnte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Die Laken waren so weit unten, da unten an seinen Hüften, und eine breite, stark behaarte Brust und muskulöse Arme hoben sich dunkel von den weißen Laken ab. Maia versuchte zu schlucken, und ihr Hals gab einen seltsam krächzenden Laut von sich, weil er so trocken war. Sie verspürte Flattern, überall in ihr. Auch heiße Gefühle brodelten da.
Endlich fand sie die Stimme wieder. „Das hier ist äußerst unpassend.“
„Worum geht es, Miss Woodmore?“ Er forderte sie heraus. Ganz sicher. „Der Anblick vom Oberkörper eines Mannes ist doch gewisslich nicht allzu verstörend für eine Frau, die in Kürze zu heiraten gedenkt.“
„Sie könnten sich bedecken“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Ich sehe keinerlei Veranlassung dazu. Worum geht es nun bei dieser so dringlichen Angelegenheit?“
Er ist wahrhaftig der abscheulichste aller Männer. Sie weigerte sich, ihn anzuschauen. Weigerte sich absolut, dass sie aus den Augenwinkeln den Blick über diese unglaublich breiten Schultern gleiten ließ, die sich so scharf von der hellen Bettdecke abhoben.
Maia fuhr fort und konzentrierte sich auf die Aufgabe, die vor ihr lag, gewissermaßen. „Es ist Angelica. Sie wurde von einem ... von einem dieser Geschöpfe, die zum Maskenball kamen, gebissen. Vampyre. Und sie hatte gestern Nacht schreckliche Alpträume, Mylord. Ich hielt sie die ganze Nacht in meinen Armen, und sie weinte und schlug um sich.“ Ihre Stimme versagte ihr fast, und sie musste mehrmals schlucken, um in gleichmäßigem Ton fortzufahren. Trotz dem Traum von ihr, in dem sie gebissen worden war – ein Traum, eine Erinnerung, die sie immer noch heimsuchten und sich auch in wachen Momenten gewitzt in ihre Gedanken einschlichen, sich dort festgesetzt hatten –, wusste sie, dass Angelicas Erfahrungen, den heißen, sinnlichen aus ihren Träumen in nichts ähnelten. „Sie will mir nicht erzählen, was passiert ist, aber ich befürchte das Allerschlimmste ist eingetreten.“ Wenn Dewhurst ihrer Schwester Gewalt angetan und sie damit kompromittiert hatte, würde Maia ihn höchstpersönlich jagen, Vampyr oder kein Vampyr. Wenn Tante Iliana das irgendwie schaffte, einen Pflock bei sich zu haben und diesen vermutlich auch einzusetzen, dann schaffte Maia das auch. „Ganz zu schweigen...“
Er rührte sich dort im Bett, und sie hörte das Geräusch von frisch gestärkten Laken. „Ich weiß bereits von all dem, was Sie sagen. Und wenn es Sie beruhigt, Ihre Schwester hat mir versichert, dass ... ehem ... dass es keinen Grund gibt, Satisfaktion von Voss zu verlangen, oder dass er das Erwartete tut. Sie ist intakt.“
„Das Erwartete tun. Ich hoffe nicht!“, entfuhr es Miss Woodmore, und sie vergaß ihre guten Vorsätze und schaute ihn an. Sein Gesicht schien jetzt nicht ganz so arrogant, wie sie es sonst kannte. Ließ sich der Mann gar erweichen, oder war das nur, weil er gerade aus dem Schlaf gerissen worden war? „Selbst wenn es zu ... kam, nun ... ich würde es niemals ... Chas würde es niemals ... zulassen, dass er ihr je wieder nahekommt.“ Angelica kompromittiert und mit einem Vampyr verheiratet? Niemals.
„Sie scheinen zu vergessen, dass ich im Moment Angelicas Vormund bin“, sagte Corvindale. Wieder so arrogant wie immer.
Und jetzt war sie auch wieder so wütend auf ihn wie sonst auch. Himmel Herrgott, dass Chas sie und Angelica diesem unmöglichen Mann als zeitweiligen Vormund ausgeliefert hatte. „Wie ich bereits sagte, Mylord, ich würde es nicht zulassen.“
Er bewegte sich, und die Laken fielen noch weiter runter. Maia riss ihren Blick von ihm los, aber nicht bevor sie nicht eine ... oh Gott, eine Hüfte? ... einen flachen, muskulösen Bauch ... und den Schatten von etwas weiter unten gesehen hatte? Sie hatte schon einmal ihre Hände über Alexanders Brust wandern lassen und darunter die Muskeln gespürt ... und einmal auch direkt darunter ... aber sie hatte es nicht wirklich gesehen. Und selbst wenn, sie glaubte nicht, dass es so ... ganz so dunkel aussah. Und so beeindruckend. Und–
Maia schluckte und konzentrierte sich auf die schweren Vorhänge an seinem Fenster. Sie brauchte ein paar Antworten, und die würde sie auch erhalten – selbst wenn dieser Mann nackt aus seinem Bett stiege, zu ihr herüberkam und höchstselbst die Tür schloss. „Was macht mein Bruder denn? Wie lange hat er schon mit diesen Kreaturen zu tun? Und was haben Sie, Mylord, mit der Sache zu tun? Geben Sie sich etwa auch mit denen ab? Wussten Sie, dass Dewhurst einer von ihnen ist?“
„Machen Sie sich keine Gedanken über mich. Alles, was Sie wissen müssen, ist, dass Ihre Schwester hier unter meiner Obhut in Blackmont Hall sicher ist. Was Ihren Bruder betrifft, ... wenn er zurückkehrt, da bin ich mir sicher, wird er Ihnen zumindest ein paar Ihrer Fragen beantworten. Wäre da sonst noch etwas, Miss Woodmore? Diese Unterhaltung scheint es mir schwerlich wert, deswegen meinen Schlaf zu unterbrechen und Ihren guten Ruf aufs Spiel zu setzen. Oder ist das jetzt nicht mehr von Belang für Sie, wo Sie sich nicht mehr auf dem Heiratsmarkt befinden?“
Sie zuckte hoch und drehte sich noch einmal zu ihm hin und blickte ihm genau in die Augen. „Sie sind jenseits von abscheulich, Lord Corvindale“, flüsterte sie, und es kam ihr aus tiefstem Herzen.
Und der Mann besaß noch die Unverfrorenheit, sie doch tatsächlich anzugrinsen. Ein kühles, arrogantes Grinsen.
Sehr wohl, Mylord, also dann. Sie mögen der Gentleman sein, aber ich kenne Mittel und Wege, wie ich genauso unverfroren zurückgrinsen kann.
„Corvindale, ich habe darauf bestanden, mit Ihnen zu reden, weil ich es für wichtig erachtete, Ihnen alle Informationen mitzuteilen. Ich hatte gehofft, Sie besäßen genug Anstand, mir gleichermaßen zu erzählen, was geschehen ist und weshalb. Aber anscheinend können Sie sich nicht einmal diese Mühe machen.“
Sie zog ihre Schultern zurück und legte eine Hand an die Hüfte, wo sie ihre Finger fest in dem Kleid vergrub, anstatt sie ihm um seinen Hals zu legen, was sie liebend gern getan hätte.
Wenn er ihr nicht die Informationen gab, die sie haben wollte, dann würde sie ihm das Leben so schwer wie nur möglich machen, darin inbegriffen würde sie jeden Vorhang vor jedem Fenster in diesem Haus aufzuziehen. Und auf jedem Tisch eine Vase mit Blumen abstellen. Und alle Bücher in der Bibliothek umsortieren. Und... „Ich wünschte auch mit Ihnen zu sprechen, weil es von äußerster Wichtigkeit ist, dass Angelica jetzt so oft und so häufig wie möglich in Gesellschaft gesehen wird, um jedwedes Gerede oder Ondits im Keim zu ersticken, die seit dem Maskenball im Umlauf sein könnten. Das ist der einzige Weg, um ihren guten Ruf zu schützen.“
„Und das betrifft mich inwiefern?“ Er klang zutiefst gelangweilt.
Maia zahlte es ihm mit ihrer Version eines arroganten Lächelns heim. „Weil Sie jetzt sehr häufig mit uns gesehen werden und uns begleiten müssen. Sehr oft. In den nächsten paar Tagen. Um sicher zu gehen, dass Angelicas guter Ruf keinen Schaden nimmt, wird die Anwesenheit eines Earl erforderlich sein.“ Nicht dass sie sich sonderlich darauf freute, viel Zeit in seiner Gesellschaft zu verbringen, aber wenn sie eines über den Earl herausgefunden hatte, dann war es, dass er es hasste, sich mit anderen Leuten abgeben zu müssen.
Egal mit wem, und egal aus welchem Grund.
Wegen seiner Pflichten als Vormund – und er hatte hinreichend bewiesen, wie ernst er diese nahm – an den nächsten paar Abenden andauernd in Gesellschaft zu sein, würde eine äußerst unangenehme Erfahrung für ihn werden.
Und sie würde jede einzelne Minute davon auskosten.
Sie drehte sich um und blickte über ihre Schulter zu ihm zurück. „Ich werde entscheiden, welche Einladungen wir annehmen werden und diese dann Ihrem Kammerdiener geben, damit er dafür sorgen kann, dass Sie zu diesen Anlässen passend gekleidet sind.“
Und sie würde darauf achten, die extravagantesten Anlässe mit dem größten Gedränge an Menschen auszuwählen. Ganz einfach, weil sie es konnte.
Und damit verließ sie sein Schlafzimmer und schloss die Tür mit Nachdruck.