SECHS
~ In welchem unsere Heldin ein Geständnis ablegt ~
„Angelica?“ Maia rannte aus ihrem Schlafzimmer, das Haar offen, das Nachthemd lose um die Füße. „Was ist mit dir?“
Sie hatte im Halbschlaf dagelegen, und war gerade dabei, wieder in diese warme, rote Welt der Lust einzutauchen, die sich nunmehr jede Nacht bei ihr ein Stelldichein zu geben schien. Es war die erste Nacht seit der Rückkehr vom Black Maude’s, in der Angelica in ihrem eigenen Bett schlief, und Maia hielt ihre Ohren gespitzt, ob sie irgendwelche angstvollen Geräusche aus dem Zimmer ihrer Schwester hörte ... bis sie wieder in ihre Träume versank.
Etwas musste sie aber geweckt haben, denn als sie in den großen Flur hinaustrat, wäre sie fast mit Angelica zusammengestoßen.
„Oh!“, sagte ihre Schwester, offensichtlich überrascht, Maia hier zu sehen.
„Ich wollte gerade nach dir sehen“, sagte Maia, als sie Angelicas aufgerissene Augen und bleiches Gesicht sah. Etwas war geschehen. Das war nicht nur ein Traum gewesen... Dann bemerkte sie, dass ihre Schwester etwas in der Hand hielt. „Was ist das da in deiner Hand? Ein Stock?“
Aber noch als sie es sagte, begriff sie. Das da in Angelicas Hand, was sie fest umklammert in den Falten ihres Nachthemds versteckte, war nicht lediglich ein Stück Holz, sondern ein Pflock. Dazu gedacht, einen Vampyr zu erstechen. „Oh“, sagte sie. Sie sah ihre Schwester an, und ihre Blicke kreuzten sich. Die arme Kleine. Sie hatte Schreckliches durchgemacht.
„Warum warst du denn wach?“, fragte Angelica.
„Ich kam, um nach dir zu sehen. Was ist passiert?“, fragte Maia und ergriff Angelicas Hand. Sie ließ sich von Angelica zurück zu ihrem eigenen Schlafzimmer führen.
„Ich habe etwas geträumt“, antwortete ihr Angelica. Aber Maia bemerkte, wie sie ein paar Mal heimlich über die Schulter zu ihrem Zimmer blickte, als ob sie erwartete, dort etwas zu sehen. Oder jemanden, der dort zur Tür herauskam. „Dass Voss sich in mein Zimmer geschlichen hat.“
Maia sah sie scharf an, mit voller Aufmerksamkeit. Sie ließen sich auf Maias Bett nieder, hinter ihnen die Tür leicht angelehnt. Maia hatte sie einen Spalt breit offen gelassen, für den Fall, dass man von draußen her etwas Ungewöhnliches hörte.
„Mein Liebes, es tut mir so Leid“, sagte Maia und nahm Angelicas Hände in ihre. Angelicas Hände waren so kalt, ganz ungewöhnlich für so eine warme Sommernacht. „Was du für Ängste ausgestanden haben musst. Ich habe aber nicht gehört, dass du geschrieen hättest, obwohl ich etwas hörte, was klang, als würdest du im Schlaf reden. Oder mit jemandem sprechen.“
„Es schien so echt“, flüsterte sie. Ihre Augen waren weit, weit weg. „Er...“
Maia konnte nicht umhin, an ihre eigenen Träume zu denken. Sicher, sie hatten sie aus dem Schlaf geschreckt ... aber niemals, weil sie Angst gehabt hätte. Nur weil sie sich wünschte, sie wären echt. Sie drückte ihrer Schwester die Hände und rang um Worte, mit denen sie Angelica trösten könnte. „Manchmal können Träume einem mehr Angst machen als die Wirklichkeit“, sagte Maia. „Und manchmal können sie um so vieles ... schöner sein ... als die Wirklichkeit.“
„Was meinst du damit?“
„Nun.“ Maia konnte spüren, wie ihr im Gesicht warm wurde, als sie merkte, welchen Verlauf das Gespräch da gerade nahm. Sie setzte sich auf und zog eines von den zwei Dutzend Kissen auf dem Bett in ihren Schoß und hielt sich daran fest. Vielleicht schickte sich dieses Gespräch hier nicht. „Ich weiß gar nicht, ob ich dir davon erzählen soll. Schließlich bist du noch nicht vermählt und–“
„Und du ebenso wenig“, kam es von Angelica wie aus der Pistole zurückgeschossen. „Du bist auch noch nicht verheiratet, Schwesterherz, also bist du genauso unerfahren wie ich.“
Maia gelang es nicht, sich das kleine Lächeln zu verkneifen, das zusammen mit diesem warmen Kribbeln in ihrem Bauch in ihr hochstieg. „Aber das ist nicht wahr, meine liebe kleine Schwester. Alexander und ich haben –“, hier unterbrach sie sich und entschied, alles musste Angelica nun auch nicht wissen. Beim bloßen Gedanken an die Rückkehr von Alexander wurde sie nervös. Sie räusperte sich und überlegte, was sie nun denn erzählen sollte – und was nicht. „Nun, wir sind verlobt, und Chas sowie die Anstandsdamen waren nicht ganz so wachsam wie vor der Bekanntgabe unserer Verlobung.“
Angelica fielen fast die Augen aus dem Kopf, und Maia konnte genau sehen, wie schockiert sie war. Offensichtlich hielt Angelica ihre ältere Schwester für ebenso sittsam und tugendhaft wie der Rest der Welt. Corvindale mit eingeschlossen.
„Du und Mr. Bradington habt–“
„Nein, nein“, sagte Maia. „Nicht ganz so. Nicht ganz. Aber ... Angelica. Es ist sehr ... angenehm. Floos und Betty haben Recht. Man fühlt sich gut dabei. Und ich glaube, es wird noch angenehmer.“ Gegen die zunehmende Röte in ihren Wangen konnte Maia nichts ausrichten.
„Und was hat das damit zu tun, dass Träume besser als die Wirklichkeit sind? Oder meintest du, dass sie noch furchtbarer sind als die Wirklichkeit?“
„Nun.“ Maia zögerte. Vielleicht war das hier etwas, was sie ihrer Schwester besser nicht beichtete. Schließlich war es recht ... intim. Sie sah weg und rückte das Kissen in ihrem Schoß zurecht. Vielleicht sollten sie besser über etwas anderes sprechen. Aber bevor ihr da etwas einfiel, drang Angelica auf sie ein.
„Was ist es denn?“
Maia blickte sich im Zimmer um. Sie bemerkte den sanften, goldenen Lichtkegel, den die Lampe warf, und auch die zerwühlten Laken. Irgendwie schien diese nächtliche Stunde, dieses Halbdunkel zu solchen Vertraulichkeiten einzuladen – genau wie sie und Angelica sich ihre Geheimnisse erzählt hatten, als sie jünger waren, tief unter den Decken vergraben, als alle anderen dachten, sie schliefen schon. Es war schon lange her, dass sie ihre geheimsten Geheimnisse jemandem anvertrauen wollte ... egal wem. Aber sie verspürte jetzt das Bedürfnis dazu. Maia holte tief Luft und sprach. „Nach deiner Erfahrung mit Dewhurst, habe ich etwas geträumt. Da ... darüber.“
„Du hast von Dewhurst geträumt?“
„Ssssch!“ Maia schaute zur angelehnten Tür. „Du weckst Mirabella noch auf! Nein, ich habe nicht von Dewhurst geträumt.“ Sie sah ihre Schwester an, beobachtete diese genau. Was würde Angelica nur von ihr denken, wenn sie erfuhr, dass Maia den Biss eines Vampyrs genossen hatte?
Aber vielleicht ... vielleicht fühlte ihre Schwester sich dann ein bisschen besser, wenn sie die Sache aus einem anderen Blickwinkel betrachten konnte. Und schließlich waren selbst in Oma Öhrchens Geschichten Vampyre vorgekommen, die Menschen nichts zuleide tun wollten. Und Menschen, die diese Geschöpfe faszinierend fanden. „Es wird für deine Ohren schrecklich klingen, Angelica. Du wirst mich für verrückt halten.“
„Nicht mehr als ohnehin“, erwiderte Angelica mit einem kleinen Lächeln. „Erzähl.“
Maia merkte, wie ihre Finger recht heftig an dem Spitzenbesatz des Kopfkissens zupften, das in ihrem Schoß lag. „Ich habe geträumt, dass ein Vampir mich in meinem Schlafzimmer aufgesucht hat. Aber es war nicht furchterregend. Es war ... wie Alexander zu umarmen und ihn zu küssen ... aber es war nicht er. Das hier war anders. Besser. Und als der Vampir mich gebissen hat...“
Angelica schnappte nach Luft, „was?“
„In meinem Traum hat er mich gebissen. Genau .... hier. Es hat nicht wehgetan, in meinem Traum. Im Gegenteil, es war ... es hat mich...“ Sie presste die Lippen aufeinander, als sie merkte, dass ihre Stimme begann, etwas atemlos zu klingen. Das war jetzt wirklich zu viel Mitteilsamkeit. Als Nächstes würde sie womöglich noch den Kuss, zwischen ihr und dem Karobuben, beichten. Und das war echt, es war passiert... Und seither versuchte sie mit allen Mitteln, es zu vergessen.
Dass sie sich so intensiv mit diesen Träumen abgab, lag vielleicht genau daran – sie waren nicht echt. Sie konnten nicht wirklich eintreten.
Sie musste wegen ihnen keine Gewissensbisse haben. Ganz besonders jetzt, da Alexander wieder zurückkehrte.
„Es hat dir gefallen?“, entfuhr es Angelica, was Maia ängstlich zur Tür blicken ließ. Falls jemand ihre Unterhaltung hörte.
Ihr wurde plötzlich kalt, der Magen drehte sich ihr um, und ihr Herz setzte aus, als sie dort im dunklen Flur ein Paar glitzernder Augen erblickte. Corvindale. Maia wurde im selben Moment schlecht und heiß und schwindlig, und sie drückte das Kissen krampfhaft an sich. „Mylord.“
Wie lange stand er schon dort? Was hatte er gehört? Oh, Grundgütiger... Was, wenn er gehört hatte, wie sie über ihren Traum sprach? Gott sei Dank hatte sie Angelica nicht auch noch von dem Karobuben erzählt!
Sein Gesicht war wie versteinert und schien noch wütender und verschlossener als sonst, sie musste schwer schlucken, das Herz schlug ihr wirklich bis zum Hals. Sie konnte sich an keine Gelegenheit erinnern, die sie als demütigender empfunden hätte.
„Bitte um Vergebung, Miss Woodmore. Angelica. Ich kehrte gerade nach Hause zurück, als ich Stimmen hörte“, sagte der Earl oder etwas in der Art. Außer dem Rauschen in ihren Ohren und dem Hämmern in ihrem Brustkorb konnte Maia nichts hören.
Von allen Leuten, die ein solches Geständnis von ihr belauschten ... musste es Corvindale sein.
Sie wollte unter das Bett kriechen und sich verstecken. Aber sie tat nichts dergleichen. Es gelang ihr, ruhig und beherrscht zu sprechen, aber sie konnte sich nicht genau erinnern, was sie gesagt hatte. Und er war auch bald weg, um ein paar Geräuschen auf den Grund zu gehen, die er unten gehört hatte, und ließ sie und Angelica wieder alleine zurück.
Mit der Tür jetzt richtig zugezogen.
Ihre Schwester schien nicht bemerkt zu haben, was geschehen war, und dafür war Maia außerordentlich dankbar. Aber ihre Wangen waren immer noch heiß, und es brauchte eine geraume Weile, bis ihr Herz nicht mehr so wild schlug.
Dieses wilde Schlagen lag teilweise darin begründet, dass sie für einen kurzen Moment nur die Hälfte vom Gesicht des Earl gesehen hatte. Die untere Gesichtshälfte, erleuchtet von dem unsteten Licht ihrer Lampe. Und für eine grässliche Schrecksekunde hatte sie auf seinen Mund gesehen.
Und sie hatte ihn wiedererkannt.
Den Karobuben.
Es war nur gut, dass sie zusammengerollt auf ihrem Bett saß, denn ihre Knie waren jetzt butterweich, und sie konnte kaum atmen.
In der Zeit, als der Earl mit ihnen sprach und bis er dann ging, hatte Maia ihren Fehler eingesehen. Es gab unzählige Gründe, warum der Bube nicht Corvindale gewesen sein konnte – der triftigste war wohl die Tatsache, dass der maskierte Mann sich nicht nur mit ihr unterhalten und auch geflirtet hatte, sondern sie auch geküsst hatte. Und er war nicht einmal unhöflich gewesen.
Dass Corvindale fähig sein sollte, sich so zu benehmen, war völlig unvorstellbar. Ganz besonders, weil es jedem klar war, dass er von Maia ebenso wenig hielt wie sie von ihm.
Obwohl, Ich hoffe, Sie sind nicht gerade dabei, sich ihres Mageninhaltes zu entledigen, und das auf meiner Weste, Ihre Majestät, könnte man als eine Beleidigung deuten...
„Angelica“, zischte Maia, als sie sah, wie ihre Schwester ein Ohr an den Türspalt drückte. „Was tust du da?“ Aber es war offensichtlich: Angelica lauschte gerade nach unten, um zu hören, was Corvindale da vorfinden mochte.
Neugierig und auch dankbar für eine Ablenkung stellte sie sich neben ihre Schwester. Sie lauschten beide für ein Weilchen, konnten aber nichts hören außer leisen Geräuschen wie Knarren und Heulen, allesamt nicht ungewöhnlich in einem großen, alten Haus.
„Hat es dir wirklich gefallen, in deinem Traum? Als er dich gebissen hat?“, flüsterte Angelica.
Maia erstarrte. „Ich möchte nicht darüber sprechen“, zischte sie zurück. „Ich wünschte, ich hätte den Mund gehalten.“ Sie hörten unten einen dumpfen Schlag, dann Stille.
„Ich kann es mir nur als schrecklich vorstellen“, flüsterte Angelica ihr wieder zu.
Maia musste ihre Augen schließen, als ein warmer Schauer der Erinnerung durch sie rieselte. „Selbst in den Geschichten, die Oma Öhrchen uns erzählt hat, über die Vampire ... selbst da kamen Leute vor, die es nicht ... schrecklich fanden.“ Anscheinend war sie eine von denen. Natürlich konnte es durchaus sein, dass sie ihre Meinung änderte, wenn es wirklich einmal passierte... „Und es war bloß ein Traum, Angelica.“
Sie hörten beide gleichzeitig, wie Fußschritte die Treppe hochkamen. Sie wirbelten dann auch beide sofort herum und rannten schnell zum Bett zurück. Sie waren beide gerade in einem Gewirr von Nachthemden und Kissen darauf gelandet, als jemand an die Zimmertür klopfte.
„Wenigstens hat er diesmal geklopft“, murmelte Maia, als die Tür aufgeschoben wurde.
Aber dann sah sie sah, wer dort stand, und war gleich hinter Angelica aus dem Bett gesprungen und an der Tür. „Chas!“, riefen sie und Angelica jetzt aus.
„Sssch – niemand darf wissen, dass ich hier bin“, sagte er und umarmte sie beide. „Kommt mit hinunter in das Arbeitszimmer. Corvindale erwartet uns dort.“
Maia verspürte Erleichterung und Verärgerung. Sie hatte jede Menge Fragen an ihren Bruder. Und ebenso eine Forderung: dass er sie vom Earl von Corvindale befreien möge.
Sie war hochentzückt, einen Morgenmantel überzuziehen und ihm hinunter in den Salon zu folgen.
~*~
Das sind also Chas’ Schwestern.
Narcise Moldavi beobachtete, wie die beiden jungen Frauen in Dimitris Arbeitszimmer traten. Sie trug einen breitkrempigen Hut und Männerkleidung und hatte sich am Kamin platziert, wo sie wartete – und auch wusste, dass die beiden nicht merken würden, dass auch sie eine Frau war. Ihr Gesicht lag unter der Krempe im Schatten, und sie hatte sich die leichte Schicht von Ruß unter ihren Wangenknochen aufgetragen, nicht nur um etwas hager auszusehen, sondern auch um den Anschein zu erwecken, dort sprieße ein Bart. Insgesamt sollte sie wie ein hagerer, alter Mann aussehen.
Die Schwestern sahen sich äußerlich nicht ähnlich und legten auch ein sehr unterschiedliches Verhalten an den Tag. Die eine war dunkel und hatte etwas von einer Zigeunerin, so wie Chas, mit dichtem, braunem Haar, dunklem Teint und geheimnisvoll dunklen Augen. Sie nahm Platz und schaute sich dann im Raum um, sie wollte sich offensichtlich nichts entgehen lassen. Sie war größer als die andere, mit den helleren Haaren, die hereinrauschte und sofort damit anfing, Sachen umzustellen: die Leuchter und Lampen, die Kissen auf dem Sofa, selbst vor Dimitris Bücherstapel machte sie nicht Halt.
Die hier musste Maia sein, die dunkle dann Angelica.
Beide Frauen fielen einem sofort auf, aber mit ihrer hellen Färbung war die ältere eine klassische Englische Schönheit. Im Gegensatz zu Narcise, zierlich und schmal, und hatte diese Haarfarbe, die sich so schwer beschreiben ließ: Es war weder Blond noch Kastanie noch Goldbraun, sondern eine Mischung von allen dreien, und dann noch andere Farben. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht und einen Mund wie eine Rosenknospe, der gerade dauerhaft säuerlich dreinschaute. Ihre blitzenden, grünbraunen Augen sprühten vor Zorn zu Chas, der gerade neben Dimitri stand und leise zu ihm sprach, während die beiden Whisky tranken.
Chas muss dafür sorgen, dass Moldavi sie nie zu sehen bekommt. Narcise schüttelte sich leicht bei dem Gedanken, was ihr Bruder einer so schönen jungen Frau wie Maia Woodmore antun würde. Insbesondere, wenn man betrachtete, was er Narcise, seiner eigenen Schwester, angetan hatte...
Die Tatsache, dass sie eine Drakule war und ewig leben würde, war natürlich ein zusätzlicher Anreiz für Cezar, zu tun, was ihm beliebte. Oder seine Freunde tun zu lassen, was ihnen beliebte, was sowieso eher seinem Geschmack entsprach. Denn Inzest konnte man nicht zu seinen vielen Sünden zählen.
Und es war letztendlich egal welche Foltern oder Lust sie ihr bereiteten, Narcise konnte schließlich nicht sterben, außer durch einen Holzpflock durch das Herz oder zehn Minuten in der Sonne. Aus diesem Grund hatte Cezar auch dafür gesorgt, dass alle Möbel in ihrer fensterlosen Kammer aus Metall gemacht waren. Er würde nicht riskieren, seinen besten Spieleinsatz zu verlieren.
Bei diesen Gedanken gelang es Narcise nicht ganz, den Anflug von Panik zu unterdrücken, der ihr den Magen umdrehte. Chas hatte ihr geholfen, diesem entsetzlichen Schicksal zu entkommen, aber das bedeutete nicht, dass sie niemals wieder dort endete. Cezar würde nicht aufhören, nach ihr zu suchen, bis er tot war.
Oder bis sie tot war.
Narcise erinnerte sich wieder an eine ihrer albtraumartigen Fantasien: Massen von Federn zu finden, sich in sie einzuwickeln und dann aus einem Fenster zu fallen, um dort in der Sonne liegen zu bleiben. Irgendwann würde sie da sterben, von den Federn geschwächt und von der Sonne verbrannt. Selbst jetzt, fragte sie sich an manchen Tagen, ob das nicht besser wäre. Dann könnte Cezar ihr wenigstens nichts mehr anhaben.
Und Chas wäre in Sicherheit.
Ihr Blick wanderte zu ihm hinüber, als er seine Schwestern begrüßte, die beide in Nachthemden und Nachtgewändern und mit offenem Haar erschienen waren, und dann nahmen beide Platz. In diesem Augenblick sah er einem englischen Gentleman ähnlicher, als sie es sonst von ihm gewohnt war. Aber ein etwas verwegener, mit seinem rumänischem Aussehen: in einem weißen Hemd, bis zum Hals zugeknöpft, darüber einen dunklen Mantel, und dann noch lange Hosen. Er hielt ein Glas in der Hand, sein Haar war recht ordentlich und mit Pomade glatt gestrichen. Frisch rasiert. All dieser Aufwand für seine ordentlichen Schwestern, die laut seinen Erzählungen keine Ahnung davon hatten, dass er seine Tage und Nächte mit der Jagd nach Vampyren verbrachte.
Die Ironie, dass er ein Feind ihrer Rasse war, stachelte Narcises Faszination für ihn nur an. Eine Drakule liiert mit einem Vampirjäger. Wie absurd. Und wie gefährlich.
Und wie überraschend, dass sie auch Lust in den Armen eines Mannes fand und ihm wirklich vertraute – nach allem, was sie durchgemacht hatte.
Chas blickte zu ihr herüber, und sie erwiderte den Blick seiner schwarzen Augen kühl. Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, sich ihre Gefühle oder die Wahrheit nicht anmerken zu lassen. Es könnte gegen sie verwendet werden. Und war es auch.
Oh, ja. Das war es.
Die Fältchen um Chas’ Augen vertieften sich etwas, als seine Mundwinkel leicht nach unten gingen, und sie wusste, er schätzte gerade ihre Reaktion zu dem Treffen mit seinen Schwestern ein. Narcise unterdrückte die Wärme, die sich da in ihr ausbreitete. Sie fühlte sich sicher mit ihm. Sicher und wohl.
Aber das musste er nicht wissen.
Nichtsdestotrotz wäre sie lieber nicht hier, aber Chas hatte ihr wenig Wahlmöglichkeiten gelassen. Entweder sie kam mit ihm nach London, oder sie musste unter den Schutz von Giordan.
Und das würde nicht passieren. Schon bei der Vorstellung, in derselben Stadt zu sein, geschweige denn im selben Zimmer wie Giordan, wurde ihr übel. Zu wissen, dass sich Chas mit ihm in dem Gasthof in Reither’s Closewell getroffen hatte, wo sie und Chas abgestiegen waren, hatte sie verstört – um das Mindeste zu sagen. Sie war oben im Zimmer geblieben, außer Sichtweite.
Obwohl, wie sie Giordan kannte, hatte er sie dort sicher gerochen.
An Chas.
„Sie müssen Narcise Moldavi sein. Die Vampirin.“
Das sagte Angelica, die sie genau beobachtet hatte. Maia fauchte etwas zu ihrer Schwester, und beide schauten auf Narcise. Keine der beiden sah erfreut aus, aber wohingegen Angelica verärgert aussah, schien Maia lediglich überrascht.
Ihrerseits verärgert, ihre Maske so durchschaut zu wissen, blickte Narcise nun offen zu der kleinen Göre, die mit solchem Ekel in der Stimme gesprochen hatte und ließ für einen kurzen Augenblick ihre Augen tiefrot aufglühen. Du machst dir keinen Begriff davon, du kleines sterbliches Mädchen, mit wem du es hier zu tun hast. „Das bin ich.“ Sie zog sich den Hut vom Kopf und warf ihn auf Dimitris Schreibtisch. Ihr Kopf und ihr Gesicht fühlten sich sofort kühler an, als ihr Haar sich in einem tiefen Knoten in ihren Nacken legte.
„Sind Sie gekommen, damit wir Sie in unserer Familie willkommen heißen?“, erwiderte Angelica ebenso kühl.
Narcise beachtete die kleine Bewegung von Chas nicht, als ob er sich gleich einmischen wolle. Ich komme hier alleine klar, bedeutete sie ihm wütend mit einem raschen Blick.
„Eigentlich setze ich durch mein Herkommen nur mein eigenes Leben aufs Spiel, und alles nur wegen Ihnen.“
Narcise machte einen entschiedenen Schritt weg vom Kamin und dann durch das Zimmer, um sich auch ein Glas von Corvindales Whisky einzuschenken. „Ihr Bruder hat erfahren, dass Voss Sie entführt hat, und bestand darauf, nach London zu kommen, egal was das nun für meine Sicherheit bedeutete.“
„Du weißt sehr wohl, dass du ihn nicht nach London begleiten musstest“, ertönte eine kräftige Stimme von der Tür her. „Schieb deine eigene Feigheit jetzt nicht dem Mädchen in die Schuhe, Narcise.“
Das Glas fiel fast aus ihrer Hand, aber sie hielt es fest. So gerade noch. Und sie drehte sich um. Zum ersten Mal nach über zehn Jahren sah sie Cale wieder.
Als ihre Blicke sich kreuzten, fühlte sie den Zwillingshass darin: ihren Hass für ihn, und die gleiche Empfindung brannte dort auch in seinen Augen. Er forderte sie heraus, indem er auf ihre unvorsichtige Entscheidung anspielte, Chas nach London zu begleiten, anstatt mit Giordan in Reither’s Closewell zu bleiben.
Narcise würdigte ihn keiner Antwort, abgesehen davon, dass sie neben einer verächtlichen Grimasse ihre Zähne kurz aufblitzen ließ. Sie nippte an ihrem Whisky – und versuchte, ihn nicht gierig hinunterzustürzen, was sie eigentlich gebraucht hätte – und wanderte durch das Zimmer, um neben Chas zum Stehen zu kommen.
Aber Giordan beachtete sie gar nicht mehr. Er hatte sich umgedreht und wandte ihr größtenteils den Rücken zu, als Dimitri ihn widerwillig den Woodmore Mädchen vorstellte. Narcise nippte noch einmal an ihrem Glas und konzentrierte sich jetzt auf die Hitze, die sich durch ihren Bauch und ihren gesamten Körper fraß, und nicht auf seinen Hinterkopf oder darauf, wie der kaffeefarbene Mantel an seinen breiten Schultern wie angegossen saß. Giordan bezahlte seinen Schneider wohl recht gut.
Er sah genauso aus wie das letzte Mal, als sie sich begegnet waren, obwohl sein Gesicht seinerzeit bitter und hart gewesen war, von den Nächten der Ausschweifungen und der Sinnesfreuden. Heute Abend waren seinen schönen Gesichtszüge entspannt und seine Augen höflich, bis auf das kurze Aufflackern, das sie zu Anfang in ihnen gesehen hatte. Giordan trug das Haar entgegen der Mode kurz, in dichten, sattbraunen Locken, die seine Stirn und Schläfen freigaben. Sie erblickte kurz seine Hand, ohne Handschuhe, die sich an seinem Oberschenkel zur Faust geballt hatte und bemerkte, dass ihm das hier also nicht ganz so gleichgültig war, wie er sich gab.
Aber sie wusste nicht, ob es nun Wut oder Hass war, der seine Finger verkrümmte.
Und es war ihr gleichgültig. Sie hatte die Unterhaltung um sich herum kaum wahrgenommen, bis Dimitri einen Scherz machte, der nicht wirklich als Scherz gemeint war. Darüber, dass Giordan doch die Verantwortung für die Woodmore Mädchen und ihre Vormundschaft übernehmen sollte. Allen im Raum war klar, wie todernst er das meinte.
Giordan erwiderte das humorvoll, während er ein für ihn eingeschenktes Glas Whisky aus der Hand seines Freundes annahm. „Nicht im Traum fiele es mir ein, dich dieser Rolle zu berauben, Dimitri.“
„Aber warum können wir nicht mit dir mitgehen, Chas?“, fragte Maia.
Narcise betrachtete sie und hatte den entschlossenen, aber auch verzweifelten Ton in ihrer Stimme gehört. Entweder hing sie sehr an ihrem Bruder oder war sehr verzweifelt, hier in Blackmont Hall zu wohnen. Sehr erfreut, etwas zu haben, was sie von der Gegenwart des Mannes ablenkte, den sie am meisten auf der ganzen Welt hasste – oder am zweitmeisten; die andere Ehre gebührte Cezar –, beobachtete Narcise die ältere Woodmore Schwester.
Bei genauerer Beobachtung musste Narcise ihren ersten Eindruck von der jungen Frau korrigieren. Trotz ihrer Selbstsicherheit und dem Bedürfnis, alles unter Kontrolle zu halten, ging von Maia unterschwellig eine Art Hitze aus, die sie weicher und sinnlicher erscheinen ließ, als der erste Blick verriet. Vielleicht würde derlei nur einer anderen Frau das auffallen...
Narcise blickte zu der jungen Angelica und korrigierte sich auch hier – vielleicht würde nur eine andere Frau, die sehr viel Erfahrung hatte, was Intimität und Sinnliches betraf, diese Andeutung von unerfüllter Erotik bemerken. Unter den flinken Händen und den geschäftigen Bewegungen brodelte es. Dort, in Maias Augen, erschien es noch ganz verschwommen. In den grünbraunen und goldenen Augen, und in dieser reizvoll schmollenden Oberlippe, und vor allem, in dem weiblichen, moschusartigen Duft, den ihre Drakule Nase wahrnahm.
Das hier war eine Frau, die keine Erfahrungen mit Männern hatte, aber die kurz davor stand, erste Erfahrungen zu machen ... die bis an den Rand gegangen war, aber noch nicht darüber hinaus. Die wartete.
Vielleicht lag es daran, dass Narcise dieses Gefühl unerfüllter Erwartung in sich selbst wiedererkannte. Sie hatte Jahrzehnte gebraucht, um es zu finden, um sich zu gestatten, Gefühle auf einer wahrhaft tieferen Ebene zu empfinden als der rein körperlichen. Sich durch die Erniedrigung und den Schmerz zu kämpfen, den sie durch Cezar und seine Freunde gleichermaßen erlitten hatte, um sich endlich einem Mann hinzugeben, der sie erregte und sie wahrhaft erweckt hatte. Dem sie vertraute und dem sie sich öffnete.
Jetzt ertrug sie es nicht einmal, ihn anzuschauen, wenn sie im selben Zimmer waren.
Narcise lenkte ihre Gedanken in weniger gefährliche Bahnen und weg von dem fraglichen Mann und blickte zufällig zu Dimitri. Der Mann war aus Stein: hart, kalt, und gefühllos.
Genau wie Narcise sein wollte.
~*~
Dimitri bemerkte den nachdenklichen Blick von Narcise auf sich, als wollte sie ein tiefes Geheimnis in seinen Augen ergründen. Aber so unglaublich schön sie war und so verführerisch sie auch duften mochte, sie war leichter zu ignorieren als die Dolche, die Chas’ Schwester ihm ohne Unterlass mit den Augen zusandte.
Er versuchte, nicht an den schockierten Ausdruck auf Miss Woodmores Gesicht zu denken, als sie ihn dort hatte stehen sehen, auf der Türschwelle zu ihrem Schlafzimmer. Selbstverständlich hatte er gute Gründe gehabt, dort zu sein, es war nicht seine Schuld, dass ihre Stimme zu weit weg zu hören war, so dass er alles über ihren Traum mit einem Vampir gehört hatte. Die Frau musste ein bisschen Zurückhaltung lernen, verflucht noch mal.
Aber für einen kurzen Augenblick war ihm das Herz im Leibe stehen geblieben, als er glaubte, dort außer der Demütigung auch noch etwas wie ein Wiedererkennen zu sehen.
Dann redete er sich das wieder aus, denn sie konnte sich das alles nicht zusammengereimt haben, dass er der Karobube war. Er war so vorsichtig gewesen, er hatte sogar sein Kostüm abgenommen, zusammen mit der Krawattennadel und ihrem falschen Rubin, und auch die rotschwarze Weste. Gleich nach ihrem ... Zwischenspiel.
Anscheinend hatte jenes Zwischenspiel keinen so starken Eindruck bei ihr hinterlassen wie ein paar dunkle, erotische Träume, was eine verflucht gute Sache war. Obschon die Tatsache, dass sie die gleiche Art von Träumen zu haben schien, die auch ihn in letzter Zeit heimsuchten, ein anderes Problem darstellte. Ein neues Problem.
Er hoffte inständig, dass ihre erotischen Träume nicht annähernd so detailliert und erotisch waren wie seine eigenen.
Dimitri hörte nur halb zu, als Chas seinen Schwestern zu erklären versuchte, er sei Vampirjäger.
Die Tatsache, dass er sich mit einer schönen, wenn auch emotional geschädigten Drakule Frau zusammengetan hatte, verursachte beiden Miss Woodmores noch mehr Verwirrung. Es war natürlich nicht logisch, und sie hatten Fragen.
Und selbst Dimitri konnte sich in die Lage der Schwestern versetzen.
Was bedeutete, dass er – verdammt noch einmal – der Empfänger von noch mehr Quälereien seitens Miss Woodmore sein würde, wenn ihr Bruder wieder mit seiner Geliebten verschwand. Denn es war überdeutlich, dass Chas und Narcise nicht lediglich Reisebegleiter bei ihren Abenteuern waren, und sie war auch nicht gegen ihren Willen mit von der Partie. Er konnte die Intimität der beiden riechen.
Das war nicht das Einzige, was er riechen konnte. Voss war hier gewesen, der Bastard. Trotz der Tatsache, dass Angelica es nicht zugegeben hatte, wusste Dimitri, dass er im Haus gewesen war – wahrscheinlich bei dem Mädchen in ihrem Zimmer – heute Nacht. Vielleicht hatte sie selbst ihn hereingelassen, unter seinem Bann und somit wehrlos. Wer wusste das schon?
Dimitri knirschte mit den Zähnen. Er und Woodmore würden sich um Voss kümmern, sobald sie seiner habhaft wurden. Und dann wäre Chas eines seiner Probleme schon mal los ... und es blieb ihm noch eins, das etwas heikler war.
Er betrachte Narcise ganz objektiv. Ganz eindeutig eine schöne Frau. Aber sicherlich keine, die ihn je interessiert hätte – selbst in jener Nacht dort in Wien, als Moldavi sie ihm angeboten hatte, als eine Art Bestechung gewissermaßen. Wenn er sich eine Frau nahm, egal wie selten das nun sein mochte, dann wollte er sie willig und ohne kalte, tote Augen. Nicht dass ihre Augen jetzt kalt und tot wären. Kühl, aber nicht tot.
Dimitri setzte sich ungeduldig im Sessel zurecht und blickte das Woodmore Trio finster an, sie waren schlicht über sein Leben und sein Haus hereingebrochen. Und jetzt auch noch sein privates Arbeitszimmer.
Würden sie denn nie zu reden aufhören? Er wünschte sich verdammt noch mal nur eins: dass alle sich aus seinem Arbeitszimmer entfernen würden, so dass er wieder an seine Arbeit gehen könnte. Seine Forschungen und Studien waren derartig schleppend vorangegangen, dass er sicher war, die letzte Woche Arbeit war wertlos.
Der Stapel von Büchern, den Miss Woodmore mit ihrem Ordnungsfimmel sofort in Angriff genommen hatte, kaum dass sie hier war, erinnerte ihn daran, dass er noch nicht bei seinem Antiquar gewesen war. Er presste die Lippen zusammen. Er würde morgen gehen, oder allerspätestens tags darauf. Er hatte jetzt endgültig genug davon, ständig bei der Arbeit unterbrochen zu werden.
„Corvindale bleibt bis auf weiteres euer Vormund“, sagte Chas kurz angebunden und schaute Maia streng an, „aber ich wollte auch nicht tatenlos zusehen, wie Voss meine Schwester kompromittiert.“
„Ich bin nicht kompromittiert“, sagte Angelica störrisch.
„Das macht keinen Unterschied“, erwiderte Chas und blickte sich im Zimmer um. „Wir wissen, er war heute Nacht hier, Angelica. Ob du ihn nun eingeladen oder willkommen geheißen hast oder–“
„Ich habe ihn ganz sicherlich nicht eingeladen“, schrie ihn Angelica zornig an. „Ich würde eine derart schreckliche Kreatur nirgendwohin einladen!“
„Das macht keinen Unterschied“, fuhr Chas fort. „Corvindale und Cale werden mir dabei helfen, ihn aufzuspüren. Und dann werde ich ihn umbringen.“
Und dann würde Dimitri endlich zu seinen Studien zurückkehren können, und das ganze Tohuwabohu in seinem von sterblichen Frauen vollgestopften Haus vergessen.
Und vielleicht hörte er dann endlich auf, von einer ganz Bestimmten zu träumen.