SIEBEN
~ In dem es zu einer verhängnisvollen Wahl von Accessoires kommt ~
Die Kutsche rollte langsam bis zu dem Hintergang des von Dimitri gesuchten Etablissements. Tren, der Lakai, hatte das Gefährt nahe genug an den Hintereingang gefahren, so dass sein Herr aus der geöffneten Tür – die mit einer fächerartigen Vorrichtung versehen war, welche sich beim Öffnen der Tür aufklappte und damit vor Sonnenstrahlen schützte – direkt in das kleine Geschäft treten konnte.
Der Geruch von Alter und Weisheit, bedeckt von Staub, von abgegriffenem Leder und Stoffen ... und dennoch etwas Frisches, stieg ihm genüsslich in die Nase. Die Tür schloss sich hinter Dimitri, und er fand sich inmitten von hohen, engen Regalen wieder, voll von Büchern. Zwischen den Buchregalen fand sich auch gelegentlich die eine oder andere Wand von Schränken mit breiten, flachen Schubladen, genau wie im British Museum.
Das sanfte Licht der Lampen kam aus günstig platzierten Stellen an den Wänden, aber Dimitri brauchte diese Beleuchtung gar nicht. Er war im Dämmerlicht zu Hause und fühlte auch, wie sich ein wohlig vertrauter Frieden wie eine warme Decke über ihn breitete, wie immer an diesem Ort. Schon beim Betreten ließ seine Anspannung nach. Selbst der andauernde, grauenvolle Schmerz von seinem Luziferzeichen schien hier milder zu sein.
„Ah, du bist zurückgekehrt.“
Er sah auf, um dort die Besitzerin des Ladens zu erblicken, wie sie zwischen zwei Bücherstapeln hervorkam. Eine Frau unbestimmten Alters, die wie eine Eule hinter viereckigen Brillengläsern in die Welt schaute, als wäre sie soeben aufgewacht – oder, was wahrscheinlicher war, als wäre sie von ihrer Lektüre aufgeschreckt worden. Aber ihre graublauen Augen leuchteten jetzt, und sie schien erfreut, ihn zu sehen. Sie trug einen langen Bliaut, und wie die spitz zulaufenden weiten Ärmel, reichte auch dieser bis zum Boden. Um die Hüften hatte sie eine Lederkordel lose geschlungen, an der ein Schlüsselbund hing, mit den Schlüsseln zu den vielen Truhen, Schachteln und Schubladen.
Zwischen ihren langen, eleganten Fingern der einen Hand hielt sie ein offenes Buch, in dem sie anscheinend gelesen hatte, bevor er sie unterbrochen hatte. Ihr langes, helles Haar war in zwei Flechten geteilt, die ihr hinten über die Schultern fielen. Zwei etwa fingerbreite Zöpfe schlangen sich ausgehend von ihren Schläfen um ihren Kopf bis nach hinten. Die Tatsache, dass sie dem Earl keine Referenz erwies und ihn auch nicht korrekt mit seinem Titel anredete, bemerkte er kaum.
„Immer noch keine anderen Kunden, wie ich sehe“, bemerkte er und streckte die Hand nachlässig nach einem staubigen Band aus. „Ich finde es erstaunlich, dass es immer noch existiert, dieses kleine Geschäft von dir, gut versteckt, in einem der Hinterhöfe von Haymarket.“
Sie erwiderte lächelnd, „dann ist es einem glücklichen Stern geschuldet, dass ich einen Earl zu meiner Kundschaft zähle, der meinen Laden am Leben erhält.“
„Vor ein paar Wochen habe ich einem Bekannten von mir deine Adresse gegeben“, sagte Dimitri und blickte auf die hervorragende französische Übersetzung der Ilias herab, „aber er schien dich nicht finden zu können. Ich sagte ihm, du wärst neben der alten Gerberei, aber er hat den Laden nicht gesehen.“
Sie schien nicht besonders bekümmert über den Verlust eines Kunden. „Vielleicht war es an dem Tag, als der Laden geschlossen war. Hast du noch etwas nachgedacht über die Idee, in das Museum einzubrechen und die Rosetta Stele zu untersuchen?“
Dimitri konnte sich nicht daran erinnern, diese Wunschvorstellung laut ausgesprochen zu haben, geschweige denn zu dieser Frau, aber an diesem Ort fand er sich außerstande, sein gewohntes ruppiges Wesen an den Tag zu legen. Daher antwortete er, „ich bin sicher, dass ich eine private Besichtigung des Steins arrangieren könnte, wenn ich glauben würde, das hilft mir bei meiner Suche. Schließlich bin ich ja Corvindale.“
„Das ist, da bin ich sicher, gewisslich richtig. Suchst du heute etwas Bestimmtes?“, fragte sie. „Ich habe einige neue Schriftrollen erhalten – vielleicht möchtest du einen Blick darauf werfen.“ Sie winkte zum hinteren Teil des schmuddeligen, kleinen Ladens.
„Nichts im Besonderen. Aber es geschieht selten, dass ich hier fortgehe, ohne etwas für meine Bibliothek gefunden zu haben.“ Dimitri hatte ihr nie von seiner Suche erzählt. Wie könnte man einer geistesabwesenden Frau, deren Alter ihm ein Rätsel blieb, von seinem Wunsch erzählen, einen mit dem Teufel geschlossenen Pakt zu brechen?
Sie würde ihn für verrückt halten und ihren Laden auch für ihn schließen.
Die Besitzerin nickte nur und blickte dann wieder etwas zerstreut auf das Buch in ihrer Hand. „Wenn ich etwas tun kann, um behilflich zu sein...“ Und sie wanderte davon.
Dimitri hätte normalerweise das Gleiche getan, aber heute zwickte ihn etwas unruhig. Unbequeme Dinge. Er wollte mit seinen Gedanken nicht alleine sein. „Hast du“, setzte er an und folgte ihr. „Hast du irgendwelche alten, sehr alten, vielleicht die ursprünglichen Balladenbüchlein von der Faustlegende?“
Sie drehte sich um, da, wo sie gerade stand, und schaute von ihrem Buch hoch. Ihre Augen blitzten zufrieden auf. „Faust. Und warum würdest nach einer Geschichte suchen, die du doch so gut kennst?“
Dimitri konnte nicht verhindern, überrascht zusammenzuzucken – nicht so sehr wegen ihrer Worte, sondern eher wegen dem plötzlich wissenden Ausdruck in ihren unergründlichen Augen. „Was genau meinst du damit, gute Frau?“, fragte er und legte das ganze Frösteln und die Betonung eines Earl der englischen Krone in die Stimme.
„Ich denke, Dimitri, Earl von Corvindale, du weißt genau, was ich meine.“
Er blickte finster drein, ganz der Earl, und dachte für einen Moment auch daran, seinen Vampirzauber in seinen Augen brennen zu lassen. Er sagte jedoch nichts und wartete einfach auf ihre Erklärung.
Die Frau schloss ihr Buch, ohne die Seite zu kennzeichnen. Und es war ein sehr dicker Band. „Du und Johann Faust, ihr habt viel gemein, nicht wahr? Euer Pakt mit dem Teufel ist zwar recht unterschiedlich, aber dennoch ähnlich. Das ist, was ich meinte.“
Anstelle von maßlosem Zorn, der ihn hätte überkommen können (der ihn hier vielleicht überkommen sollte), empfand Dimitri nur Schock. „Woher weißt du davon?“
Sie schaute ihn nur an. „Das tut nichts zur Sache. Darf ich dich aber daran erinnern, dass sich in deiner Auswahl von Büchern aus diesem Laden alles von Lemegeton Clavicula Salomonis bis Malleus Maleficarum befand, und ebenso eine große Auswahl an Bibeln und Kabbala Literatur. Selbst ein paar Texte der Hindus. Und du hast sogar nach Bodhi gefragt. All diese Büchern befassen sich mit dem Erkennen von Dämonen oder dem Anrufen derselben, oder mit dem Wort und den Lehren von unserem Gott. Und daraus“, sagte sie und hielt ihn immer noch mit ihrem Blick fest, „kann man Schlüsse ziehen.“
Dimitri war sich nicht ganz sicher, wie sie ihre Schlüsse – auch wenn diese korrekt waren – genau gezogen hatte, basierend auf seinen Einkäufen, aber Earls ließen sich nicht dazu herab, mit Ladenbesitzern zu streiten.
Stattdessen sagte er förmlich, „Es gibt einen großen Unterschied zwischen mir und Herrn Doktor Faust.“
Sie nickte, als wüsste sie die Antwort schon und wartete nur darauf, dass er es aussprach.
„Faust hat Luzifer angerufen. Ich nicht.“
Sie nickte wieder. „Aber er kam zu dir, als du am verwundbarsten warst. Das ist seine Art.“
„Wer bist du?“, fragte Dimitri und war plötzlich wieder in jene Nacht zurückversetzt, in der ihm Luzifer im Traum erschienen war. Eine Nacht von unruhigem Schlaf, angefüllt mit Rauch und Asche und der Hitze vom Großen Brand von London.
„Mein Name ist Wayren. Das hier ist mein Geschäft.“ Mit einer eleganten Handbewegung umfasste sie den Raum. Dann schaute sie ihn an. „Was suchst du, Dimitri?“
„Ich habe gesucht“, sagte er mit einer sehr niedergeschlagenen Stimme, die er fast nicht als die seine erkannte, „nach einem Ausweg. Einem Weg, wie er seine Macht über mich verliert.“
„Du bist sicher, es gibt einen Weg?“, fragte sie, mit ihren Augen ganz bei ihm.
„Nein.“ Verzweiflung brach über ihn herein. „Ich bin sicher, es gibt keinen. Denn wenn es ihn gäbe, dann müsste ich ihn schon gefunden haben, das schwöre ich.“
Ohne ihre Antwort abzuwarten, machte er auf dem Absatz kehrt, verwirrt und unerklärlicherweise wütend, und ging.
~*~
Dimitri fauchte seinen Lakaien an, als er die Tür zur Kutsche öffnete, die dort im Mondlicht wartete.
Die Invasion seines Arbeitszimmers lag schon fast vier Tage zurück, und er, Woodmore und Cale hatten Voss in London immer noch nicht finden können. Er war da gewesen in jener Nacht, der freche Hund, in Angelicas Schlafzimmer ... aber irgendwie war er vor Chas’ Ankunft entwischt. Und seither schien ihn die Dunkelheit verschluckt zu haben.
Wahrscheinlich mit dem Segen Luzifers.
Dimitri hatte gedacht, dass Voss schon längst aus London geflüchtet wäre, aber heute hatte er doch tatsächlich eine recht knappe Nachricht von ihm erhalten. Voss’ Nachricht besagte, das Belial vorhatte, die Woodmore Schwestern heute Abend erneut anzugreifen, und warnte ihn, auf der Hut zu sein.
Als ob Dimitri je nicht auf der Hut wäre. Voss müsste es besser wissen.
Chas war irgendwo in London und kümmerte sich um Narcise, wobei er es vermied, irgendjemanden von seiner Anwesenheit in London wissen zu lassen, während er gleichzeitig versuchte, Voss zu finden. Dimitri wusste nicht, wo Chas war und hatte auch keine verlässliche Möglichkeit, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen, seine Schwestern wären in höchster Gefahr, obwohl er einige Nachrichten im White’s und im Rubey’s hinterließ, und auch im Grauen Hirschen und in ein paar weiteren Lokalitäten, die Chas vielleicht aufsuchte. Es war nicht sicher genug, Bluttauben – welchen die Drakule antrainiert hatten, Nachrichten zu überbringen, indem sie dem speziellen Geruch eines bestimmten Blutes folgten – zu benutzen, denn man wusste, dass es Cezar schon gelungen war, solche gefiederten Boten abzufangen.
Cale verbrachte den Abend mit der Frau namens Rubey. Sie war eine Sterbliche, die ein Etablissement leitete, das sich ganz den Ansprüchen und Wünschen der Drakule verschrieben hatte, und sie war auch eine Freundin von Voss, der vielleicht Kontakt mit ihr aufnahm – was Cales offizieller Vorwand für den Besuch war.
Dimitri hingegen musste heute Abend die Damen zu einer Party von einem Lord oder Viscount oder Earl namens Harrington begleiten, wo – nach Angaben von Iliana, die es wiederum von Mirabella gehört hatte, die es wahrscheinlich von den Schwestern gehört hatte – das Gerücht kursierte, dass der Ehrengast Angelica Woodmore einen Heiratsantrag machen würde.
Wenn Iliana sich nicht irgendeine Art von Schnupfen oder Kopfweh eingehandelt hätte, wirklich mit roter, triefender Nase und einem rasselnden Husten, hätte sie in der Kutsche bei den jungen Damen sitzen können, und es Dimitri überlassen, in seinem eigenen Gefährt oder sogar per Pferd zu folgen, um ihre Sicherheit in den dunklen Straßen zu gewährleisten.
Aber er wagte nicht, sie alleine in der Kutsche zu lassen, und so stieg er in das verfluchte Ding ein.
Dimitri kämpfte sich durch eine überwältigende Wolke aus Parfümen und Pudern und Metern von Stoffen sowie durch Schals und abebbendes Gekichere und nahm dann wortlos auf seinem Sitz Platz, ohne einen Blick auf seine Mitinsassen zu richten. Schweigen herrschte, seitdem sich die Tür für ihn geöffnet hatte, und er dort hineingetaucht war, als ob seine bloße Gegenwart die Konversation gedeckelt hätte.
Dafür musste man dankbar sein.
Aber sobald er seine Rockschöße zurechtgefaltet hatte, und die Kutsche mit einem Ruck vorwärtsfuhr, überkam Dimitri noch etwas ganz anderes. Etwas Dunkles und Schweres und Erdrückendes, auf seiner Brust und in seinen Lungen.
Rubine.
Er schaute auf und sah sich um. Schon da begann er, sich langsam und schwach zu fühlen, war kaum imstande zu atmen, versuchte, eine unverbindliche Miene aufzusetzen, selbst als er fühlte, wie die Kraft aus ihm rann. Wo zur finsteren Hölle waren sie?
Dann sah er sie an Angelicas Ohr baumeln. Rubinohrringe. Und auch noch große dazu. Sie beobachtete ihn, als ob sie seine Schwerfälligkeit bemerkte, und er presste die Lippen aufeinander, um sein Leiden zu verbergen. Die Edelsteine waren mächtig, aber ihre verderbliche Kraft reichte nicht aus, um ihn zu töten oder ihn sogar zu versengen ... außer sie kamen auf seiner nackten Haut zu liegen.
Aber durch ihre Gegenwart fühlte er sich wie in einem Teich aus heißem, rotem Wasser ... wie Morast ... langsam und siechend, seine Glieder schwer. Bevor sie nach Blackmont Hall kamen, hatte er sichergestellt, dass keine der Frauen Rubine bei sich hatte; all seine Bediensteten verstanden, dass keine Edelsteine ohne seine Erlaubnis ins Haus gebracht werden durften.
Wie war Angelica dann an diese hier gekommen?
Miss Woodmore setzte sich ebenfalls auf, und Dimitri sah, dass auch sie welche trug. Rubinohrgehänge.
Und dann wusste er genau, wie sie an die Steine gekommen waren, denn sein Gehirn funktionierte noch wunderbar, auch wenn sich gerade jeder Knochen in seinem Körper in Brei verwandelte.
Zur Hölle, in die finsterste, heißeste, schwärzeste Hölle mit Voss.
Er hatte es getan. Wahrscheinlich als er Angelica in jener Nacht besucht hatte. Diese Ohrringe den Schwestern dazulassen, wäre ein Scherz ganz nach seinem Sinn, an Dimitri gerichtet – um ihn wissen zu lassen, dass Voss in seinen Wohnsitz eingedrungen war, einen Weg hinein gefunden hatte. Er hätte nicht daran gedacht, dass sie alle einmal zusammen eingepfercht in einer Kutsche sitzen könnten, was die lähmende Wirkung der Juwelen noch steigerte.
„Lord Corvindale!“, sagte Angelica, als Dimitri versuchte, die Wut über seine Rückschlüsse niederzukämpfen, würgend und schwach. „Sind Sie krank?“
Alle drei Frauen flatterten plötzlich um ihn herum, als wäre er ein verletztes Kind, und alles wurde zu einem Nebel von pastellfarbenen Röcken und Parfümen und großen Augen. Was die ganze Situation natürlich noch verschlimmerte, als die Rubine näher wippten, und was Dimitri noch ärgerlicher machte, was zu einem noch schlimmeren Würgen führte und ihm den Brustkorb schier zermalmte.
„Zu...rück.“, versuchte er zu sagen und versuchte auch, die Mädchen samt den vier spatzeneiergroßen Juwelen wegzuschieben.
Und dann tat es plötzlich einen riesigen Schlag und einen Krach, und der Landauer kam zum Stehen. Sie fielen alle wild übereinander, durcheinandergewirbelt von dem abrupten Stopp, Dimitri saß immer noch festgenagelt in seiner Ecke und versuchte krampfhaft, auf die Beine zu kommen, als ihm etwas leichter wurde, weil die Mädchen von ihm weggeschleudert worden waren.
Aber bevor er noch seine immense Kraft wieder sammeln konnte und die Herrschaft über seine butterweichen Gliedmaßen wiedererlangte, flog die Kutschentür auf, und er sah das Aufblitzen von glühenden, roten Augen. Als Nächstes war Angelica in einem Handgemenge von Schreien und Gerangel und fliegenden Röcken plötzlich verschwunden.
Und nahm, den Schicksalsgöttinnen sei Dank, die Hälfte der lähmenden Rubine mit sich.
Miss Woodmore schrie gerade im Befehlston um sich, während sie auf dem Boden der Kutsche um sich trat, verheddert in Mirabellas und Dimitris Beine, und der schaffte es mit Mühe, einen ihrer Knöchel zu greifen, oder sie wäre durch die offene Tür noch ihrer Schwester hinterher gesprungen.
Er zerrte sie wenig elegant zurück in die Kutsche, bei dem Versuch, von ihr, den Rubinen und dem Durcheinander drinnen wegzukommen und sich den Weg nach draußen zu bahnen, und Belial hinterher. Aber bis er es geschafft hatte, von der vernichtenden Wirkung der Rubine freizukommen und in die kühle Nacht hinaus zu gelangen, war es zu spät. Sie waren außer Sicht- und Geruchsweite, und jedwedes Geräusch ihrer Flucht verlor sich in den übrigen Geräuschen des nächtlichen London.
Verdammnis.
Tren, Dimitris Lakai, lag auf dem Boden, mit blutigem Gesicht und regungslos. Die Pferde hatte man losgeschnitten und sie waren verschwunden, was sie alle mit dem Landauer dort zurückließ und ohne jegliches Mittel, eine Verfolgung aufzunehmen. Eine kleine Gruppe von Straßenkindern stand in dem schattigen Spalt dort zwischen zwei Backsteinhäusern, wahrscheinlich bis zu den Knöcheln in dem ekligen Abfallwasser, das Dimitri riechen konnte. Sie schauten mit großen, weiß leuchtenden Augen zu. Und hinter ihm, im Rahmen der Kutschentür, stand Miss Woodmore, die deutlich weniger gepflegt und frisch aussah als ein paar Augenblicke zuvor. Und ihr Mund bewegte sich.
Oh, der bewegte sich.
Fluchend und wütend und immer noch damit beschäftigt, die letzten Reste seiner Schwäche abzuschütteln, blendete Dimitri die Vorwürfe und Fragen und Forderungen seines Mündels aus, schaute nach Tren – der noch am Leben war und es wahrscheinlich auch bleiben würde, was sowohl das Öffnen seiner Augen bezeugte als auch die Flüche, die ihm über die Lippen kamen – und dann zu den Kindern hinüber, die sie von dort im Dunkeln aus beobachteten.
Keines von ihnen war in der Lage, ihm eine klare Auskunft zu geben, wohin die Vampire gegangen waren, und obwohl Dimitri sehr erleichtert war, dass Belial nur daran gelegen war, eine von den Kutscheninsassinnen mitzunehmen, war Dimitri außer sich, dass man ihn derart überrumpelt hatte.
Noch so eine unglückselige Verkettung von Ereignissen, die Voss mit seinen Spielen und Scherzen heraufbeschworen hatte.
Verärgert, dass er die Frauen nicht zurücklassen und hinter Belial herjagen konnte, schickte Dimitri Tren los, um eine Droschke oder ein paar Pferde zu finden, damit sie nach Hause konnten. Dann könnte er beginnen, die Stadt nach Angelica und Belial abzukämmen. Während der Diener davonhumpelte, beschrieb Dimitri Kreise um die Stelle ihres Überfalls, schnupperte, beobachtete, und lauschte angespannt in der Ferne nach einem Hinweis, der ihn zu der jüngeren Woodmore Schwester führen könnte.
Wir haben Zeit. Sein Verstand war ruhig und klar. Belial würde Angelica beschützt und sicher halten, bis er sie zu Moldavi bringen konnte, und eine jüngere Frau in Kriegszeiten über den Ärmelkanal zu bekommen, wäre eine Herausforderung, selbst für die Drakule – aber man konnte es schaffen. Es wäre das Beste, wenn Dimitri sie fand, bevor sie die Gelegenheit hatten, London zu verlassen, aber er wusste auch genau, wo Moldavi in Paris wohnte, und wohin man Angelica bringen würde. Wenn er also nach Paris gehen müsste, um dem verdammten Kindersauger gegenüberzutreten, würde er das tun.
Mit Vergnügen.
Kühl und beherrscht hatte sein Gehirn sich methodisch durch die verschiedenen Schritte gearbeitet, um Belial und sein Opfer aufzuspüren, und ging gerade die Möglichkeiten durch – würden sie heute Nacht aufbrechen, so würde man Angelica irgendwo verstecken, bis man ein geeignetes Boot auftrieb; würden sie von den Docks hier losfahren, oder erst über Land nach Dover gehen. Fieberhaft ging er alles durch, sogar noch als seine Augen sich schlossen, und er sein Gesicht hob, um die verschiedenen, ineinander verwobenen Gerüche dieser Welt zu riechen, auf der Suche nach dem einen, der zu Angelica gehörte.
Als er feststellte, dass sie nicht aufgehört hatte zu reden, um seinen Aufmerksamkeit zu erhalten, und ihre Beharrlichkeit seine Konzentration störte, drehte Dimitri sich um und fauchte Miss Woodmore an. Zu seiner großen Überraschung schloss sie für einen Augenblick tatsächlich den Mund, und sah mit großen, schockierten Augen zu ihm hoch.
Er tat einen tiefen Atemzug, kämpfte, damit seine Augen nicht rotglühend wurden und seine Zähne sich nicht zeigten. Und, während er immer noch einen sicheren Abstand zu den tödlichen Rubinen einhielt, als sein Blick da den ihren traf, fühlte er, wie etwas in ihm schmolz. Sie sah völlig entsetzt und zerknittert aus, und – was eigentlich unmöglich war – als ob sie gleich weinen würde.
„Sie werden jetzt doch sicherlich nicht weinen, Miss Woodmore?“
Seine Worte erzielten die beabsichtigte Wirkung, denn sie zog ihre Schultern gerade, die in ihrem silberblauen Gewand dabei gewesen waren zusammenzusacken, was wiederum das Mieder weit offen stehen ließ. Ihr Blick flammte fast so heiß auf wie Belials, außer dass darin Tränen zu sehen waren.
„Natürlich tue ich das“, sagte sie in beleidigtem Ton. Eine der Tränen lief über und ihre Wange hinunter, und sie wischte sie zornig weg.
Dimitri schloss abrupt den Mund auf dessen Zunge schon automatisch die Antwort vorbereitet lag, die er zu ihr sagen wollte, sobald sie es abgestritten hätte, und schaute sie noch einmal an. Und stellte dann fest, dass er das besser nicht getan hätte.
Das Schmelzen in seinem Inneren begann sich zu drehen und sich rascher zu entfalten, wie ein Segel, das Wind aufnahm, und er konnte nicht umhin zu sehen, wie wundervoll sie gerade in diesem aufgelösten Zustand aussah ... ganz besonders jetzt, wo ihr Mund nicht mit Forderungen und Vorwürfen beschäftigt war. Die Wölbung ihrer Wange, weich und dennoch deutlich, die Spitze ihres Kinns mit seinem kleinen Grübchen, und selbst in diesem trüben Licht konnte er dunkle Wimpern und Brauen sehen, welche die Form ihrer Augen unterstrichen.
Und dieser Mund ... sein Blut kochte hoch, und er zwang sich unerbittlich, sich nicht an dessen weiche Hitze an seinem Mund zu erinnern. Und die Kardamom-Vanille und die süßen Maiglöckchen, die aus ihren Poren stiegen. Im Mondlicht sah ihr Haar Silberschwarz aus, alle Farbe war daraus entwichen, es war zu einem einfachen Chiaroscuro reduziert. Ihre Frisur war völlig zerstört, aber er fand es so viel interessanter als vor der Zerstörung: wild von ihren Schläfen und ihrem Mund herabfallend, lag ihr das Haar um den Hals, wo auch die Ohrgehänge baumelten.
„Ich denke, ich darf mir ein paar Tränen erlauben“, sagte sie mit einer Stimme, die etwas ... weniger hart klang. Etwas holpriger, unsicher in der Kadenz. Fest, ruhig, aber mit Gefühl. „Ich bin etwas verängstigt und verwirrt. Schließlich hatten wir gerade einen Unfall in der Kutsche, wurden von schrecklichen, blutrünstigen Vampyren angegriffen, und meine Schwester ist von ihnen entführt worden.“ Jetzt schwoll ihre Stimme etwas an. „Und unser so furchteinflößender Vormund hat nichts tun können, um sie aufzuhalten. Was hat Chas sich nur dabei gedacht?“
Das Segel in ihm hatte den Wind wieder verloren, und Dimitri machte ein böses Gesicht. Verdammt noch einmal, sie hatte verflucht Recht. Nicht dass es seine Schuld war, dass Voss etwas derart Törichtes getan hatte, und wahrscheinlich nicht ahnte, was die Folgen davon sein würden (was auch immer er zu seiner Entschuldigung vorbrachte), aber um gerecht zu sein, es war Dimitri gewesen, der die Entführung von Angelica zugelassen hatte.
Und Dimitri war es nicht gewohnt, im Unrecht zu sein.
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen – sehr wahrscheinlich etwas Geknurrtes und Unhöfliches, was sie beleidigt in die Kutsche zurücktreiben würde, was genau das war, was er wollte: sie fort von ihm – aber er stellte fest, dass sein Mund voller langer Zähne war, die sich dort wölbten und die es keinesfalls eilig hatten, wieder im Gaumen zu verschwinden. Es schien einfach nicht der rechte Zeitpunkt, sie entdecken zu lassen, dass auch er eins von diesen Geschöpfen war – wie hatte sie sie noch genannt? Schreckliche, blutrünstige Vampire.
Wenigstens hatte sie nicht „mordlustig“ gesagt. Obwohl das im Falle von Belial und Moldavi nicht verkehrt gewesen wäre.
Genau in dem Augenblick sprach Mirabella, die auch aussah, als hätte man sie einen Hügel hinuntergerollt, und sie hätte sich unten auf die Beine gekämpft. „Maia, woher haben Sie diese Rubine?“ Sie würdigte Dimitri keines Blickes, sondern eilte gleich hinüber zu Miss Woodmore. Sie war völlig aufgeregt. „Corvindale hasst Rubine“, sagte sie zu ihrer Begleiterin, sehr leise, offensichtlich, damit Dimitri es nicht hörte, was er natürlich konnte. Er verstand alles und auch die Antwort von Miss Woodmore.
„Rubine? Der Earl hasst Rubine? Warum um alles in der Welt sollte das denn mich bekümmern? Er muss sie ja nicht tragen.“ Ihr wütendes Flüstern brach dann doch. „Ich möchte Angelica finden. Wir müssen meinen Bruder finden – zumindest wird er in der Lage sein, sie zu retten. Er kann diese Vampyre töten–“
„Aber Sie verstehen nicht“, sagte Mirabella, immer noch wie ein leises Zischen, und blickte verstohlen über ihre Schulter zu Dimitri. „Schon ihr Anblick macht ihn wütend. Sie müssen diese Ohrgehänge loswerden, denn er hasst sie.“
„Was?“ Miss Woodmores Stimme schraubte sich ungläubig hoch, was auch der Überraschung Dimitris entsprach, dass Mirabella so viel über sein Gebrechen wusste. Er hatte sich große Mühe gegeben, es vor ihr geheim zu halten, ebenso wie die Tatsache, dass sie nicht seine Schwester war, sondern ein Findelkind, dass er vor Jahren zu sich ins Haus geholt hatte. „Meine Rubine loswerden?“
Natürlich wusste die Dienerschaft Bescheid und wurde über die Maßen gut bezahlt, um die Geheimnisse ihres Herren vor allen anderen zu verbergen. Abgesehen davon, war niemand erpicht darauf, sich den Zorn eines Drakule zuzuziehen, und im Gegensatz zu Moldavi lag Dimitri auch nichts daran, jeden seiner Diener in einen Drakule zu verwandeln. Iliana hatte auch kein lockeres Mundwerk. Sie hatte ihre eigenen Gründe dafür, das Geheimnis zu wahren.
„Ich werde nichts dergleichen tun“, sagte sein Mündel, wobei sie an die Ohrringe griff. Sie warf Dimitri einen Seitenblick zu und lehnte sich dann mehr zu Mirabella. „Warum sollten bloße Juwelen ihn so wütend machen? War er deswegen so seltsam in der Kutsche?“
Zu dem Zeitpunkt hatte Dimitri sich abgewandt, und Verärgerung sowie Wut stachen ihn an den Schultern. Er lenkte seine Aufmerksamkeit erneut auf den Ort der Entführung, anstatt sich zu fragen, wie viel genau Mirabella denn über ihn wusste, und wo sie dieses Wissen her hatte. Und die Tatsache, dass Miss Woodmore sich mit der ihr eigenen Sturheit in die neue Information verbissen hatte, was seine Abneigung gegen Rubine anbetraf.
Und gerade da kam, die Schicksalsgöttinnen seien gepriesen, Tren mit einer Droschke an.
Dimitri wünschte sich nichts lieber, als die Frauen zurück nach Blackmont Hall zu schicken und sich dann auf den Weg zu machen, aber er wagte es nicht, sie aus den Augen zu lassen, bis er wusste, dass sie wirklich in Sicherheit waren. Während die Frauen also in eine Droschke stiegen, mitsamt Rubinen und dem Rest, ließ er sich auf dem hinteren Posten des Gefährts nieder, wo sonst ein Lakai thronte, und ließ Tren vorne neben dem Fahrer sitzen.
Die Fahrt nach Blackmont Hall verlief ohne weitere Zwischenfälle, und Dimitri ging hinein, um zu sehen, ob er seit der Warnung von Voss – die sich im Nachhinein als durchaus angebracht herausstellte – in der Zwischenzeit irgendwelche Nachrichten von Chas oder Giordan Cale erhalten hatte. Er fand eine Botschaft, dass sie im White’s darauf warteten, Nachricht von ihm zu erhalten. Die zeitliche Verzögerung der Nachricht bedeutete, auch hier kam alles zu spät, um Angelicas Entführung zu verhindern, was Dimitri erneut wütend werden ließ, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass das Vorhandensein von Rubinen in seinem Haus – und dann auch noch auf engem Raum in einer Kutsche – die Sicherheit beider Woodmore Schwestern gefährdet hatte. Die Verantwortungslosigkeit von Voss war nicht zu entschuldigen. Dimitri bewaffnete sich mit einem Eschepflock und seinem schweren Spazierstock. Die untere Hälfte besagten Spazierstocks war eigentlich ein Säbel, der ihm gute Dienste leisten würde, wenn er auf Belial traf.
Oder Voss.
And dann schob er sich noch eine Pistole in seine Tasche und schlüpfte aus dem Haus, bevor Miss Woodmore ihm wieder auflauern konnte. Die ungeheure Erleichterung, die er verspürte, als ihm dies gelang, war in sich schon Grund für weitere Verärgerung.
Wenig später kam er im White’s an, dem wohlbekannten Klub für Gentlemen, wo die Drakule private, unterirdische Gemächer hatten, gut versteckt im hinteren Teil. Es war eine feine Ironie des Schicksals, dass der Klub, in dem die mächtigsten und reichsten Mitglieder der besseren Londoner Gesellschaft ein und aus gingen, von Dimitris eigenem Klub in Wien beeinflusst worden war. Aber die Drakule, die den Klub frequentierten, benutzten selten die Prunkgemächer nach vorne hin – außer um ab und an eine Wette eintragen zu lassen.
An einem regnerischen Tag hatte sich genau hier eine berühmte Episode ereignet, als nämlich Beau Brummel und Lord Eddersley – ein Sterblicher und ein Drakule – vorne im Erker am Fenster gesessen hatten und dreitausend Pfund darauf wetteten, welcher von zwei Regentropfen als erster am unteren Rand der Scheibe ankäme.
Seit Dimitris ähnlich gestaltetes Etablissement in Wien in Flammen aufgegangen war, hatte er die Lust an derlei Investitionen verloren, obwohl er mitgeholfen hatte, als der White’s Klub von Chesterfield nach St. James umgezogen war. Dimitri fand es unglaublich komisch, dass das de facto Hauptquartier der aristokratischen Whig Partei von einem Drakule finanziert wurde, der mit politischen Parteien oder gar Patriotismus rein gar nichts anfangen konnte.
Die juristischen Systeme seiner sterblichen Mitmenschen hatten größtenteils überhaupt keinen Einfluss auf seine Welt. Und als jemand, der die Cromwell Jahre miterlebt hatte, ebenso wie die erneute Thronbesteigung von Charles III, bereits bevor er Drakule geworden war, hatte Dimitri ob seiner Politik-Apathie keinerlei Gewissensbisse. Tun und Treiben der Regierungen bedeuteten ihm nichts.
Als Dimitri ankam, fand er Chas und Giordan Cale in den privaten Gemächern des White’s vor. Bis auf sie drei und dann noch zwei Diener, die dort arbeiteten, waren die Räumlichkeiten leer. Es gab zu der Zeit nicht viele Drakule in London – dies war zu anderen Zeiten auch nicht anders gewesen, denn Luzifer war als Seelenfänger recht wählerisch bei seiner Auswahl. Reichlich sauer dachte Dimitri, was ihn anbetraf, dürfte der Teufel ruhig noch wählerischer sein und hätte vor hundertvierzig Jahren gerne auch an ihm vorübergehen können. Er war ganz sicher nicht der Typ von Mann, den sich Luzifer sonst aussuchte.
Zumindest war er es nicht gewesen, bevor er Drakule wurde. Er war ein ruhiger, ernsthafter junger Mann gewesen, der in einem puritanischen Haushalt aufgewachsen war, in dem Bücher und Gott verehrt wurden, und die Kleider schwarz, braun, grau oder graubraun waren.
Er war restlos in seinem Studium aufgegangen, denn als der jüngste von vier Söhnen war es recht unwahrscheinlich, dass er den Corvindale Titel erben würde, und so bereitete er sich auf einen Lehrstuhl in Physik in Cambridge vor. Und selbst als Cromwell abgesetzt wurde, und Charles II wieder auf den Thron kam, führte Dimitri sein einfaches Gelehrtenleben fort. Bis er Meg traf.
„Endlich“, sagte Chas, und schaute vom Tisch hoch. Sein Gesicht war angespannt.
„Etwas zu trinken, Corvindale?“, fragte Giordan, als Dimitri durch den Raum schlenderte. Sein Halstuch war etwas locker, und er war in Hemdsärmeln. Er und Chas schienen mitten in einer Schachpartie zu stecken.
Interessant und nur schwer zu begreifen, besonders jetzt, da Chas sicherlich schon über die gemeinsame Vergangenheit von Giordan und Narcise im Bilde war. Aber wenn überhaupt einer von ihnen, dann war Giordan Cale der Inbegriff eines Gentleman und hatte sich immer unter Kontrolle.
Dimitri schaute zum Schachbrett, um zu sehen, wer gewann. Schon ein kurzer Blick bestätigte seine Vermutungen: Chas war ein Spieler der wagemutigen, riskanten Züge und Giordan eher subtil oder mit doppelter Strategie. Ebenbürtige, aber sehr unterschiedliche Gegner.
Interessanterweise waren keine der beiden Königinnen mehr im Spiel.
Noch interessanter war die Abwesenheit von Narcise selbst. Man musste annehmen, Chas hatte sie irgendwo sicher untergebracht, während er sich um die anstehenden Probleme kümmerte. Vielleicht bei Rubey.
„Angelica ist entführt worden“, sagte Dimitri ohne große Einleitung. Er nahm gerne ein Glas an und setzte sich zu ihnen an den Tisch.
„Voss?“ Chas spuckte den Namen aus, als er aufsprang. Wäre er Drakule, hätten seine Augen leuchtend rotorange geglüht. „Wenn er dahinter steckt–“
„Nein“, sagte Dimitri und nahm einen großen Schluck von seinem Whisky und erklärte dann in knappen Worten, was geschehen war. „Wir werden die Stadt absuchen und dann nach Dover müssen, wenn wir sie hier nicht erwischen.“
Chas lehnte sich in seinem Sessel zurück und nickte. Seine Augen waren zornig, und er hatte einen harten Zug um die Mundwinkel. Wir werden uns aufteilen müssen.“
Sie hatten gerade die Plätze bestimmt, an denen man Belial zusammen mit seiner Geisel Angelica am wahrscheinlichsten vorfand, ebenso wie die besten Routen, und waren dabei, die Örtlichkeiten unter sich aufzuteilen, als sich die Tür öffnete.
Dort stand Voss, der eine Gestalt in Umhang und mit übergezogener Kapuze festhielt.
Dimitri fuhr hoch und griff nach dem Pflock in seiner Innentasche, gerade als Chas in seinem Sessel herumwirbelte, um zu sehen, wer da sei.
„Sei kein Narr“, sagte Voss in schneidendem Ton und schlug seinen Mantel zurück, um die Sicht auf einen großen Rubin, dort in seinem Halstuch, freizugeben. „Hast du gedacht, ich wäre so dumm und käme unvorbereitet?“
Dimitri blieb stehen, die Hand immer noch dort in einer Lache aus Whisky, als er Voss mit einem finsteren Blick bedachte. Der Rubin war weit genug entfernt, um seine schädliche Wirkung nicht voll zu entfalten, aber er konnte auch nicht näher herangehen. Bastard. Ein gerissener, hinterhältiger Bastard.
Widerstrebend blickte er zu der Gestalt neben Voss. Es handelte sich offensichtlich um eine Frau, und Dimitri hatte plötzlich das sehr hässliche Gefühl, er wüsste um wen.
Unmöglich. Selbst sie wäre nicht so töricht.
Aber er konnte es sich nicht ganz ausreden, und als sie die Kapuze mit einem Ruck abnahm, und er Miss Woodmores anklagende Augen sah, und das zerwühlte, kastaniengoldene Haar, konnte er nicht an sich halten und rief entrüstet, „Sie.“ Er durchbohrte sie mit seinen Augen.
„Da ich weiß, wie sehr Sie mich schätzen, bin ich nicht gekommen, ohne vorher nicht gewisse Schutzmaßnahmen zu ergreifen“, sagte Dewhurst gerade zu Chas, der seinen Pflock bereits gezückt hatte und ihn kampfbereit in den Händen hielt. „Halten Sie sich von mir fern, und niemandem wird etwas geschehen.“
„Maia“, sagte Chas, „Geht es dir gut?“
„Abgesehen davon, dass ich wegen meiner Schwester Todesängste ausstehe, während ihr übrigen einfach nur dasitzt und eurem Klub einen Besuch abstattet? Ja, mir geht es gut. Wenn Lord Dewhurst nicht gewesen wäre, stünde ich immer noch vor der Tür und würde mich mit dem Butler streiten. Er hat mir geholfen, hier hineinzukommen.“
„Wie praktisch“, erwiderte Dimitri mit zusammengebissenen Zähnen. Er sank wieder in seinen Sessel, aber er konnte das Feuer in seinen Augen nicht unterdrücken, als er seinen Blick wieder Voss zuwandte. Intriganter Schweinehund.
Und aus seinen Augenwinkeln sah er dann, wie Miss Woodmore steif wurde. Sie schaute geradewegs zu ihm hin, und er sah in ihren Augen den Schock und die Erkenntnis, als sie das Glühen in seinen Augen bemerkte.
Sie hatte es also erraten. Wenigstens würde er seine Zähne nicht mehr vor ihr verbergen müssen, aber das war ein schwacher Trost. Natürlich würde sie Mirabella alles bei der ersten Gelegenheit brühwarm erzählen.
Er fauchte leise vor sich hin. Verdammnis. Er würde sie mit seinem Bann belegen müssen, damit sie das alles vergaß. Wenn er in Zukunft auch nur eine ruhige Minute haben wollte.
„Ich kann gar nicht glauben, wie unfähig du bist, Dimitri. Ich hatte dich doch vorgewarnt“, sagte Voss barsch, was Dimitri erst einmal von seinem Elend ablenkte. „Und Sie, Woodmore. Noch ein Zauberkunststückchen, wo Sie verschwinden und Simsalabim wieder auftauchen? Sind Sie nun gekommen, um sich um ihre Schwestern zu kümmern oder nicht?“
Wut ließ Dimitri aus dem Sessel hochfahren, seine Augen brannten jetzt vor Zorn. „Oh, ja, Ich habe deine Nachricht erhalten – zusammen mit ein paar verfluchten Rubinohrgehängen, du hinterhältiger Bastard.“ Er wäre durch den Raum gesprungen, wenn Chas ihn nicht mit einem ausgestreckten Arm aufgehalten hätte.
„Ganz ruhig“, sagte Woodmore leise und hielt den Pflock in einem todbringenden Winkel. „Er gehört mir.“
Voss ließ seine Zähne aufblitzen, und erwiderte Dimitris wütenden Blick. „Es war ein Scherz, nichts weiter. Ich hatte Angelica gewarnt, sie nicht in deiner Gegenwart zu tragen.“
Den Teufel hast du getan, du Bastard.
„Verflucht sei Ihre Seele bis hinab zu Luzifer, es ist Ihre verdammte Schuld, dass sie weg ist“, unterbrach ihn Chas. Dimitri spürte, wie der Mann neben ihm sich gleich einer Metallfeder zusammenzog und zum Sprung bereit machte, obwohl er sich nichts davon anmerken ließ. „Sie und Ihre verfluchten Scherze und Spielchen, Voss.“
Bevor Voss antworten konnte, sprang Chas los, warf einen Sessel beiseite und sprang über einen Tisch hinweg. Um den Mann gegen die Wand zu donnern. Er war schnell, aber Dimitri war schneller, Dimitri flog fast durch das Zimmer, um Miss Woodmore zu packen und aus dem Weg zu schaffen, gerade als die beiden Männer zu Boden gingen.
Sie war leicht wie eine Feder, genau wie damals vor drei Jahren und dann natürlich noch wie ein paar Nächte zuvor. Und im Gegensatz zu der Nacht vom Maskenball umgab sie nicht meterweise Stoff oder anderes Material, als er sie hochhob und beiseite schob, wobei er sie fest an seine Brust hielt, damit sie nicht von einem vorbeifliegenden Stuhl erwischt wurde.
Es war wahrscheinlich besser, sie sah nicht, was gleich mit Voss Dewhurst passieren würde.
„Lassen Sie mich los, Sie Idiot von einem Mann!“ Sie rammte ihm einen Ellbogen – genauso spitz wie ihre Zunge – in seine Magengrube, und Dimitri grunzte und schob sie etwas zur Seite, so dass es nicht wieder passieren konnte. Aber sie versuchte, nach ihm zu treten und sich loszureißen, selbst als Sessel durch die Luft flogen und Tische hochgeschleudert wurden. Schachfiguren flogen in alle Richtungen. Die Whiskyflasche ging krachend zu Boden.
Verrücktes Weibsbild. Wollen Sie denn unbedingt getötet werden? Er riss sie gerade noch rechtzeitig zur Seite, so dass Voss und Chas nicht in sie hineinrauschten – die beiden lieferten sich da gerade einen verdammt guten Kampf. Wenn Voss nicht so wütend auf Voss gewesen wäre, hätte er den Kampf mit Interesse verfolgt. Obwohl er ein Sterblicher war, und auch nicht so stark oder schnell wie ein Drakule, war Chas brillant. Man würde nie vermuten, dass er im Grunde unterlegen war.
Und vielleicht war er auch, was Vampire anbetraf, nicht unterlegen. Vielleicht war er dazu geschaffen – sie zu jagen. Gott würde sich ja schließlich auch etwas einfallen lassen, gegen die Bösartigkeit von Luzifers Kreaturen.
Chas schleuderte Voss gegen die Wand und folgte auf dem Fuße mit seinem hoch erhobenen Pflock. Sie krachten gegen das Mauerwerk, und Dimitri streckte das Bein aus, was Voss zum Stolpern brachte. Chas setzte zu Sprung an und war gerade bereit, den Todesstoß auszuführen, als Miss Woodmore schrie.
„Nein! Chas!“, schrie sie und vergrub ihr Gesicht in Dimitris Hemd.
Natürlich beachtete Chas sie gar nicht, als er den Pflock auf Voss’ Herz niedersausen ließ. Der mächtige Stoß fiel, und Dimitri konnte beobachten, wie der Pflock quasi von Voss’ Brust abprallte. Was zur verdammten Hölle...?
Eine Art Panzer, dieser verfluchte Kerl.
Alles wurde auf einmal still, bis auf den heftigen Atem der beiden Kämpfenden. Und dann erhob sich Chas mit einem gemurmelten Fluch und trat zurück. Weg von dort, wo er auf seinem Gegner gelandet war, mit einem zersplitterten Pflock in der Hand.
Als es ruhig wurde, konnte Dimitri das Bündelchen Frau nicht mehr ignorieren, das sein Hemd mit zwei kleinen Fäusten gepackt hatte, und ihren warmen Atem, der ihm durch das Leinen auf der Haut brannte. Ganz zu schweigen von einem Busen, dessen zwei Spitzen deutlich gegen seine Brust pressten. Hitze stieg jäh in ihm auf, und er beging den Fehler, tief einzuatmen, wodurch er jetzt den Geruch von ihrem Haar in der Nase hatte. Zitrone und Jasmin, und eine leichte Note von Kardamom und Vanille. Blumen und Gewürze.
Er zwang sich dazu, ihre schlanken Arme loszulassen und seine herunterhängen zu lassen. „Ich hoffe inständig, dass Sie sich nicht gerade die Nase an meinem Hemd schneuzen, Miss Woodmore.“ Er musste sich sehr anstrengen, damit seine Stimme herablassend und arrogant klang.
Miss Woodmore sprang zurück, als hätte sie etwas gestochen, und er konnte gerade noch hochrote Wangen sehen, bevor sie sich wegdrehte.
„Einen Panzer?“, sagte Chas gerade zu Voss, als er sein Hemd glatt strich. Er sah verdammt wütend aus.
„Etwas in der Art. Ich hatte Sie gewarnt, dass ich gewappnet käme – das bezog sich auf alle hier.“ Er schaute auch nachdrücklich zu Dimitri und Giordan. „Wenn Sie nun davon ablassen könnten, über mich herzufallen, würde ich es sehr begrüßen, wenn wir uns der Frage der Rettung von Angelica zuwenden.“
„Ihre Hilfe ist weder erwünscht noch vonnöten “, sagte ihm Chas. „Abgesehen davon möchte ich Sie auch nicht in der Nähe von irgendeiner meiner Schwestern wissen. Ein anderes Land wäre eine ausgezeichnete Idee. Nur weil Sie dieses Mal vorbereitet waren, heißt das keinesfalls, dass Sie meinem Pflock immer entgehen werden.“
Dewhurst lachte kurz bitter auf. „Ich hätte nicht geglaubt, dass Sie so dumm wären, Woodmore. Denn ich bin hier von Ihnen der Einzige, der Ihnen wieder zu Angelica verhelfen kann.“
Dimitri unterdrückte ein ungläubiges Schnauben und ging durch das Zimmer, um sich noch ein Glas Whisky einzuschenken. „Das wird verdammt noch mal nicht passieren.“
Voss zuckte mit den Schultern und schaute zu Miss Woodmore. „Nun denn, also gut“, sagte er kühl, „ich wünsche Ihnen viel Glück.“ Er wandte sich zum Gehen.
„Warten Sie!“, wütend stampfte Maia mit dem Fuß auf den Boden.
Dimitri widerstand der Versuchung, die Augen zu verdrehen. Immer dieses dramatische Gehabe.
„Willst du mir jetzt etwa weismachen, dass du ihn einfach gehen lässt?“ Wütend starrte sie ihren Bruder an. „Ohne ihn zu fragen, was er zu sagen hat? Angelica ist in Gefahr, und alles, was euch drei interessiert, ist ... was ihr euch irgendwann einmal in der Vergangenheit an den Kopf geworfen habt. Ich schwöre, ihr drei seid nichts als dumme kleine Jungs, die sich um einen Ball streiten.“
Dimitri öffnete gerade den Mund, um ihr zu sagen, wie falsch sie damit lag, aber Woodmore kam ihm zuvor. „Ich brauche seine Hilfe nicht.“ Seine Stimme troff nur so vor brüderlicher Verachtung.
„Die Dame hat vielleicht Recht.“ Giordan hatte sich aus dem Kampf herausgehalten, sicherlich aufgrund der Tatsache, dass Voss irgendwo an seinem Körper Cales Asthenie verbarg, obwohl er nicht im Besitz einer echten Katze zu sein schien. Und da Giordan sich offensichtlich nicht verpflichtet sah, sich um die nervige Miss Woodmore zu kümmern, hatte er beneidenswerterweise nur den Beobachter machen müssen. „Hören wir uns wenigstens an, was der Bastard – bitte um Vergebung, Miss Woodmore – zu sagen hat. Dann setz ihn von mir aus vor die Tür.“
„Nur dank mir wusstest du überhaupt von ihrem Angriff heute Nacht“, sprach Dewhurst mit einem scharfen Blick zu Dimitri hin. Dann wandte er sich Maia zu. „Ich hatte zufällig das Glück, die Wege von Vampir Belial zu kreuzen, der von Cezar Moldavi ausgesandt wurde entweder ihren Bruder aufzuspüren ... oder jemanden anderes zu finden, der als Geisel verwendet werden könnte.“
Dimitri schaute zu, als Voss Maia erklärte, wie er von Belials Plänen erfahren hatte. Der Mann schien wirklich bestürzt, besonders, wenn man bedachte, dass es sich hier um Voss handelte. War der Mann wahrhaftig um Angelica besorgt? War das hier dann doch kein inszeniertes Spiel um Aufmerksamkeit oder ein Scherz? Seine Augen verengten sich und beobachteten Voss scharf, selbst als Verachtung ihm bitter ihm Magen lag.
Voss war nie wegen einer Frau bekümmert.
Er benutzte sie lediglich. Verführte sie und nahm sich, was er nur konnte. Während er ihnen nichts wirklich Böses wollte, kümmerte Voss sich stets doch nur um das eine: sich und sein Vergnügen. Und sonst um niemanden.
Angelica Woodmore, eine junge sterbliche Frau, wäre wohl kaum etwas anderes als die Hunderte oder Tausende vor ihr in all den Jahren. Willig oder eben nicht.
„Als ich hier ankam und sie im Streit mit dem Butler vorfand“, erklärte Voss gerade mit einer fast schnurrenden Stimme, „hielt ich es für das Beste, sie nicht dort vor der Tür stehen zu lassen, wo sie sicherlich bald jemandem aufgefallen wäre, sondern sie mit hineinzunehmen.“
„Sie hatten heute Nacht mehr als genug Gelegenheit sie zu entführen, und ebenso Mirabella“, erinnerte ihn Corvindale zwischen zusammengebissenen Zähnen. Er war immer noch außer sich vor Zorn wegen des Desasters. „Sie haben sich dagegen entschieden. Sie wollten nur Angelica.“ Moldavi konnte sich die Gabe des Zweiten Gesichts der jüngeren Woodmore Schwester auf alle erdenklichen Arten zunutze machen.
„Weil sie sie bereits identifiziert haben. Ich bin mir sicher, dass Moldavi mittlerweile von ihrer ungewöhnlichen Gabe weiß. Angelica hat daraus kein großes Geheimnis gemacht, zumindest nicht unter ihren Freunden. Moldavi wird sie nicht nur als Druckmittel gegen ihren Bruder einsetzen, sondern sie auch für sich arbeiten lassen. Er kann sie dazu zwingen, ihm alles über eine Person zu erzählen, von der er ihr einen persönlichen Gegenstand bringt.“
„Sie vergeuden unsere Zeit“, sagte Woodmore. „Wir waren gerade fertig mit unserem Plan, die Stadt abzusuchen, und Sie haben uns hier unnötig aufgehalten.“
„Und wo genau in der Stadt gedachten Sie denn zu suchen?“, fragte Dewhurst und hob eine arrogante Augenbraue. Er holte ein Taschentuch hervor und wischte sich etwas verschmiertes Blut von seinen Händen, als er zu Dimitri hochblickte. „Denn sie befindet sich gar nicht mehr in der Stadt. Sie nehmen sie auf einem Boot mit nach Paris. Sie sind Ihnen schon ein gutes Stück Themse abwärts voraus.“
Satans verfluchte Gebeine.
Chas und Dimitri tauschten einen Blick aus. Sie hatten nicht erwartet, dass die anderen ein Flussboot benutzen würden, um die Stadt zu verlassen. Ein Schiff oder eine Postkutsche, aber nicht eines der kleinen Boote auf dem Fluss.
Giordan nickte nachdenklich, und Voss fuhr fort, als er sah, dass alle ihm nun zuhörten.
„Sie haben doch nicht etwa geglaubt, Cezar würde sich hierher bemühen? Belial bringt Angelica gerade zu ihm. Die gute Nachricht ist, dass sie dort unversehrt ankommen wird – denn Cezar wird sie für alles, was nur möglich ist, einsetzen wollen. Und Belial wird es nicht riskieren, dass ihr irgendetwas zustößt. Die schlechte Nachricht ist ... niemand von Ihnen wird sich zu Moldavis Wohnsitz in Paris Zutritt verschaffen können, um an Angelica heranzukommen. Außer mir.“
Dimitri machte sich nicht die Mühe, ihm zu widersprechen. Moldavi würde ihn sehen wollen, und wenn es nur war, um ihm einen Pflock durchs Herz zu rammen. Es würde ihm in der Tat ebensoviel Vergnügen bereiten, wie es Dimitri bereiten würde.
„Du hast mich vergessen. Moldavi wird mich sehen wollen“, sagte Cale. Seine Stimme war ausdruckslos und seine Augen leer. „Ich werde gehen.“
„Nein, Giordan“, fuhr ihn Dimitri an und schaute seinen Freund besorgt an. Cale musste sich das nicht noch einmal antun. Es gab andere Wege.
„Ich werde gehen“, sagte Dewhurst entschlossen. „Moldavi wird mich empfangen. Ich bin im Besitz von Informationen, die Napoleon Bonaparte betreffen, die ihn sehr interessieren. Und ich werde Angelica zurückholen.“
„Wie werden Sie nach Paris kommen? Wir befinden uns im Krieg!“, warf Maia ein. „Mrs. Siddington-Graves sitzt dort schon seit über einem Jahr fest!“
Dimitri hatte keine Ahnung, wer Mrs. Siddington-Graves war, und es war ihm auch herzlich gleichgültig, aber er unterließ es, etwas zu sagen. Wenn er schon hier war, sollte Woodmore sich verdammt noch mal um seine Schwester kümmern.
„Warum sollte ich Ihnen vertrauen?“, sagte Chas gerade.
„Ich habe sie schon einmal zurückgebracht, oder nicht?“, gab Voss ihm zurück.
„Zusammen mit Alpträumen, schrecklichen Erinnerungen, ganz zu Schweigen von den Bisswunden an ihrem Hals. Nicht ganz unversehrt.“
Dimitri sah, wie ein Gefühl, das man als Kummer oder gar Schuldbewusstsein hätte bezeichnen können, schnell über das Gesicht von Voss glitt – wenn er nicht wüsste, dass derlei Gefühle Voss etwa so fremd waren wie Sonnenlicht. „Wie Sie wissen, habe ich mein langes Leben damit zugebracht, Informationen zu sammeln und alles über die Schwächen sowohl meiner Partner als auch meiner Feinde in Erfahrung zu bringen. Ich weiß, wie ich Moldavi für mich einnehmen kann“, sagte er betont ruhig.
Als er zu Miss Woodmore hinüberblickte, sah Dimitri, dass sie diesem Gespräch mit Interesse folgte. Hoffnung und Entsetzen kämpften dort auf ihrem Gesicht, und er dachte, es müsste mit der Sorge um ihren Bruder zusammenhängen. Denn, wenn Chas letzten Endes nicht zurückkehrte, wäre sie auf ewig Dimitris Mündel – oder zumindest bis sie Hochzeit feierte.
Schon bei dem Gedanken wurde Dimitri geradezu Himmelangst, und er versuchte nun auch, dem Gespräch zu folgen, bereit, für die Rettung Angelicas Voss als ersten zu opfern. Die Argumente des Mannes waren logisch – so sehr es ihn anwiderte, das zuzugeben.
Chas schien zum gleichen Schluss gekommen zu sein. „Nun gut. Dann werde ich Sie nach Paris begleiten.“
„Nein! Chas! Was, wenn Moldavi dich auch noch gefangen nimmt?“, warf Maia unnötig schrill ein und bestätigte damit Dimitris Verdacht. Er verzog das Gesicht, so schrillte es noch in seinen Ohren.
Ihr Bruder warf ihr einen beleidigten Blick zu. „Ich bin durchaus in der Lage, auf mich aufzupassen, Maia. Ich schlüpfe Moldavi schon seit Jahren immer wieder durch die Finger.“ Er blickte kurz zu Dimitri, dann zu Giordan. „Narcise wird natürlich hier bleiben müssen.“
Verdammnis. Dimitri würde nicht für noch eine Frau die Verantwortung übernehmen. Ganz besonders keine Drakule, die seinen besten Freund vernichtet hatte, und jetzt allem Anschein nach dabei war, genau dasselbe mit seinem engsten Geschäftspartner zu tun. Beide waren wahrhaft Idioten vor dem Herrn.
Meg hatte ihm fast das Gleiche angetan.
„Aber, Chas ... ich begreife das nicht. Warum arbeitest du mit Vampyren zusammen, wenn du sie tötest?“, fragte Maia und blickte kurz zu Dimitri. Sie sah erschöpft und verwirrt aus, und schon wieder fühlte er wider Willen dieses Schmelzen in seiner Magengegend.
Unerbittlich ließ er seine Gedanken wieder kühl und hart werden und hob das Kinn an, so dass er von einer noch höheren Distanz auf sie herabschauen konnte. Wäre sie wie jede andere vernünftige Frau auch zu Hause geblieben, anstatt sich ihren Weg in einen exklusiven Herrenklub hineinzuverhandeln, würde sie jetzt friedlich schlafen.
Und träumen.
Dimitri riss seine Gedanken von dieser Richtung weg und zwang sich, Chas Woodmore seine gesamte Aufmerksamkeit zu widmen, der gerade versuchte, seiner Schwester zu erklären, warum er für Dimitri arbeitete, wo er doch geschworen hatte, dessen Rasse zu vernichten.
Das war alles nicht wirklich so kompliziert, wie es schien, wenn man es logisch betrachtete. Genau wie es gute und schlechte sterbliche Männer gab, gab es auch Mitglieder der Drakule, denen nicht der Sinn danach stand, ein ruhiges Leben unter ihren sterblichen Mitmenschen zu führen. Leute wie Moldavi, der sich von Kindern ernährte und sie sterben ließ. #Oder, wenn sie etwas wollten, dann steckten sie ein Haus in Brand und sahen zu, wie Leute dabei umkamen.
Oder sie tranken auf den Schlachtfeldern das Blut von verwundeten Soldaten, nur um zu sehen, wie sie damit ihre Qualen verlängerten.
Genau wie es Sterbliche gab, die Wild jagten, es kurz und schmerzlos töteten und es dann zum Essen verwendeten; gab es dann auch andere, die Tiere quälten, nur um zu beobachten, wie diese sich wanden und schrieen und kreischten... So gab es auch Drakule, die sich zweckmäßig ernährten und nur das von Sterblichen nahmen, was sie brauchten, und recht oft auch noch von willigen Sterblichen, und es gab Drakule, die tranken, bis der Sterbliche fast ausgeblutet war. Und ließen sie dann zum Sterben liegen.
Und es gab sterbliche Männer, die es so sehr nach Macht gelüstete, dass dies alles andere verblassen ließ, und genau so gab es Drakule, die das Gleiche ebenso skrupellos verfolgten.
Es gab Drakule, die nur ein verschwenderisches Leben lebten, angefüllt mit Luxus und Lustbarkeiten, aber die sich damit begnügten, nur dessen sinnliche Seiten auszuleben, und kein Bedürfnis hatten, jeden um sich zu beherrschen.
Und dann gab es Dimitri, der all dies nicht mehr tat. Dessen Luziferzeichen aus genau diesem Grund mit unablässigem Schmerz brannte: weil er sich das Vergnügen versagte. Sich dem Pakt verweigerte, den Luzifer mit ihm geschlossen hatte.
Und nach einem Weg suchte, sich von dem Pakt loszusagen.
Er lebte also stattdessen in Einsamkeit und Dunkelheit und suchte nach einem Ausweg aus einer Ewigkeit der Hölle.
„Jedenfalls“, sagte Chas gerade, „ich werde jetzt mit Voss nach Paris gehen, und wir werden Angelica zurückbringen. Das ist alles, was du im Moment zu wissen brauchst.“
Aber Dewhurst unterbrach ihn. „Wenn Sie meine Chancen verderben wollen, so kommen Sie mit. Andernfalls ... folgen Sie mir, wenn Sie unbedingt müssen, aber bitte mit einigen Tagen Abstand. Moldavi darf auf keinen Fall den Verdacht schöpfen, dass wir zusammenarbeiten.“
Corvindale schnaubte zustimmend. „Selbst wenn er euch beide sehen würde, wie ihr Hände schüttelt. Er würde es nicht glauben.“
Der Blick, den Dewhurst ihm zuwarf, bestand nur aus Abneigung. „Meine Worte.“