EINS

~ Worin Lord Corvindale sich mit Handschriften auseinandersetzen muss ~

Einhundertdreizehn Jahre später

London

Für wen in Luzifers verfluchter Hölle noch mal hielt sich Miss Maia Woodmore, einen Earl so herumzukommandieren?

Erbost betrachtete Dimitri, der Earl von Corvindale, die elegante Handschrift, die den dicken Briefbogen bedeckte. Feminin, makellos ausgeführt, nur hie und da mit einem Schnörkel, aber keinem einzigen Tintenklecks versehen, marschierten die Worte auf – wie mit einem Lineal gezeichneten – Zeilen über die Seite. Selbst die Ober- und Unterlängen waren ordentlich und gerade ausgerichtet, so dass nicht eine der anderen in die Quere kam. Das Briefpapier roch würzig nach einer Frau und dann auch noch nach Maiglöckchen und einer weiteren, faszinierenden Duftnote, was der Earl jetzt aber aus Prinzip nicht ergründen wollte.

Selbstverständlich war ihre Forderung in tadellose Sätze gekleidet, aber Dimitri war kein grüner Junge mehr, was weibliche Machenschaften anbetraf. Er mied alle Frauen, und sterbliche ganz besonders, rigoros – alle Frauen, ausnahmslos. Aber er war wohlvertraut mit ihren Denk- und Vorgehensweisen und ebenso damit, zwischen den Zeilen zu lesen.

Und zwischen diesen Zeilen las er im vorliegenden Fall, dass Miss Maia Woodmore verärgert war – voller empörter Selbstgerechtigkeit, genau wie damals bei dem Zwischenfall in Haymarket vor drei Jahren. Und sie erwartete, dass er ihr Gewehr bei Fuß stand. 

Lord Corvindale, stand da, ich bitte um Vergebung, Sie in dieser unpassenden Weise anzusprechen, aber ich tue dies lediglich auf die ausdrückliche Aufforderung meines Bruders hin, Mr. Charles Woodmore. (Hier konnte er geradezu spüren, wie sie vor Wut kochte, von ihrem Bruder einen solchen Befehl erhalten zu haben.) 

Mr. Woodmore (der, wie ich verstanden habe, ein Geschäftspartner von Ihnen ist) hat mir mitteilen lassen, dass, sollte ich nach seiner Abreise zum Kontinent unlängst von ihm zwei Wochen lang keine Nachricht erhalten (das ist nun seit gestern, dem 18. Juli 1804, der Fall), ich Ihnen unverzüglich zu schreiben hätte, was die Vormundschaft meiner Person und der meiner beiden Schwestern anbelangt, Angelica und Sonia (Letztere befindet sich in der St. Bridies Klosterschule in Schottland in besten Händen).

Hier, beim dritten Durchlesen des Briefes, hielt Dimitri inne, um zu blinzeln und die Stirn zu runzeln, ob des exakt formulierten, wenn auch etwas überlangen Satzes. Um gleich darauf dann Chas Woodmore gründlich zu verfluchen, der ihn überredet hatte, diesem Wahnsinn zuzustimmen. Es lag nun schon über sechs Jahre zurück, dass Woodmore Dimitri diesen Schwur abgeluchst hatte. Und Dimitri hatte seither keinen Gedanken mehr daran verschwendet. 

Natürlich hatte er von Woodmore nicht erwartet etwas derartig Schwachsinniges zu tun, wie er es getan hatte, indem er mit Narcise Moldavi verschwunden war, anstatt ihren Bruder zu töten, was eigentlich das Ziel seiner Reise nach Paris gewesen war. Narcises Bruder, Cezar, würde toben – so viel stand fest. 

Aber zumindest hatte Woodmore für die Sicherheit seiner eigenen Schwestern Vorkehrungen getroffen, für den Fall, dass Cezar Moldavi herausfand, wer hinter der Entführung seiner Schwester steckte – vielleicht waren sie ja auch miteinander durchgebrannt, und es war gar keine Entführung. Cezar hätte kein Problem damit, seine Wut an drei unschuldigen jungen Frauen auszutoben. 

Er hatte sich seit Wien sicher nicht geändert. Wenn überhaupt, so hatten seine Gier nach Macht und seine Herrschsucht eher zugenommen. 

Dimitri wandte sich wieder dem Brief zu und versuchte, den geheimnisvollen Duft zu ignorieren, der dem Papier entstieg. Eines der vielen Leiden im Leben eines Drakule war ein außerordentlich gut ausgeprägter Geruchssinn. Nicht besonders angenehm, wenn man sich auf den Straßen und in den Gassen Londons befand, und noch weniger, wenn man etwas roch, was man partout nicht riechen wollte. Widerwillig las er weiter:

Mein Bruder hat mir den Ernst dieser Angelegenheit eingeschärft, und es ist nur wegen eben dieser absoluten Dringlichkeit seinerseits, dass ich es wage, diesen Brief zu schreiben.

Ich möchte Ihnen, Lord Corvindale, versichern, dass der einzige Grund, aus dem ich mich mit Ihnen in Verbindung setze, der ist, um damit dem ausdrücklichen Wunsch meines Bruders zu entsprechen. Es gibt wirklich keinen Grund für Sie, sich wegen der Vormundschaft von mir und meinen Schwestern zu bemühen, denn Chas war bereits des öfteren auf Geschäftsreisen, und es ist uns während seiner früheren Abwesenheiten unter der Aufsicht unserer Cousine und deren Gatten, Mrs. und Mr. Fernfeather, bislang ausgezeichnet ergangen.

Er erinnerte sich, dass Miss Maia Woodmore bei seiner bislang einzigen Begegnung mit ihr auch in Person so umständlich gewesen war. 

Zusätzlich wird meine unmittelbar bevorstehende Hochzeit mit Mr. Alexander Bradington mich in die Lage versetzen, selbst die Aufgaben einer Anstandsdame für meine jüngeren Schwestern zu übernehmen. 

Dimitri stellte fest, dass er dabei war, das Papier zu zerknüllen, und er ermahnte sich, dass das geschriebene Wort kostbar war, gleichgültig von wem es kam, und in welcher Sprache es verfasst war. Ja, er hatte die Verlobungsanzeige in der Times vor ein paar Monaten gesehen. Die Neuigkeit wurde natürlich von Leuten begrüßt, die sich eben mit derlei Ondits beschäftigten – zu denen der zurückgezogen lebende Earl von Corvindale gewisslich nicht gehörte. 

Zu diesem Zeitpunkt (so schrieb Maia Woodmores makellose Schrift unumwunden fort) werden Ihre Dienste als Vormund meiner Schwestern und meiner Selbst nicht mehr vonnöten sein. 

In der Tat – (hier wurde ihre schöne Handschrift ein klein wenig dicker und vielleicht sogar noch penibler) – sehe ich keinerlei Veranlassung, warum Sie, Lord Corvindale, sich im Hinblick auf meine Schwestern und mich überhaupt bemühen sollten. Entgegen der Befürchtungen meines Bruders, die ich für übertrieben und letzten Endes unbegründet erachte, werden Angelica und ich in London ohne weiteres ausgezeichnet alleine zurechtkommen, bis Chas zurückkehrt. 

Für eine Antwort Ihrerseits so bald wie möglich wäre ich Ihnen sehr verbunden.

Was, wie Dimitri wusste, hieß: sobald er den Brief geöffnet hatte. Miss Woodmore würde sich daher auf eine Enttäuschung gefasst machen müssen, denn die Nachricht war heute Morgen angekommen, als er sich immer noch schlafend an seinem Schreibtisch befand. Er hätte ohnehin nicht sofort geantwortet. 

Sie hatte den Brief mit einem schlichten Maia Woodmore unterschrieben.

Und hier tauchte zum ersten Mal eine Andeutung von femininen Schnörkeln auf, an der unteren Kurve des M und an dem oberen Schwung des W. 

Zum Leidwesen von Miss Woodmore war Dimitri bereits ... – wie war noch mal das Wort? ... bemüht worden. 

Er war in der Tat mehr als ein bisschen bemüht worden, hinsichtlich ihrer Vormundschaft. Und, so knurrte er zu sich selbst, es würde nur noch schlimmer werden. Er würde die Gören in seinen eigenen Haushalt aufnehmen müssen, wenn er sie vor Moldavi und dessen Privatarmee an Vampir-Schlägertruppen in Sicherheit bringen wollte. Einen Fluch auf Chas Woodmores sterblichen Hintern. 

Zufällig wusste Dimitri, dass Moldavi in Paris seine Nase dauerhaft zwischen die Pobacken von Napoleon hielt – oder vielleicht lutschte er diese Woche die frischgebackenen kaiserlichen Eier. Daher würde es ein Weilchen dauern, bis er seine Männer nach den Woodmore Schwestern ausschwärmen ließ. Aber gewiss nicht sehr lange, trotz des Krieges zwischen England und Frankreich. 

Was hieß, Dimitri musste jetzt rasch handeln. 

Er sah sich in seinem Arbeitszimmer um, wo schwere Vorhänge die Sonne fernhielten. Bücher und Papiere lagen überall verstreut oder hochgestapelt, Regale bedeckten die Wände, vollgestopft mit noch mehr dicken Bänden und Manuskripten. Ein heilloses Durcheinander laut Mrs. Hunburgh, der es aber nur einmal in der Woche gestattet war, das Zimmer kurz zu betreten, um dort abzustauben und zu fegen. Außer Dimitris Butler und seinem Kammerdiener war allen anderen dort der Zutritt verwehrt.

Und verdammt noch mal, er hatte vorgehabt, dem Bücherantiquariat neben der Lenning Gerberei einen Besuch abzustatten. Er wollte die blonde Frau dort, die sich anzog, als wäre sie eine Schlossherrin aus dem dreizehnten Jahrhundert und nicht eine Buchhändlerin, zu Quellen befragen. Schriftrollen, Papyri, was auch immer – insbesondere die aus Ägypten. Er fluchte leise vor sich hin. Jetzt würde er dazu nicht die Gelegenheit haben.

Napoleon Bonaparte hatte von seinen Reisen durch Ägypten im Zuge seiner Eroberung Berge von Kisten und Truhen mit Antiquitäten und Kostbarkeiten mitgebracht, und diese Objekte wurden nun in ganz Europa verkauft. Sicherlich ließ sich in der alten Welt der Pharaonen und der Sonnengötter etwas finden, was Dimitri helfen würde, den Dämon zu bannen, der ihn vor so vielen Jahren zu einem frevlerischen Pakt überlistet hatte. Selbst wenn Vlad Tepes seine Abmachung mit Luzifer schon im fünfzehnten Jahrhundert getroffen hatte, so vermutete Dimitri, dass er nicht der Erste war, der dem Teufel seine Seele – und damit die seiner Nachfahren – verkauft hatte. Die Legende vor ihm, die von Johann Faust, war zwar erst nach der Vereinbarung von Vlad populär geworden, aber es musste auch schon andere gegeben haben, seit Anbeginn der Zeit. Er hatte Manuskripte und Schriften der Griechen und Römer studiert, und selbst welche aus Aramäa und anderen Teilen des gelobten Landes. 

Vielleicht könnte er aus den ägyptischen Schriften und Hieroglyphen etwas erfahren, das ihm eine Richtung anzeigen würde. Nicht, dass es bislang irgendjemandem gelungen wäre, den Code des ägyptischen Alphabets zu knacken, aber Dimitri war wild entschlossen, es zu versuchen. 

Schließlich hatte er ja eine Ewigkeit Zeit dafür. 

Und nun, da die Franzosen vor sieben Jahren in Rosetta eine Stele gefunden hatte, die sich derzeit im Besitz der Londoner Gesellschaft der Antiquare befand, sah es aus, als würde man bald den Schlüssel zu diesem Alphabet in Händen halten. Daher war Dimitri zuversichtlich. Nur zu gerne hätte er den Stein mit eigenen Augen gesehen, aber das würde bedeuten, sich unter Leute zu begeben und politische Spielchen zu spielen und Tratsch und Scherzen zuzuhören und dabei immer der Sonne aus dem Weg zu gehen ... und alles Mögliche, was er gerne vermied. 

Er hatte erwogen, den sogenannten Stein von Rosetta zu stehlen – oder vielmehr auszuleihen – um daran selber ein wenig arbeiten zu können, aber letztendlich entschied er sich dagegen. Vielleicht brach er einfach in das British Museum ein, wo der Stein sich befand, und machte sich davon eine Kopie – wenn er nicht all seine verdammte Zeit Debütantinnen auf Masken- und andere Bälle begleiten musste. Seine Kiefer tat schon weh vom Zähneknirschen.

Es führte kein Weg daran vorbei. 

Die beiden älteren Woodmore Schwestern würden sein zurückgezogenes Dasein bald restlos umkrempeln, den Haushalt durcheinander bringen und seine Studien unterbrechen. Und verdammt noch mal, das Gleiche würde seine eigene Schwester tun, Mirabella. Denn natürlich musste er auch die nun nach London bringen. Er hatte das kleine Findelkind vor Jahren an Schwester statt angenommen und dachte, er könnte ihre Einführung in die Gesellschaft noch ein wenig hinauszögern. Schon der Gedanke an drei Debütantinnen in seinem Hause ließ ihn erneut mit den Zähnen knirschen.

Alle drei würden seinen Tagesablauf empfindlich stören und endlos über Partys und Geselligkeiten und Bälle zwitschern, und was sie sonst noch so unternahmen. Kreischen, Lachen, Parfümzerstäuber und Haarpuder – und, Luzifers schwarze Seele, Dimitri würde sicherstellen müssen, dass keine von ihnen Rubine mitbrachte. 

Verfluchte, schwarze Hölle.

Aber Dimitri wusste schon jetzt, dass die Gegenwart von Maia Woodmore das Schlimmste von alledem sein würde. 

Hier. In diesem Haus. Genau unter seiner Nase.

Sollte Chas Woodmore noch am Leben sein, wenn man ihn fand, so würde Dimitri den Bastard höchstselbst umbringen.

~*~

Maia Woodmore kochte – wozu sie sich sonst nur selten herabließ. 

Im Gegensatz zu ihrer jüngeren Schwester war Maia in der Tat ein Ausbund an guten Manieren, Zurückhaltung und Anstand. Außer, wie es schien, es handelte sich um arrogante, ärgerliche Earls mit dem Namen Corvindale. 

Es war, als ob alle Männer in ihrem Leben – ob sie diese nun darin haben wollte oder nicht – mir nichts dir nichts entschieden hätten zu verschwinden, und es ihr zu überlassen, die Scherben zu beseitigen und sich um alles zu kümmern – eine Aufgabe, der sie glücklicherweise mehr als gewachsen war, egal, ob sie das nun wollte oder nicht. Schließlich war sie ja wohl seit jeher für alles verantwortlich gewesen, hatte schon immer versucht, alles zu richten, dafür zu sorgen, dass es ihren jüngeren Schwestern nicht an Liebe, Fürsorge und einem sicheren Heim mangelte. 

Zumindest seit dem Tod ihrer Eltern.

Ihren älteren Bruder Chas schloss Maia neben dem Earl von Corvindale mit in diese Litanei aus Vorwürfen ein, weil er ständig irgendwohin verschwand und ihr alles überließ – keine leichte Aufgabe, wenn man eine unverheiratete, recht wohlhabende junge Frau ohne Titel aus der besseren Gesellschaft war. Zum Glück für ihn war sie der Aufgabe nicht nur gewachsen, sondern erledigte sie wirklich bestens. 

Ebenfalls mit eingeschlossen war ihr Verlobter Alexander Bradington, der ihr an ihrem achtzehnten Geburtstag einen Antrag gemacht hatte und drei Monate später zum Festland hinüber wechselte. Jetzt war er schon achtzehn Monate fort. 

Aber der Earl von Corvindale war von allen der Schlimmste.

Alexander war in den letzten paar Monaten in Rom und Wien festgehalten worden, verzögert wegen des Kriegs mit Frankreich – was ihm streng genommen nicht angelastet werden konnte. Aber sie vermisste ihn, und wenn er hier wäre, hätten sie einfach heiraten und selbst die Anstandsdame (oder den Anstandsherren) für Angelica und Sonia mimen können. 

Chas war schon wieder auf einer seiner geheimnisvollen Geschäftsreisen verschwunden, aber diesmal lagen die Dinge anders. Er hatte eine Mitteilung hinterlassen, die klang, als würde die Welt wie seinerzeit Pompeji (oder jetzt Frankreich) demnächst untergehen, wenn er nicht binnen zwei Wochen zurückkehrte. Zu Maias großer Sorge war er nicht zurück. Sie wäre außer sich vor Wut, dass er sie und Angelica in die Hände des Earl von Corvindale warf, wenn sie im Moment nicht so besorgt wäre, dass ihrem Bruder etwas Schreckliches passiert wäre. 

Aber Corvindale war hier in London, und er hatte ihr überaus höfliches Schreiben ignoriert – das sie ihm lediglich aus Höflichkeit zukommen ließ. Und jetzt, als sie in sein dunkles, scharf geschnittenes, gelangweiltes Gesicht hochschaute, hob er auch noch eine Augenbraue, als wäre sie irgendein niederes Insekt.

„Selbstverständlich habe ich Ihren Brief erhalten“, sagte Corvindale. Seine Stimme klang fürchterlich gelangweilt. „Ich bin doch der einzige Corvindale, oder etwa nicht?“

„Aber Sie haben sich nicht bequemt zu antworten“, entgegnete Maia, wobei sie ihrer Meinung nach recht erfolgreich darin war, ihre Stimme gleichgültig klingen zu lassen. Aber aufgrund der Tatsache, dass sie sich auf dem alljährlichen, recht gedrängten Lundhame Ball befanden, musste sie etwas lauter als üblich sprechen, damit man sie bei all dem Getöse noch hören konnte.

Sie und Angelica hatten nicht beschlossen, diesem Ball beizuwohnen, weil sie annahmen, dass sie dort Corvindale treffen würden. Eigentlich hatte sie angenommen, er würde sich nicht die Mühe machen, bei den Lundhames zu erscheinen, ebenso wenig, wie er sich bemüht hatte, ihren Brief zu beantworten. Jeder wusste, der Earl war ein Einsiedler, der sich nur mit alten Manuskripten und Pergamentrollen befasste. 

Aber da war er, hob die dunkle Augenbraue und schaute von seiner großen Höhe auf sie herab, als hätte er nicht die Zeit, mit ihr zu reden. Nun, sie kochte, das Gefühl beruhte also auf Gegenseitigkeit.

„Ich betrachte den Umstand, dass wir uns unterhalten als eine hinreichende Antwort“, antwortete Corvindale. „Insbesondere, da wir uns noch nie richtig vorgestellt worden sind.“ Seine dunklen Augen funkelten. 

Maias Gesicht, verdammt sei ihr heller Teint, wurde warm und wahrscheinlich noch dunkler als die rosa Rosen auf ihrem kornblumenblauen Kleid. Nein, sie waren einander in der Tat nie offiziell vorgestellt worden. Aber sie wusste natürlich, wer er war – der große, imposante Mann dessen Erscheinen an sich den Klatschmäulern schon Anlass gab, sich in ihren Korsetts vorzubeugen, um einen Blick auf ihn zu erhaschen ... ein Wort mit dem ungehobelten, stolzen Earl zu wechseln, davon konnte man meist nur träumen. 

Und er wusste ganz bestimmt, wer sie war ... und nicht, weil er und Chas schon seit Jahren Geschäftspartner waren und sie gelegentlich bei den gleichen gesellschaftlichen Anlässen zugegen waren. Sie hatte gehofft, dass Corvindale nicht gemerkt hatte, dass es seinerzeit sie gewesen war, in jener Nacht in Haymarket, von der Maia nur noch als Dem Zwischenfall sprach. 

Maia hielt den Atem an, so dass die Röte wieder verschwand, und mied seinen Blick. Er wäre doch wohl nicht so wenig Gentleman, als dass er Den Zwischenfall erwähnen würde, sollte er doch gemerkt haben, dass sie das gewesen war. Denn sie hatte sich damals als Junge verkleidet. 

„Gestatten Sie mir, Miss Woodmore, etwas zu Ihrer Beruhigung hinzuzufügen“, sagte er, und die Langeweile war wieder in seiner Stimme angelangt, als er zu der kleinen Menschentraube hinter ihr blickte. „Ich werde Ihnen morgen Nachricht zukommen lassen, wie und wann Sie und Ihre Schwester nach Blackmont Hall kommen werden, wo Sie bis zur Rückkehr Ihres Bruders bleiben werden.

Er würde ihr Nachricht zukommen lassen? Mit Plänen für einen Umzug? Sie presste die Lippen aufeinander, bei dem Versuch, ihm nicht hier und jetzt zu sagen, was sie davon hielt, gesagt zu bekommen, was sie wann und wie tun würde – ohne dazu befragt zu werden – und von einem Mann, den sie schon auf den ersten Blick gehasst hatte. Selbst vor drei Jahren. 

Wie freundlich von Ihnen, Lord Corvindale, mich wenigstens Ihre Absichten wissen zu lassen. Genau wie jeder andere Mann auf dieser Welt, ihr Bruder mit eingeschlossen, respektierte er weder ihre Meinung noch ihre Gefühle. Es war, als hätte sie den Verstand einer Strohpuppe. Wenn die nur begreifen würden, was sie Tag für Tag alles bewältigte, wie viel sie von der Welt und ihrer Geschichte wusste und auch verstand.

Sie hatte keinesfalls die Absicht, Knall auf Fall ihr Heim zu verlassen, um in seinem zu leben, aber Maia hatte weder die Zeit, noch verspürte sie Lust, seine „Pläne“ weiter mit ihm zu diskutieren, denn die feinen Härchen, die sich ihr gerade auf den Unterarmen aufstellten, verrieten ihr, dass ihre starrköpfige Schwester Angelica gerade dabei war, wieder in eine höchst unpassende Situation zu geraten.

Im Gegensatz zu ihren beiden jüngeren Schwestern war Maia nicht mit den Zweiten Gesicht ihrer Urgroßmutter gesegnet worden. Aber sie hatte ein feines Gespür für Ärger, wenn der sich zusammenbraute, was sich schlicht in einer Art von Wissen manifestierte,

Das Zweite Gesicht geht oft seltsame Wege. Ihre Oma Öhrchen hatte das mehr als einmal gesagt, wenn Maia als junges Mädchen neidisch auf ihre Schwestern gewesen war, die das Zweite Gesicht hatten, aber sie nicht. Das war, als sie jung und dumm gewesen war und nicht begriffen hatte, welch schreckliche Last es für Angelica und Sonia darstellte. 

So kindisch. Aber das hatte sie überwunden und verstand mittlerweile, dass ihre Rolle die war, ihre kleinen Schwestern zu beschützen und für sie zu sorgen, ganz besonders nach dem Tod ihrer Eltern. Und das meisterte sie außerordentlich gut, wie alles andere, was sie in Angriff nahm. Außer Griechisch zu übersetzen, was sie als ein notwendiges, aber lohnenswertes Übel empfand. 

Und sie nahm an, dass dieses intuitive, beunruhigende Wissen – wenn die Dinge nicht das waren, was sie sein sollten oder nur merkwürdig waren – vielleicht ihre eigene Version des Zweiten Gesichts war.

„Sehr wohl, Mylord“, sagte Maia und ließ ihre Stimme klingen, als wäre sie eine Königin, die sich zu einer Audienz mit einem Untertan herabließ. „Ich werde mir Ihr Schreiben morgen dann durchsehen.“

Sie drehte sich um, bevor er antworten konnte, und erblickte sofort Angelica, tief versunken in eine höchstwahrscheinlich äußerst unpassende Unterhaltung mit Lord Dewhurst und dessen Begleiter Lord Brickbank. Ihre Schwester sah frisch und bezaubernd aus in ihrem Empire-Kleid in Dotterblumengelb, mit ihren dunklen, mandelförmigen Augen und dem Teint wie der einer Zigeunerin. Nicht der übliche Pfirsichblüten und Milch Teint jeder anderen Dame in London, wie Maia auch.

Und Maia erkannte auf einen Blick, dass der Viscount Dewhurst genau die Art von Mann war, vor dem sie ihre Schwestern stets warnte. Ein blondes, goldenes, Bild von einem Mann, mit einem unbekümmerten Lächeln, Feuer in den Augen und einem Halstuch, für dessen Knoten man wahrscheinlich ein Dutzend Anläufe genommen hatte, er war ein Wüstling reinsten Wassers, kein Zweifel. Die Art, wie er Angelica anschaute, als könnte er den Blick nicht von ihr losreißen, reichte schon, um selbst Maia tief drinnen warm und zittrig werden zu lassen. 

Wenn Alexander sie jemals so anschaute, würde er Maia damit wahrscheinlich zu einer Pfütze aus Wackelpudding schmelzen lassen. Schon wenn er sie küsste und seine Hand um den Ausschnitt an ihrem Mieder wandern ließ, wurde ihr warm, und das Herz schlug ihr höher.

Aber interessanterweise sprach Angelica gar nicht mit Dewhurst. Sie schien in eine Unterhaltung mit Lord Brickbank und seiner roten Nase vertieft, der sie reichlich verwirrt anstarrte. 

„Angelica“, zischte Maia und bewegte sich auf ihre Schwester zu. Es war hochgradig unanständig von ihr, sich mit zwei Männern zu unterhalten, von denen ihnen keiner offiziell vorgestellt worden war, und es war an Maia, dem ein Ende zu bereiten, und dabei eine größere Szene zu vermeiden. Wenn der Earl sie nicht abgelenkt hätte, wäre das kein Problem gewesen. 

Aber bevor sie das tun konnte, machte Angelica einen kleinen Knicks und verabschiedete sich von den Gentlemen. Als sie Maia ansah, lächelte sie frech, und entschlüpfte ihr, um mit Mr. Tillingsworth die Quadrille zu tanzen. 

Nun, das Schlimmste, was Angelica am Arm von Mr. Tillingsworth passieren könnte, wäre eine lähmende Langweile, wenn er ihr ohne Unterlass oder Erbarmen an einem fort von seinen Katzen erzählte. Das war der Vorteil an einem Gesellschaftstanz, anstatt mit einem Gentleman durch einen Garten oder Park zu spazieren. Bei einem solchen Tanz wurde man oft genug von seinem Partner getrennt, was einem Luft verschaffte, drehte man dagegen in einem Ballsaal oder dem Hof eine kleine Runde, konnte man nur schwerlich auf eine ähnliche Erlösung hoffen. 

Da Angelica nun beschäftigt war, hatte Maia die Gelegenheit, genau das zu tun, was sie liebte: nicht auf der Hut sein zu müssen und unbeschwert selber einen Tanz genießen zu können. Auch wenn Alexander nicht in England war, sah Maia keinen Grund, sich derlei zu versagen. 

Nach einem raschen, letzten Blick auf Angelica, die sich gerade für den nächsten Tanz aufstellte, sah Maia auf ihrer Tanzkarte, dass Ainsworth ihr nächster Partner war. Wenigstens würde er ihr nicht auf den Füßen herumtrampeln wie Mr. Flewellington gerade eben. 

Als Maia vor Lord Ainsworth knickste, fiel ihr Corvindale auf. Er stand in einer abgeschiedenen Ecke – eine Seltenheit bei einem Ball mit solchem Gedränge, aber irgendwie hatte er es geschafft – und starrte wütend auf alles, was sich da im Ballsaal vor ihm befand. 

Sie nahm an, es gab Frauen, die das dunkle, arrogante Gehabe des Earl attraktiv fänden – und die seinen recht un-liebenswürdigen Charakter hinnehmen würden. Er hatte eine schöne, gerade und nicht zu breite Nase und ein scharf geschnittenes Gesicht. Seine markanten Wangenknochen gaben seinem gesamten Gesicht ein gemeißeltes Aussehen, eine Büste, die man mit grobem Meißel gehämmert hatte, anstatt sie sanft mit Sandpapier zu formen. Und da er auch eher dunkle Kleidung wählte, wurden seine breiten Schultern und stattliche Größe noch zusätzlich unterstrichen. 

Maia streckte ihre Nase in die Luft und lächelte Ainsworth an und versuchte mit allen Mitteln, das unangenehme Prickeln der Härchen an ihren Unterarmen zu verdrängen. Das Allerletzte, das wirklich absolut Allerletzte, was sie wollte, war im Haus dieses Mannes zu leben – sei er nun ihr Vormund oder nicht. 

~*~

Die Göre machte sich keine Vorstellung von der Gefahr, in der sie und ihre Schwester sich befanden. Denn wenn sie das täte, würde sie am anderen Ende des Saals ihre freche, kleine Nase nicht so in die Luft strecken, nachdem sie Dimitri gesagt hatte, sie würde sein „Schreiben durchgehen“. Morgen dann. 

Er zwang sich, den Ärger wegzuschieben, und wartete darauf, dass seine Zähne wieder in ihrem Gaumenbett verschwanden. Und dass ihm das Blut nicht mehr derart durch die Venen rauschte. 

Das letzte Mal, als ihn eine Frau derart aus der Façon gebracht hatte, war der Tag, an dem Meg ihm mitteilte, sie würde ihn verlassen. Hier und heute lag der Fall selbstverständlich ganz anders. Aber es blieb die Tatsache bestehen: bei Miss Woodmore kochte ihm das Blut, und seine Venen schwollen an. 

Und nicht in einem guten Sinne. 

Wenn diese ordentliche Miss Woodmore sich auch nur den geringsten Begriff davon machen würde, wie rasch er gehandelt hatte, seit er von Chas’ Verschwinden wusste, wie gründlich er dafür gesorgt hatte, dass die jüngere ihrer beiden Schwestern in St. Bridies (zur Heiligen Braut, was für ein lächerlicher Name für ein Nonnenkloster, die ja niemals Bräute sein würden) auch dort in Schottland weiterhin sicher sein würde, und dann noch die Tatsache, dass sie und die ältere ihrer zwei Schwestern seit drei Tagen bereits insgeheim von ihm beschützt wurden, dann würde sich ihre überhebliche Art vielleicht in etwas wohlgefällig Dankbares auflösen. 

Aber wahrscheinlich nicht. Je mehr man sie in die Enge trieb oder sie überrumpelte, desto mehr empörte sie sich. Schließlich war er schon einmal in den Genuss ihrer scharfen Zunge gekommen, als sie sich in einer ähnlichen Bredouille befunden hatte. Sie hatte nur keine Erinnerung daran. 

Und abgesehen davon, sah er keine Veranlassung, Miss Woodmore über die vielen verborgenen Gefahren ihrer Situation aufzuklären. Chas Woodmores Geheimleben war genau das – ein Geheimnis, genau wie die Existenz der Drakulia im Allgemeinen der übrigen Welt auch verborgen blieb. 

Dimitri blieb dort auf seinem Posten und hielt Ausschau nach Anzeichen dafür, dass Moldavi schon früher als erwartet in Aktion getreten war. Während er den Saal absuchte, hatte er die Arme vor der Brust verschränkt. Angefüllt mit zu fröhlichen und zu grellen Farben, zu vielen Leuten und, das Schlimmste von allem, einem echten Mischmasch von Gerüchen – die meisten davon zu penetrant oder schlicht unangenehm – stand der Ballsaal für all das, was er versucht hatte zu meiden, so... ah, die letzten hundert Jahre oder noch mehr.

Betonung auf dem mehr.

Die meisten aus Dimitris Bekanntschaft gingen davon aus, der Grund dafür, dass er alles mied, was nicht mit seinen Forschungen und Studien zu tun hatte, war das Feuer in Wien, als Lerina gestorben war – aber da täuschten sie sich. 

Gewiss, die Ereignisse damals hatten weiter dazu beigetragen, aber seine Abneigung gegen das Leben eines Drakule ging viel tiefer als der Verlust einer Investition und ein tödlicher Unfall. Seine Unzufriedenheit damit hatte bereits vierundzwanzig Jahre zuvor mit Meg begonnen, als er ihr das Leben gerettet hatte und dafür zum Drakule wurde. 

Aber sein Entschluss, das Leben zu führen, das er jetzt führte – das strenge, zurückgezogene, ironischerweise puritanische Leben – war durch jenes andere Ereignis endgültig besiegelt worden. Jener Morgen, an dem er erwachte, um festzustellen, dass ein ganzes Jahr der Entsagung und Kasteiung ihn nicht von Luzifer erlöst hatte. Er war im Gegenteil noch fester an den Teufel gekettet als zuvor – weil er die alte Frau umgebracht hatte, deren Namen er nie erfahren hatte. Eine alte Frau, die nur versucht hatte, ihm zu helfen. 

Er hatte nicht noch einmal den gleichen Fehler gemacht. Er trank nun das Notwendigste und gestattete sich nie, jemals wieder so verzweifelt zu werden, dass er deswegen einen Menschen zerfetzte – wie Vampire es oftmals taten. 

Er nahm sich sein Blut einfach nicht mehr von lebenden Körpern und versagte sich so die Lust und die Sättigung früherer Zeiten. Es bestand weiterhin die Hoffnung, dass diese Selbstverleugnung ihn eines Tages vielleicht von einem Dämon erlösen würde, der nur aus Selbstsucht und Egoismus bestand. Und in der Zwischenzeit würde er jedes alte Manuskript lesen, das er nur in die Finger bekommen konnte, um einen anderen Weg dahin zu finden. 

Egal welchen.

Und der ständig präsente Schmerz von seinem Luziferzeichen, der ihm über die und an seiner linken Schulter entlang strömte, erinnerte ihn ständig an den Zorn, den Luzifer auf ihn hatte. Das wurzelähnliche, schwarze Brandzeichen erstreckte sich von unterhalb der Haare an der linken Seite seines Halses über die Schulter und dann seinen halben Rücken hinab. Es war das sichtbare Zeichen seiner zerrissenen, schwarzen Seele, und je zorniger Luzifer wurde, desto mehr pochte und pulsierte es, schwoll es an wie wütende schwarze Adern. 

Das Mal zwackte ihn jetzt, als Dimitri sich gegen die Wand drückte, um ein Dreier-Gefolge direkt vor ihm durchzulassen. Sie waren schon dreimal hier vorbeiflaniert, seit er hier stand, und er beäugte sie finster. Eine der drei Frauen – die in der Mitte – erwiderte kühn seinen Blick, als sie an ihm vorbeirauschten, in einer Wolke von mindestens fünf verschiedenen Blumendüften sowie Puder und Körperhitze. Dimitri hatte nur einen kalten, desinteressierten Blick für sie übrig. 

Frauen, insbesondere sterbliche Frauen, waren wirklich das Letzte, was er brauchte.

Miss Woodmore lächelte gerade Ainsworth an, als er sich an ihrem Ellbogen einhakte und eine rasche Drehung mit ihr vollführte, bevor er sich in den folgenden Tanzschritten wieder von ihr löste, um dann wieder zu ihr zu finden, Handschuh an Handschuh. Wenigstens war das Kleid, das sie trug, nicht rosa oder gelb, sondern von einem unaufdringlichen Blau mit dezenten rosa Rosen an den Schultern. Wie feuchte Seide umschmeichelte und glitt es an ihren Hüften entlang, und Dimitri fragte sich wirklich, ob Chas das Gewand gesehen und gebilligt hatte. 

Eine plötzliche Trübung in seiner Wahrnehmung und ein Druck auf seiner Brust veranlasste Dimitri, seinen Blick von den Tänzern zu lösen und sich auf ein vorbeigehendes Paar zu konzentrieren. Die Frau trug Rubinohrgehänge und eine passende Halskette, was der Auslöser für seinen kleinen Schwindelanfall war. Aber sie war weit genug entfernt und blieb auch nicht stehen, also verflog die Schwäche fast ebenso rasch. 

Ein weiterer Grund dafür, diese Geselligkeiten und Bälle und auch Almack – den Olymp des Londoner Gesellschaftslebens – sowie den königlichen Hof zu meiden. Und auch das Parlament, sooft er nur konnte. Wie er es hasste, im House of Lords, dem Oberhaus, zu sitzen, und diesen Sterblichen zuzuhören, wie sie über das Postwesen oder Münzprägungen oder andere unwichtige Dinge wie etwa eine Steuer auf Tee quasselten. Am schlimmsten war es zu der Zeit des Schlamassels mit den Kolonien gewesen, als ihnen die Stempelsteuer aufgezwungen wurde. 

Ja, man wusste nie, wann man wieder einem Rubin in die Arme lief, und da Dimitri leider das Pech gehabt hatte, diesen Edelstein zur Asthenie zu bekommen, musste er vor derlei Gefahren immer auf der Hut sein.

Neben den Gaben der Unsterblichkeit, ihrer Geschwindigkeit und ihrer außergewöhnlichen Kraft, hatte jeder der Drakule eine ganz besondere Schwäche mitbekommen, von seinem Partner in diesem dunklen Pakt: Luzifer. Weil der Rubin, der seinerzeit den Hals von Meg geziert hatte, das Erste gewesen war, was Voss nach dem Erwachen aus jenem schicksalhaften Traum vor hundertachtunddreißig Jahren sah, war seine Asthenie nun der blutrote Edelstein.

Daher waren – abgesehen von einem Holzpflock durchs Herz oder einem Schwert, das ihn enthauptete – nun Sonnenlicht und Rubine das Einzige, was ihn schwächen oder ihm schaden konnte. Trotz dieser Unannehmlichkeit war er immer noch dankbar, dass seine Asthenie nicht ein so weit verbreitetes Material wie etwa Silber war. 

Plötzlich verengten sich Dimitris Augen. Bei den verfluchten Gebeinen Satans, da war Voss, der schon wieder um Angelica Woodmore herumschnüffelte. 

Trotz seines Widerwillens diesbezüglich nahm Dimitri seine Pflichten als Vormund sehr ernst. Wie der Blitz schoss er aus seinem Alkoven hervor und bahnte sich ohne Umschweife einen Weg quer durch den Saal. Dem gewöhnlichen Betrachter erschein er völlig gelassen und überhaupt nicht in Eile, aber in Wirklichkeit bewegte er sich pfeilschnell. Er legte den Weg von der einen zur anderen Seite des Saals, durch und um und zwischen all den Menschen hindurch, in einem einzigen, kurzen Augenblick zurück. 

Es war nicht so sehr Zorn, sondern eher Verärgerung, was in Dimitri hochkochte, als er sich dem gutgekleideten, gutaussehenden Mann näherte. Voss, auch Viscount Dewhurst genannt und ebenso ein Mitglied der Drakulia, war nach etwa einem Jahrzehnt der Abwesenheit vor kurzem wieder nach London zurückgekehrt, von irgendwo aus der Neuen Welt – Boston vielleicht. Dimitri hätte es vorgezogen, er wäre noch länger fortgeblieben, aber man konnte nicht immer alles haben, was man sich wünschte, wie die letzten paar Tage nur allzu deutlich gemacht hatten. Das war bereits das zweite Mal heute Abend, dass Dimitri erlebte, wie Voss Angelica belagerte, und es behagte ihm nicht. Ganz und gar nicht.

Wenn er hätte raten müssen, hätte er vermutet, dass Voss von den Gerüchten wusste, nämlich dass die mittlere der Woodmore Schwestern die Gabe des Zweiten Gesichts hatte. Und Voss, der nicht nur ein Wüstling reinsten Wassers war, sondern auch ein Mann, der mit Kauf, Verkauf und sonst auch dem Anhäufen von Informationen handelte, war durchaus imstande, die Abwesenheit des Bruders von dieser Göre – und das, was er als Dimitris mangelndem Interesse an den drei Mädchen empfand – auszunutzen, um zu sehen, was Angelica seinem Vorrat an Informationen hinzufügen könnte. 

Als er näher kam, hörte er, wie Voss Angelica irgendetwas über einen Walzer zumurmelte. Und zur gleichen Zeit wurde ihm zu seinem großen Leidwesen bewusst, dass Miss Woodmore sich aus der anderen Richtung ebenfalls näherte. Ihr kupferhonigfarbenes Haar flog in kleinen Löckchen um ihr Gesicht, als sie sich Angelica und ihrem neuesten Bewunderer rasch näherte. 

Dimitri konzentrierte sich auf Voss und, als er unbemerkt hinter ihm stand, sagte er, „Miss Woodmore wird mit dir nirgendwohin hineilen, Voss. Ganz besonders nicht zu einem Walzer.“

Er hörte, wie dieser leise fluchte, aber – das musste man ihm lassen – er drehte sich ohne Hast um. „Beim Luzifer, Dimitri, hast du dich immer noch nicht um die verzogenen Saiten von diesem Geiger kümmern können, die ich schon erwähnte? Es ist mehr als ärgerlich. Ich bin sicher, ein Blick von dir reicht, damit alles wieder stimmt.“

„Ich weiß nicht, welches Ziel du hier genau verfolgst“, sagte Dimitri und schob sich zwischen Voss und die würzig-blumig duftende Miss Woodmore, die ihre jüngere Schwester am Arm gepackt hatte und sie nun in die andere Richtung wegzerrte, „aber ich rate dir, dich von Angelica Woodmore fernzuhalten, es sei denn, du möchtest dich in einer höchst unangenehmen Lage wiederfinden. Weder Chas noch ich werden dein Scharwenzeln um Angelica oder die andere Miss Woodmore dulden.“

Voss warf ihm einen von diesen blasiert gelangweilten Blicken zu, mit denen er bei den Damen so viel Erfolg hatte – ganz abgesehen von dem hypnotischen Zauber oder Bann, den die Drakule einsetzten, um zu bekommen, was sie wollten, wann immer sie es wollten. „Selbstverständlich. Eine jener Kreaturen, die er selber jagt, ist das Letzte, was jemand wie Chas an einer seiner Schwestern herumschnüffeln sehen will. Keine Sorge, Dimitri“, fuhr er in diesem unverbindlichen, spöttischen Ton fort, „andere Mütter haben auch schöne Töchter – und wie ich persönlich es gerne bei diesen sehe – mit bezaubernden, zarten Handgelenken oder schmalen, sanft geschwungenen Schultern zum Anbeißen. Nichts kommt dieser Art von Vergnügen gleich, oder etwa nicht? Da hineinzubeißen ... rasch und ohne Widerstand, und dann diese plötzliche Flut flüssiger Hitze, satt und voll.“ Seine Stimme war nur noch verführerisches Flüstern. 

Dann lächelte Voss auf einmal hintersinnig. „Aber ich vergaß, du hast ja überhaupt keine Erinnerung an derlei Vergnügen, wo du dir doch nur noch das Blut von Kühen aus Flaschen gestattest, die du von einem verschwiegenen Metzger deines Vertrauens bekommst.“ Er schüttelte traurig den Kopf. „Ich vermag mir nicht vorzustellen, warum nur, warum du diesen Weg der Abstinenz gewählt hast.“

„Ich bin sicher, das ist jenseits deiner Vorstellungskraft“, erwiderte Dimitri kühl. Er machte sich nicht einmal die Mühe, kurz seine Zähne warnend aufblitzen zu lassen. „Zu solcher Erkenntnis bist du einfach nicht fähig.“

„Erkenntnis?“, lachte Dimitri laut auf. „Lass es uns doch beim Namen nennen: Selbstkasteiung oder sogar Martyrium. Was für ein entsetzlich ödes Leben du führst, du gefühlskalter Bastard.“

„Wie auch immer“, sagte Dimitri, „halte dich von den Woodmore Schwestern fern. Mir ist sehr wohl bewusst, dass du alles mitnimmst, was sich bietet – und dir dein Vergnügen auch dort nimmst, wo es nicht freiwillig angeboten wird – und dann einfach alles wegwirfst, bevor du zu deinem nächsten Opfer schlenderst. Ganz zu schweigen von deiner Fahrlässigkeit und deinen dummen Spielchen.“

Hier verdunkelte sich endlich einmal das Gesicht von Voss, und in seinen Augen glomm ein gefährliches, rotes Feuer. „Was damals in Wien geschah, war ein Unfall. Das weißt du sehr wohl.“

„Das mag so sein“, erwiderte er, „aber es ist offensichtlich, dass selbst eine Tragödie wie damals nicht dazu geführt hat, dass du in den letzten hundert Jahren etwas dazugelernt hast.“ 

Ohne die Antwort des anderen abzuwarten, machte Dimitri auf dem Absatz kehrt und schritt davon. Angelica Woodmore war von ihrer energischen Schwester weggeschafft worden, und Voss würde es nicht wagen, ihm ein zweites Mal entgegenzutreten. Wenigstens heute Abend nicht. 

Wenn die Woodmore Schwestern dann sicher zu Hause waren, könnte Dimitri sich ein letztes Mal in der nächsten Zeit ungestört in die Ruhe seiner Forschungen versenken. 

Obwohl: auf dem Heimweg könnte er vielleicht durch eine der berüchtigten, dunklen Straßen von St. Giles oder am Fluss entlang laufen, wo er sicherlich von einer Diebsbande oder anderen Schurken überfallen werden würde. Ihm Stand der Sinn nach einer richtig guten Prügelei.

Er sollte die heutige Nacht ausnutzen, so viel er konnte, denn schon morgen würde es mit der Ruhe in seinem Heim vorbei sein.