WAS NUN?
Am Mittag des darauf folgenden Tages saß Lung auf einem Felsvorsprung hoch über dem Tal und fand keinen Schlaf. Aus der großen Höhle hatte ihn das Klopfen und Hämmern von Kiesbart vertrieben. Aber selbst die Sonne, deren Licht und Wärme ihn sonst so schläfrig machte, half heute nichts. Immer wieder hob Lung den Kopf von den Tatzen, blickte auf die Gipfel ringsum und seufzte.
Nach einer Weile kam Ben zu ihm. Er kletterte die Felsen hinauf und setzte sich neben den Drachen. Besorgt sah er ihn an.
»Was ist?«, fragte er. »Warum schläfst du nicht?«
»Ich kann nicht«, antwortete Lung. »Was tun die anderen?«
»Och!« Ben zuckte die Achseln. »Nichts Besonderes. Schlafen tut keiner. Schwefelfell lässt sich von Burr-burr-tschan erklären, wie man Pilze züchtet. Maja erzählt Schillerschwanz, was passiert ist, während er geschlafen hat. Kiesbart hämmert und Fliegenbein macht einen Rundflug mit Lola.«
»Wirklich?« Lung nickte. Und seufzte wieder.
»Was willst du jetzt tun?« Ben sah den Drachen neugierig an. »Willst du gleich nach Hause zurück, jetzt, wo du das Tal hier gefunden hast?«
»Wenn ich das wüsste«, antwortete Lung und blickte nachdenklich zu den weißen Gipfeln hinauf. »Ich habe viel darüber nachgedacht in den Nächten, die ich hierher geflogen bin. Was ist, wenn ich zurückfliege und die anderen mir dann gar nicht hierher folgen wollen?«
Erstaunt sah Ben ihn an. »Wieso? Ich denk, sie müssen weg? Du hast mir doch erzählt, die Menschen wollen euer Tal überschwemmen?«
Lung nickte. »Ja, ja, aber als ich aufbrach, wollten die anderen nicht glauben, dass das wirklich geschieht. Sie wollten versuchen die Menschen zu vertreiben. So, wie die Feen es tun, weißt du? Die Feen wissen, wie sie es verhindern können, dass Menschen Straßen über ihre Feenhügel bauen.«
»Wirklich?« Ben guckte Lung ungläubig an. »Wie?«
»Sie streuen Zauberstaub auf die Motoren der Maschinen«, antwortete der Drache. »Sie zwicken und zwacken, pusten Juckpulver in Helme und Nasen und rufen so viel Regen herbei, dass Menschen und Maschinen im Schlamm versinken. Feen sind klein. Für ein paar Augenblicke können sie sich sogar unsichtbar machen. Sie sind nicht zu fassen für die Menschen. Bei uns Drachen ist das schon eine andere Sache.«
»Allerdings«, murmelte Ben und blickte bewundernd an Lungs silbernen Schuppen hinauf. Er konnte sich immer noch nicht satt sehen an dem Drachen. Es gab für ihn nichts Schöneres auf der ganzen Welt.
»Was rätst du mir?«, fragte Lung und sah den Jungen an. »Soll ich einfach hier bleiben? Oder soll ich zurückfliegen, den ganzen langen Weg, zurück zu den anderen, die gar nicht hierher wollen? Die mich für einen Narren halten?« Ratlos schüttelte Lung den Kopf. »Vielleicht glauben sie mir nicht einmal, dass ich den Saum des Himmels gefunden habe.«
Ben lehnte sich an Lungs warme Schuppen und blickte hinunter auf den See.
»Ich glaub, du musst zurück«, sagte er nach einer Weile. »Ich glaub, du würdest sonst immer darüber nachdenken, was mit ihnen passiert ist. Ob die Menschen sie getötet haben. Ob sie dir doch hierher gefolgt wären. Es wird dir dauernd im Kopf rumgehen und dich ganz verrückt machen.«
Lung schwieg. Eine ganze Weile lang. Dann nickte er langsam. »Du hast Recht, Drachenreiter«, sagte er und gab Ben einen zärtlichen Schubs mit der Nase. »Ja, du hast Recht. Ich muss zurück, so gut es mir hier auch gefällt. Am besten breche ich schon heute Nacht wieder auf.«
Er stand auf, schüttelte sich und blickte sich noch einmal um. »Ich sage Schwefelfell und den anderen Bescheid. Was ist mit dir? Willst du uns wieder begleiten oder soll ich dich zum Kloster bringen? Zu den Wiesengrunds.«
Jetzt war es Ben, der keine Antwort wusste. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Was würdest du tun?«
Lung sah ihn an. »Ich bringe dich zu den Wiesengrunds«, sagte er. »Du brauchst Menschen. So wie ich die anderen Drachen brauche, so wie Schwefelfell nicht glücklich ist ohne andere Kobolde, auch wenn sie sich am liebsten mit ihnen streitet. Ohne Menschen wirst du irgendwann sehr einsam sein.«
»Ohne euch aber auch«, murmelte Ben ohne den Drachen anzusehen.
»Nein, nein!« Lung rieb seinen Kopf ganz sacht an dem des Jungen. »Glaub mir, wir werden uns wieder sehen. Ich besuche dich. Sooft es dein kurzes Menschenleben erlaubt.«
»O ja, bitte«, antwortete Ben. »Besuch mich oft.« Und dann legte er seine Arme um den Hals des Drachen und drückte ihn so fest, als wollte er ihn nie wieder loslassen.