12   DER SPION 

 

Fliegenbein blickte beunruhigt zurück, als der Rabe sich von den zerfallenen Burgmauern in den Himmel schwang. Bisher hatte der Homunkulus die Burg nur verlassen, wenn die Jagdlust Nesselbrand in die Täler trieb, wo er Kühe und Schafe verschlang. Nesselbrand reiste auf unterirdischen Wegen. Er schwamm durch Flüsse tief unter der Erde, und wenn er doch einmal die Erdoberfläche betrat, dann in der Nacht, in der schützenden Dunkelheit. Jetzt hing die Sonne grell und heiß am Himmel. Und Fliegenbein hatte nichts als einen Raben zur Gesellschaft.

»Ist es noch weit?«, fragte er und versuchte nicht nach unten zu sehen.

»Es ist der Berg da drüben!«, krächzte der Rabe zurück. »Der mit der abgebrochenen Spitze.« Wie ein Pfeil flog er darauf zu.

»Musst du so schnell fliegen?« Fliegenbein krallte seine dünnen Finger in die Rabenfedern. »Es reißt mir ja fast die Ohren vom Kopf.«

»Ich dachte, wir hätten es eilig«, antwortete der Rabe ohne langsamer zu werden. »Du wiegst kaum halb so viel wie dieser Zwerg, obwohl du nicht viel kleiner bist als er. Aus was bestehst du? Aus Luft?«

»Gut geraten.« Fliegenbein rutschte unbehaglich hin und her. »Aus Luft und ein paar anderen feinen Zutaten. Aber das Rezept ist verloren gegangen.« Angestrengt blickte er nach vorn. »Da! Da im Gras schimmert etwas!«, rief er plötzlich. »Heiliger Salamander!« Er riss die Augen auf. »Der dumme Zwerg hat wirklich Recht. Es ist ein Drache.«

Der Rabe kreiste über der Stelle, an der Lung zusammengerollt zwischen den Felsen schlief. Ben und Schwefelfell hockten ein paar Meter weiter über der Karte. Drei Steinzwerge standen neben ihnen.

»Lass uns da auf dem Vorsprung landen!«, raunte Fliegenbein dem Raben zu. »Genau über ihren Köpfen. So können wir sie am besten belauschen.«

Als der Rabe auf dem Felsvorsprung landete, sah Schwefelfell misstrauisch nach oben.

»Verschwinde!«, zischte Fliegenbein dem Vogel zu. »Versteck dich in der Tanne da, bis ich dir winke. Mich sieht sie nicht, aber du scheinst sie zu beunruhigen.«

Der Rabe erhob sich wieder in die Luft und verschwand zwischen den dunklen Tannenzweigen. Vorsichtig schob sich Fliegenbein bis an den Rand des Vorsprungs.

»Ja, ja, ich geb es zu!«, sagte das Koboldmädchen gerade. »Wir sind ein bisschen vom Weg abgekommen. Aber das macht nichts. Heute Nacht erreichen wir trotzdem das Meer.«

»Fragt sich bloß, welches, Schwefelfell«, sagte der Mensch.

Es war noch ein kleiner Mensch, ein Junge.

»Weißt du was, junger Herr Siebenschlau?«, fauchte das Koboldmädchen. »Du lotst uns heute Nacht. Dann muss ich mir wenigstens nicht dein Genörgel anhören, wenn wir uns wieder verfliegen.«

»Wo wollt ihr denn eigentlich hin?«, fragte einer der Zwerge. Fliegenbein spitzte die Ohren.

»Wir suchen den Saum des Himmels«, antwortete Ben.

Schwefelfell gab ihm einen solchen Schubs, dass er fast umfiel. »Wer hat dir gesagt, dass du das jedem Zwerg auf die Nase binden sollst, hm?«

Der Junge kniff die Lippen zusammen.

Fliegenbein rutschte noch etwas weiter vor. Der Saum des Himmels. Was sollte das denn sein?

»Er wacht auf!«, rief plötzlich einer der Zwerge. »Seht doch, er wacht auf.«

Fliegenbein drehte den Kopf - und da stand er. Der silberne Drache.

Viel kleiner als Nesselbrand war er. Und seine Augen waren nicht rot, sondern golden. Der Drache reckte seine schönen Glieder, gähnte und blickte dann erstaunt auf die drei kleinen Kerle, die sich hinter dem Menschenjungen versteckten.

»Oh, Zwerge!«, sagte er mit einer Stimme, die rau wie eine Katzenzunge war. »Steinzwerge.«

Der Junge lachte. »Ja, sie wollen dich unbedingt kennen lernen«, sagte er und zog die Zwerge hinter seinem Rücken hervor. »Das hier ist Gipsbart, das ist Mandelstein, das Bleiglanz und«, verdutzt sah er sich um. »Wo ist denn der Vierte von euch? Ich weiß seinen Namen gar nicht.«

»Kiesbart!«, sagte Gipsbart und blickte ehrfürchtig zu dem Drachen hoch. »Keine Ahnung, wo er ist. Kiesbart ist ein bisschen sonderlich.«

Fliegenbein oben auf seinem Felsvorsprung konnte sich das Kichern kaum verbeißen. »Kiesbart ist ein Dummkopf«, wisperte er. »Und im Moment ist er Nesselbrands Panzerputzer.« Ein Steinchen löste sich, als der Homunkulus sich noch ein bisschen über den Rand des Felsens vorschob. Das dumme Ding fiel dem Koboldmädchen direkt auf den Kopf. Misstrauisch blickte sie nach oben, aber Fliegenbein zog schnell die Nase zurück.

»Diese Zwerge denken, du kannst Schätze riechen, Lung«, sagte der Menschenjunge. »Sie möchten, dass du ihren Berg beschnupperst.«

»Schätze?« Der Drache schüttelte den Kopf. »Was für Schätze? Ihr meint Gold und Silber?«

Die Zwerge nickten. Gespannt sahen sie den Drachen an. Lung ging auf die Flanke des Berges zu und hielt die Nase schnuppernd an den Felsen. Die Steinzwerge drängten sich aufgeregt um seine Beine.

»Es riecht gut«, sagte der Drache. »Anders als die Berge, aus denen ich komme, aber gut. Ja, wirklich. Doch ich kann euch beim besten Willen nicht sagen, wonach.« Enttäuscht sahen die Zwerge sich an.

»Gibt es noch mehr Drachen, da, wo du herkommst?«, fragte Mandelstein neugierig.

»Das würde mich auch interessieren«, flüsterte Fliegenbein auf seinem Ausguck.

»Aber ja«, antwortete der Drache. »Und dort, wo ich hinwill, hoffentlich auch.«

»Schluss jetzt!«, rief das Koboldmädchen. Gerade als es spannend wurde. Fliegenbein hätte ihr am liebsten auf den Kopf gespuckt. Sie sprang zwischen die Zwerge und den Drachen und scheuchte die kleinen Kerle zurück. »Ihr habt gehört, was Lung gesagt hat. Er weiß nicht, ob in dem Berg Schätze stecken. Also nehmt eure Hämmer und Hacken und findet es selber raus. Lung muss sich jetzt wieder ausruhen. Wir haben noch eine weite Reise vor uns.« Das war's.

Schwefelfell sorgte auch in den nächsten Stunden dafür, dass Fliegenbein nichts Interessantes mehr erfuhr. Die Zwerge erzählten dem Drachen von den guten alten Zeiten, als ihre Großeltern noch auf Drachen geritten waren. Lung flog mit ihnen eine Runde um die Tannenspitzen und dann hielt Gipsbart dem Drachen einen endlos langen Vortrag über Quarz und Silbererz. Es war nicht zum Aushalten. Vor lauter Gähnen wäre Fliegenbein fast von seinem Ausguck gefallen.

 

Als die Sonne schon tief über den Bergen hing, verließ er sein Versteck, gab dem Raben ein Zeichen, ihm zu folgen, und kletterte mühsam die Felsen hinauf zu der Quelle, die Kiesbart ihm beschrieben hatte. Sie war leicht zu finden. Sprudelnd drang das Wasser aus einer Felsspalte und sammelte sich in einem Becken. Drum herum hatten die Zwerge schimmernde Halbedelsteine gelegt. Der Rabe ließ sich krächzend darauf nieder und pickte mit dem Schnabel nach den Käfern, die zwischen den Steinen saßen. Fliegenbein aber kletterte auf den größten Stein - und spuckte in das klare Wasser.

Die glatte Oberfläche kräuselte sich. Das Wasser wurde dunkel und in dem Becken erschien Nesselbrands Bild. Kiesbart stand auf seinem Rücken und staubte die Rückenstacheln mit einem großen Pinsel ab.

»Na endlich!«, knurrte Nesselbrand Fliegenbein an. »Wo warst du so lange? Ich hätte vor Ungeduld fast diesen Zwerg gefressen.«

»Oh, das solltet Ihr nicht tun, Meister«, antwortete Fliegenbein. »Er hatte Recht. Hier ist ein Drache gelandet. Silbern wie das Mondlicht und viel kleiner als Ihr, aber eindeutig ein Drache.«

Ungläubig starrte Nesselbrand den Homunkulus an.

»Ein Drache!«, raunte er. »Ein Silberdrache. Die ganze Welt habe ich nach ihnen absuchen lassen, bis in den letzten verdreckten Winkel. Und jetzt landet einer fast vor meiner Tür.« Er leckte sich die Zähne und lächelte.

»Seht Ihr?«, rief Kiesbart von seinem Rücken herunter. Vor Aufregung ließ er den Pinsel fallen. »Ich habe ihn für Euch gefunden, ich! Gebt Ihr mir nun die Schuppe? Gebt Ihr mir vielleicht sogar zwei?«

»Halt den Mund!«, fuhr Nesselbrand ihn an. »Oder ich zeige dir gleich das Gold zwischen meinen Zähnen! Putz weiter!« Erschrocken rutschte Kiesbart von seinem Rücken und holte sich den Pinsel wieder. Nesselbrand wandte sich wieder seinem alten Panzerputzer zu. »Erzähl, was hast du über ihn erfahren? Gibt es da, wo er herkommt, noch andere von seiner Sorte?«

»Ja«, antwortete Fliegenbein.

Nesselbrands Augen begannen zu leuchten. »Aaah!«, seufzte er. »Endlich! Endlich kann die Jagd wieder beginnen.« Er fletschte die Zähne. »Wo finde ich sie?«

Fliegenbein rieb sich die spitze Nase und blickte nervös auf das Spiegelbild seines Meisters. »Also, das«, er zog den Kopf zwischen die Schultern, »das weiß ich nicht, Meister.«

»Das weißt du nicht?« Nesselbrand brüllte so laut, dass Kiesbart kopfüber von seinem Rücken plumpste. »Das weißt du nicht? Was hast du denn die ganze Zeit getrieben, du nichtsnutziges Spinnenbein?«

»Ich kann nichts dafür! Dieses Koboldmädchen ist schuld!«, rief Fliegenbein. »Es passt auf, dass der Drache über seine Herkunft nichts erzählt. Aber ich weiß, wonach er auf der Suche ist, Meister!« Eifrig beugte er sich über das dunkle Wasser. »Er sucht den Saum des Himmels.« Nesselbrand richtete sich auf.

Regungslos stand er da. Mit seinen roten Augen blickte er in Fliegenbeins Richtung, aber er sah durch ihn hindurch. Kiesbart beulte seinen Hut aus und kletterte schimpfend den gezackten Schwanz hoch.

Der Homunkulus räusperte sich. »Kennt Ihr diesen Ort, Meister?«, fragte er leise.

Nesselbrand blickte immer noch durch ihn hindurch.

»Keiner kennt ihn«, knurrte er schließlich. »Außer denen, die sich dort verstecken. Seitdem sie mir entkommen sind, vor mehr als hundert Jahren, verkriechen sie sich dort. Ich habe diesen Ort gesucht, bis meine Pranken blutig waren. Ich war ihm manchmal so nah, dass ich glaubte, sie riechen zu können. Aber ich habe diese Drachen nie gefunden und die große Jagd war zu Ende.«

»Aber Ihr könnt doch diesen jagen!«, rief Kiesbart von seinem Rücken. »Den, der so dumm war, genau vor Eurer Nase zu landen.«

»Pah!« Verächtlich schlug Nesselbrand mit der Pranke nach einer vorbeihuschenden Ratte. »Und dann? Das wäre ein kurzer Spaß. Außerdem würde ich nie erfahren, wo er hergekommen ist. Ich würde nie erfahren, wo die anderen sind. Nein, ich habe eine bessere Idee, eine viel bessere. Fliegenbein!«

Erschrocken zuckte der Homunkulus zusammen. »Ja, Meister?«

»Du folgst ihm«, grunzte Nesselbrand. »Du folgst ihm, bis er uns zu den anderen führt - zu denen, die er sucht, oder zu denen, die er zurückgelassen hat.«

»Ich?« Fliegenbein schlug sich auf die schmale Brust. »Aber wieso denn ich, Meister? Kommt Ihr nicht mit?«

Nesselbrand fauchte. »Ich habe keine Lust, mir wieder meine Pranken wund zu laufen. Du berichtest mir jeden Abend, jeden Abend, hörst du? Und wenn er den Saum des Himmels gefunden hat, dann komme ich zu dir.«

»Aber wie denn, Meister?«, fragte Fliegenbein.

»Ich kann mehr, als du ahnst. Verschwinde jetzt. Mach dich an die Arbeit.« Nesselbrands Bild begann zu verschwimmen.

»Halt! Halt, Meister!«, rief der Homunkulus. Aber das Wasser in dem Becken wurde heller und heller, bis Fliegenbein nur seinem eigenen Spiegelbild in die Augen sah.

»O nein!«, flüsterte er. »O nein, o nein, o nein.« Dann drehte er sich mit einem tiefen Seufzer um und suchte den Raben.