49   ERWISCHT 

 

 

»Sie haben uns vergessen!«, jammerte Fliegenbein und ging unruhig auf und ab. »Wie undankbar.«

»Ach was!«, sagte die Ratte und rührte in dem Topf, der auf ihrem winzigen Campingkocher stand.

Die Sonne zog langsam den wolkigen Himmel hinauf und zwischen den Bergen hing dichter Nebel. Die weißen Schwaden verbargen alles, die Blumen, den See - und Nesselbrand. Falls er noch da war. Lola kostete das Gebräu, das in ihrem Topf blubberte, leckte sich die Schnauze und rührte weiter. »Setz dich endlich hin, Humpelkuss! Ich sag es dir zum hundertsten Mal - sie werden kommen. Spätestens, wenn es dunkel wird. Ich weiß wirklich nicht, warum du so herumjammerst. Wir haben doch alles, was wir brauchen - was zu essen, was Warmes zu trinken. Sogar Schlafsäcke habe ich. Zwei praktischerweise.«

»Aber ich mache mir Sorgen«, jammerte Fliegenbein. »Wer weiß, wie diese anderen Drachen sind? Vielleicht sind sie so wie in den alten Märchen. Vielleicht fressen sie besonders gern Menschenjungen!«

Die Ratte kicherte. »Also, wirklich. Glaub mir, der Junge kann gut auf sich aufpassen. Und wenn er es nicht tut, dann ist immer noch Lung da. Von diesen pelzköpfigen Kobolden ganz zu schweigen.«

Fliegenbein seufzte und blickte wieder hinunter in den Nebel.

»Sind alle Hummelkusse so wie du?«, fragte Lola.

»Wie?«, murmelte Fliegenbein ohne sich umzudrehen.

»Na, so schwarzseherisch.« Lola schöpfte einen Löffel Suppe aus dem Topf und schlürfte ihn vorsichtig leer. »Pfui Teufel«, murmelte sie. »Schon wieder versalzen.«

Plötzlich hob sie die spitze Schnauze und schnüffelte. Ihre Ohren zuckten.

Fliegenbein guckte sie erschrocken an.

»Willst du auch was essen?«, fragte Lola mit seltsam lauter Stimme. Dabei zeigte sie unauffällig mit der Pfote hinter sich. Ihr Flugzeug stand da, gesichert mit ein paar dicken Steinen. Hinter den Rädern bewegte sich etwas.

Fliegenbein hielt die Luft an. »Essen?«, stammelte er. »Äh, ja, gern.« Und machte unauffällig einen Schritt auf das Flugzeug zu.

»Gut, ich hol uns Schüsseln«, verkündete die Ratte und stand auf.

Dann plötzlich, mit einem Satz, war sie zwischen die Räder gesprungen und zog an einem dicken Bein. Fliegenbein kam ihr zu Hilfe und gemeinsam zerrten sie einen zappelnden Zwerg unter dem Flugzeug hervor.

»Kiesbart!«, rief Fliegenbein erschrocken. »Es ist schon wieder dieser Steinzwerg!«

Kiesbart beachtete ihn nicht. Er biss und trat, boxte um sich und schubste Lola fast den Berg hinunter. Steinzwerge sind stark, viel stärker als eine Ratte oder ein bleichnasiger Homunkulus. Aber gerade als Kiesbart sich mit einem heftigen Ruck aus Lolas Klammergriff befreit hatte, schlug Fliegenbein ihm den Hut vom Kopf.

Sofort war der Zwerg still. Er kniff die Augen zusammen, taumelte vorm Abgrund zurück und setzte sich ächzend auf den Hosenboden. Fliegenbein schnappte den Hut noch gerade, bevor er den Berg runterrollte, und setzte ihn sich auf den Kopf. Das Ding rutschte ihm fast bis auf die Nase, aber er fühlte sich nicht schlecht darunter. Nein, im Gegenteil. Er trat an den Abgrund heran, bis seine Schuhspitzen ins Leere ragten - und es machte ihm nicht das Geringste aus.

»Erstaunlich«, murmelte er, drehte sich um und schob den Hut so weit zurück, dass er unter der Krempe hervorsehen konnte. Die Berge sahen plötzlich ganz anders aus. Sie glitzerten und schimmerten in tausend Farben. Staunend blickte Fliegenbein sich um.

»He, Hummelkuss, hilf mir mal, ja?« Lola zog eine lange Schnur aus ihrem Overall. »Wir müssen den Zwerg fesseln, oder willst du, dass er zu seinem Meister zurückläuft? Wirklich gut, dass dir das mit dem Hut eingefallen ist. Hatte ich längst wieder vergessen.«

»Grüß dich, Kiesbart«, sagte Fliegenbein und setzte sich auf den Bauch des Zwergs, während Lola ihren Gefangenen verschnürte. »Du bist wirklich ein fleißiger Spion. Viel fleißiger, als ich es dreihundert Jahre lang war.«

»Verräter!«, knurrte der Zwerg und spuckte Fliegenbein gegen die Brust. »Gib mir meinen Hut zurück.«

Fliegenbein zuckte nur die Schultern. »Nein, wieso sollte ich?« Er beugte sich über den Zwerg. »Ich weiß genau, warum du meinem alten Meister so eifrig dienst. Weil das Gold seiner Schuppen dich blendet. Nur - wie willst du an sie herankommen, ohne dass er dich frisst? Willst du sie ihm im Schlaf ausrupfen? Das würde ich dir nicht raten. Du weißt doch, wie sehr er an jeder einzelnen hängt. Hast du vergessen, dass er den Professor fressen wollte wegen einer einzigen? Was meinst du?« Er schob seinen Kopf noch etwas näher an den Zwerg heran. »Hat er Angst davor, dass jemand erfährt, woraus sein Panzer besteht? Oder fürchtet er noch mehr, dass jemand herausfindet, was in dem Kasten ist, den er sein Herz nennt?«

Kiesbart kniff wütend die Lippen zusammen und blickte ins Feuer.

»Was machen wir mit ihm?«, fragte Lola. »Irgendwelche klugen Vorschläge, Humpklusspuss?«

»Wir nehmen ihn mit, was sonst«, sagte jemand hinter ihnen.

Erschrocken fuhren Lola und Fliegenbein herum. Aber es war nur Schwefelfell, die plötzlich vor den Felsen stand. Über ihre Schulter grinste Burr-burr-tschan.

»Wo kommt ihr denn her?«, fragte Fliegenbein verblüfft. »Habt ihr die Höhle der Drachen gefunden?«

»Haben wir«, antwortete Schwefelfell. »Und ihr habt den kleinen Spion gefangen, wie ich sehe. Nicht schlecht. Stellt euch vor«, sie biss in einen verschrumpelten Pilz, den sie in der Pfote hielt. »Wir haben auf dem Weg zu euch ein paar alte Pilzzuchten entdeckt, aus der Zeit, als die Dubidai noch hier gelebt haben. Der Berg ist ganz durchlöchert von ihren Gängen.« Sie leckte sich die Lippen und musterte Fliegenbein spöttisch. »Hast du einen neuen Hut, Winzling?«

Der Homunkulus tippte gegen die Krempe. »Es ist ein ganz erstaunlicher Hut«, sagte er.

»Erstaunlich war auch, wie ihr Nesselbrand an der Nase rumgeführt habt«, sagte Burr-burr-tschan. »Rübling und Butterpilz, das war nicht übel. Und jetzt habt ihr auch noch seinen Spion gefangen !«

Lola strich sich geschmeichelt über die Ohren. »Kleinigkeit«, sagte sie.

»Gut, die Kleinigkeit werd ich tragen. Nehmt ihr den Rest«, sagte Burr-burr-tschan und blickte noch einmal ins Tal hinunter. Der Nebel lichtete sich langsam. Schwarze Vögel kreisten zwischen den weißen Schwaden. Unzählige schwarze Vögel. Ganze Wolken von ihnen tauchten auf und verschwanden wieder im Nebel.

»Seltsam«, murmelte der Kobold. »Solche schwarzen Vögel hab ich noch nie gesehn. Wo kommen die plötzlich her?«

Wie der Blitz waren Schwefelfell und Fliegenbein neben ihm.

»Die Raben!«, knurrte Schwefelfell. »Hab schon drauf gewartet, dass die wieder auftauchen.«

»Er hat sie alle herbeigerufen!«, stöhnte Fliegenbein und versteckte sich hinter ihrem Bein. »Oh, oh! Jetzt sind wir verloren. Sie werden uns sehen! Sie werden uns von den Felsen pflücken!«

»Was redest du denn da?« Die Ratte trat neben ihn - und stieß einen so schrillen Pfiff aus, dass Fliegenbein zusammenzuckte. »Tatsächlich! Jede Menge Raben. Mein Onkel hat mir von ein paar unangenehmen Exemplaren erzählt. Sind das da unten dieselben?«

Fliegenbein nickte. »Zauberraben. Und diesmal sind es so viele, dass Schwefelfell sie nicht mit ein paar Steinchen vertreiben kann.«

»Machen wir, dass wir wegkommen«, sagte Schwefelfell und zog Burr-burr-tschan vom Abgrund weg. »Bevor sie uns entdecken.«

»Nesselbrand, der Goldene, wird euch alle fressen!«, kreischte Kiesbart und versuchte in Burr-burr-tschans pelzigen Fuß zu beißen. Aber der Kobold kicherte nur.

»Da muss er erst mal seinen Panzer hier raufschleppen«, sagte er und warf sich den Zwerg wie einen Sack über die Schulter.

»Und wo der verborgene Eingang ist, weiß dein schlauer Herr auch noch nicht«, sagte Schwefelfell.

»Er wird es rausfinden!«, brüllte der Steinzwerg und trat um sich. »Er zerquetscht euch alle wie Kakerlaken. Er ...«

Burr-burr-tschan stopfte ihm seinen Bart in den Mund. Dann verschwand er mit dem Gefangenen in dem Gang, durch den er gekommen war.

»Komm, Winzling!«, sagte Schwefelfell und nahm Fliegenbein auf den Arm. »Sonst holen dich wirklich noch die Raben.«

Lola trat das Feuer aus, drückte Schwefelfell den winzigen Topf mit Suppe in die Hand und packte den Rest ihrer Sachen ins Flugzeug.

»Du kannst auch mit mir fliegen, Hummelkuss!«, rief sie, kletterte ins Cockpit und ließ den Motor an.

»Nein, danke«, antwortete Fliegenbein und klammerte sich an Schwefelfells Arm. »Ein Flug mit dir reicht mir, glaube ich, fürs ganze Leben.«

»Wie du willst!« Die Ratte klappte das Cockpit zu und flog schnurrend über ihre Köpfe in den Gang hinein.

Schwefelfell warf noch einen letzten besorgten Blick auf die kreisenden Raben. Dann lief auch sie in den Gang hinein, schob von innen den Stein vor das Tor und nichts war mehr zu sehen vom Gang der Dubidai.