DIE
SCHLUCHT DES DSCHINNS
Ben wurde wach, als Lung landete. Erschrocken sah er sich um. Der Himmel war hell. Milchiger Morgendunst lag über den Bergen. Die Straße brach hinter einer scharfen Kurve ab und vor ihnen fielen die Felsen so steil in die Tiefe, als wäre die Welt entzweigebrochen. Keine Brücke führte auf die andere Seite der Schlucht.
Das muss sie sein, dachte Ben. Die Schlucht des blauen Dschinns. Lung stand am Abgrund und blickte hinunter. Ein Rauschen drang aus der Tiefe herauf.
Ben drehte sich um. Schwefelfell schnarchte immer noch friedlich vor sich hin. Vorsichtig nahm Ben den schlafenden Fliegenbein auf den Arm und kletterte mit ihm von Lungs Rücken.
»Hast du deinen Elfenrausch ausgeschlafen?«, fragte der Drache, als Ben neben ihm stand, und stieß ihn spöttisch mit der Schnauze an. »Sieh dir das an. Ich glaube, wir haben den Wohnsitz des Dschinns gefunden.« Ben blickte vorsichtig hinunter in die Schlucht. Sie war nicht sehr breit, kaum doppelt so breit wie die Straße, der sie gefolgt waren. Erst senkten sich die Felsen kahl in die Tiefe, aber schon wenige Meter weiter unten wucherte dichtes Gestrüpp. Blüten verdeckten den Stein und vom Grund der Schlucht reckten sich riesige Palmen dem Licht entgegen. Es war dunkel dort unten. Das Rauschen drang jetzt ganz deutlich an Bens Ohren. Es musste von dem Fluss kommen, von dem der Professor ihnen berichtet hatte. Aber Ben hörte noch andere Geräusche. Tierstimmen klangen herauf, heisere Schreie fremder Vögel.
»He, warum habt ihr mich nicht geweckt?«, rief Schwefelfell ärgerlich von Lungs Rücken herab.
Fliegenbein, der immer noch auf Bens Arm schlief, schreckte auf und sah sich verdutzt um.
»Du kannst gleich oben bleiben, Schwefelfell«, sagte Lung und streckte den Hals hinunter in die Schlucht. »Wir fliegen hinunter. Aber es wird nicht leicht sein, in dem Dickicht zu landen.«
Wie ein Schatten glitt der Drache in die Tiefe. Palmenblätter wischten Ben übers Gesicht, als Lung durch das grüne Dach der Bäume brach. Der Drache schlug ein paar Mal kräftig mit den Flügeln und landete sacht am Ufer eines Flusses, der träge dahinfloss. Sonnenstrahlen fielen aufs Wasser. Ben sah nach oben. Der Himmel schien unendlich weit entfernt. Um sie herum zischte und zirpte, grunzte und krächzte es zwischen tausend Blättern. Die Luft war schwül und feucht und über dem Fluss schwirrten Schwärme von Mücken.
»Horngrauer Rübling!« Schwefelfell stieg von Lungs Rücken und versank bis zur Brust in Schlingpflanzen. »Wie sollen wir denn in diesem Urwald irgendwas finden?« Unbehaglich blickte sie sich um.
»Indem wir anfangen zu suchen«, antwortete Lung und bahnte sich einen Weg durch das Dickicht.
»He, he, warte mal!« Schwefelfell klammerte sich an seinem Schwanz fest. »Du hast gut reden! Du versinkst nicht bis ans Kinn in diesen Blättern. Hm!« Sie biss probeweise in eins hinein. »Die schmecken köstlich. Absolut köstlich.«
»Willst du auf meinen Rücken steigen?«, fragte Lung und drehte sich zu ihr um.
»Nein, nein!« Schwefelfell winkte ab. »Ist schon gut. Werd ich mich eben durchschlagen. Hm. Wirklich.« Sie rupfte ein Blatt nach dem anderen ab und stopfte es in ihren Rucksack. »Diese Blätter sind zu köstlich.«
Ben setzte sich Fliegenbein auf die Schulter und grinste.
»Schwefelfell«, sagte Lung und sein Schwanz peitschte ungeduldig hin und her. »Komm jetzt endlich. Deinen Proviant kannst du suchen, wenn wir den Dschinn gefunden haben.« Er drehte sich um. Ben folgte ihm. Schon bald waren die zwei zwischen den Bäumen verschwunden.
»So eine Gemeinheit!«, schimpfte Schwefelfell, während sie hinterherstapfte. »Als ob dieser Dschinn nicht noch fünf Minuten warten kann. Ich leb nun mal nicht nur vom Mondlicht. Will er, dass ich irgendwann verhungert von seinem Rücken falle?«
Lung bahnte sich seinen Weg am Fluss entlang. Je weiter sie kamen, desto enger wurde die Schlucht. Schließlich versperrte eine riesige umgestürzte Palme dem Drachen den Weg. Ihre Wurzeln ragten struppig in die Luft. Der lange Stamm aber ruhte auf ein paar großen Felsbrocken im Fluss, so dass er wie eine Brücke über dem Wasser lag.
»Warte mal!« Ben setzte Fliegenbein auf Lungs Schwanz, kletterte auf den Stamm der umgestürzten Palme und lief ein Stück darauf entlang.
»Seht mal!«, rief er und zeigte hinüber ans andere Ufer. »Da, zwischen den roten Blumen.«
Lung machte einen Schritt ins Wasser und reckte den Hals. Ja, da stand es. Ein großes graues Auto, überwuchert von Schlingpflanzen, bedeckt mit herabgefallenen Blüten und Eidechsen, die sich auf der Haube sonnten.
Ben balancierte über den Palmenstamm und sprang ans andere Ufer. Der Drache watete mit Schwefelfell und Fliegenbein durch das flache Wasser und blieb dann abwartend am Ufer stehen. Ben schob die Schlingpflanzen zur Seite und lugte vorsichtig in das Innere des Autos. Eine große Eidechse saß auf dem Vordersitz und fauchte ihn an, als er durchs Seitenfenster guckte. Erschrocken fuhr Ben zurück. Die Eidechse verschwand mit einem Satz zwischen den Sitzen.
»Es sind keine Scheiben drin«, rief Ben leise. »Genau, wie der Professor gesagt hat.«
Vorsichtig steckte er noch einmal den Kopf durch das Autofenster. Von der Eidechse war nichts mehr zu sehen, aber auf dem Rücksitz ringelten sich zwei Schlangen. Ben kniff die Lippen zusammen, streckte die Hand durchs Fenster - und drückte auf die Hupe. Dann sprang er schnell zurück.
Schwärme von Vögeln flogen kreischend auf. Die Eidechsen huschten von dem heißen Autoblech und verschwanden unter den Schlingpflanzen. Wieder war alles still.
Ben trat vorsichtig zurück. Siebzehn Schritte entfernt von dem Wagen sollten sie warten, hatte der Professor gesagt. Ben zählte seine Schritte. Eins ... zwei ... drei ... vier ... Siebzehn Schritte waren viel. Er machte sie extra nicht allzu groß. Nach dem siebzehnten setzte er sich auf einen Stein und wartete. Lung legte sich hinter ihm zwischen Blüten und Blätter. Schwefelfell und Fliegenbein setzten sich auf seine Tatzen. Gebannt blickten sie alle auf das Auto.
Asif ließ nicht lange auf sich warten.
Bläulicher Rauch stieg aus den Autofenstern, stieg höher und höher, bis Ben den Kopf in den Nacken legen musste, um die Rauchsäule hinaufzusehen. Zwischen den Wipfeln der Palmen ballten die Rauchfahnen sich zusammen, wirbelten schneller und schneller umeinander, bis sich aus der riesigen Säule ein Körper formte, blau wie der Nachthimmel und so groß, dass sein Schatten die ganze Schlucht verdunkelte. Auf seiner Haut, auf Schultern, Armen und dem dicken Bauch funkelten Asifs tausend Augen, klein und glänzend wie Edelsteine.
Ben wich zurück, bis er Lungs Schuppen hinter sich spürte. Schwefelfell und Fliegenbein kauerten sich auf dem Rücken des Drachen zusammen. Nur Lung regte sich nicht und blickte mit erhobenem Kopf zu dem Dschinn hinauf.
»Aaaahhh! Sieh aaaaaaaan!« Der Dschinn beugte sich über sie. Tausend Augen, tausend Bilder leuchteten über ihren Köpfen und Asifs Atem fuhr wie heißer Wüstenwind von einem Ende der Schlucht zum anderen.
»Was haaaaben wir denn daaaaaaa?«, dröhnte der Dschinn. »Einen Drachen, einen echten Drachen. Sooooooo!« Seine Stimme klang hohl wie ein Echo und schallte von einer Felswand der Schlucht zur anderen. »Wegen diiiiiiiiiir hat mir die Haut so sehr gejuckt, dass tauuusend Diener sie mir kratzen mussten.«
»Das war nicht meine Absicht, Dschinn!«, rief Lung zu ihm hinauf. »Wir sind gekommen um dir eine Frage zu stellen.«
»Oooooooooooooh!« Der Dschinn verzog den Mund zu einem Lächeln. »Ich beantworte nuuur Menschen ihre Fragen.«
»Das wissen wir!« Ben sprang auf, strich sich das Haar aus der Stirn und blickte zu dem riesigen Dschinn empor. »Ich stelle dir die Frage, Asif!«
»Oooooh!«, hauchte der Dschinn. »Das Käferlein weiiiß Unseren Namen. Was ist das für eine Fraaaage? Duuu kennst meine Bedingungen?«
»Ja!«, antwortete Ben.
»Guuuut!« Der Dschinn beugte sich noch etwas tiefer herab. Sein Atem war so heiß wie der Dampf aus einem Kochtopf. Ben tropfte der Schweiß von der Nasenspitze.
»Fraaaage!«, hauchte Asif. »Ich könnte guuuuut noch einen Diiiiiener gebrauchen! Einen, der meine Ohren putzt, zum Beispiel. Duuuuuuu hättest genau die richtige Größe.« Ben schluckte. Asifs Gesicht war jetzt genau über seinem Kopf. In seinen Nasenlöchern wuchsen blaue Haare, dick wie junge Baumstämme, und seine spitzen Ohren, die hoch über den kahlen Schädel ragten, waren größer als Lungs Flügel. Zwei riesige Augen, grün wie die einer Riesenkatze, sahen spöttisch auf Ben herab. Er entdeckte sein eigenes Spiegelbild in ihnen, winzig und verloren. In Asifs anderen Augen fiel Schnee auf fremde Städte und Schiffe versanken im Meer.
Ben wischte sich Schweißtropfen von der Nasenspitze und sagte mit lauter Stimme: »Wo finden wir den Saum des Himmels?« Schwefelfell kniff die Augen zu. Lung hielt die Luft an und Fliegenbein begann am ganzen Leib zu schlottern. Ben aber wartete mit wild klopfendem Herzen auf die Antwort des Dschinns. »Der Sauuuum des Himmelsl«, wiederholte Asif. Er streckte sich noch ein paar Meter in den Himmel. Dann lachte er so laut, dass sich Steine von den Wänden der Schlucht lösten und in die Tiefe polterten. Sein dicker Bauch schwabbelte über Bens Kopf, als würde er jeden Moment herunterfallen. »Menschlein, Menschlein!«, dröhnte der Dschinn und beugte sich wieder über den Jungen.
Lung stellte sich schützend vor Ben, aber Asif schob den Drachen sanft mit seiner Riesenhand zur Seite.
»Der Sauum des Himmelsl«, wiederholte er noch mal. »Das fragst du nicht für dich, nicht waaaahr?«
Ben schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Meine Freunde müssen es wissen. Warum?«
»Warum?« Der Dschinn stieß ihm den gewaltigen Zeigefinger vor die Brust, aber Ben spürte da, wo der Riese ihn berührte, nur einen warmen Hauch.
»Waruuuuum?«, dröhnte Asif so laut, dass Fliegenbein sich die Hände auf die Ohren presste. »Duuuuu bist der Eeeerste! Der Eeeeeerste, der nicht für sich fragt, käferkleiner Mensch. Der Eeeerste in so viiiielen tausend Jahren, dass selbst ich sie nicht mehr zäääählen kann. Und deshalb werde ich deine Frage doppelt gern beantworten. Obwohl ich dich soooo gut als Diener brauchen könnte.«
»Du, du, du - du weißt die Antwort?« Bens Zunge klebte ihm im Mund.
»Ooooob ich die Antwort weiiiiiiß?« Der Dschinn lachte wieder. Er ließ sich auf die Knie nieder und hielt Ben seinen blauen Daumen vors Gesicht. »Sieh da hineiiiin!«, hauchte er. »Sieh in mein zweihundertdreiundzwanzigstes Auge. Was siehst du?« Ben beugte sich über Asifs Daumen.
»Ich sehe einen Fluss!«, flüsterte er, so leise, dass Lung die Ohren spitzen musste, um ihn zu verstehen. »Er fließt zwischen grünen Bergen. Immer weiter. Jetzt werden sie höher. Alles wird kahl und leer. Da sind Berge, die ganz seltsam geformt sind wie, wie ...« Aber das Bild änderte sich.
»Der Fluss fließt an einem Haus vorbei«, murmelte Ben. »Kein normales Haus. Das ist ein Palast oder so was.«
Der Dschinn nickte. »Sieh ihn dir genauuuu an«, hauchte er. »Ganz genau.«
Ben tat es, bis das Bild wieder verschwamm. Dann hielt Asif ihm seinen Zeigefinger hin. »Das ist mein zweihundertfünfundfünfzigstes Auge«, sagte er. »Was siehst du darin?«
»Ich seh ein Tal«, sagte Ben. »Es sind neun hohe Berge drum herum, mit schneebedeckten Gipfeln. Sie sind alle fast gleich hoch. Das Tal ist voll Nebel.«
»Guuuut!« Asif blinzelte. Und wieder verschwamm das Bild, wie alle anderen neunhundertneunundneunzig Bilder in seinen Augen, und ein neues erschien.
Ben riss die Augen auf. »Da, da!« Aufgeregt beugte er sich über Asifs riesigen Finger. »Lung, da ist ein Drache! Ein Drache wie du! In einer Höhle. In einer Riesenhöhle!«
Lung holte tief Luft. Unruhig trat er einen Schritt vor. Aber da blinzelte Asif wieder. Und das Bild in seinem zweihundertfünfundfünfzigsten Auge verschwand ebenso wie die anderen. Enttäuscht richtete Ben sich auf. Der Dschinn zog seine Hand weg, legte sie auf sein gewaltiges Knie und strich sich mit der anderen Hand über den langen Schnurrbart.
»Hast du dir genaaauuu gemerkt, was du gesehen hast?«, fragte er den Jungen.
Ben nickte. »Ja«, stammelte er. »Aber, aber ...«
»Voorsicht!« Asif verschränkte die Arme vor der Brust und blickte den Jungen streng an. »Du hast deine Frage gestellt. Hüüüüüüte deine Zunge oder du wirst doch noch mein Diiiiiener.«
Ben senkte verwirrt den Kopf.
Da erhob der Dschinn sich und schwebte leicht wie ein Ballon ein Stück in die Höhe.
»Folge dem Indus und suche die Bilder meiner Augen!«, dröhnte Asif. »Suche sie. Betrete den Palast, der am Berg hängt, und zerschlage das Licht des Mondes am Kopf des steinernen Drachen. Dann werden dir zwanzig Finger den Weg zum Saum des Himmels zeigen. Und Gold wird weniger wert sein als Silber.« Ben blickte sprachlos zu dem riesigen Dschinn auf. Asif lächelte. »Duuuu warst der Erste!«, rief er noch einmal. Dann blähte er sich auf wie ein Segel im Wind und seine Beine und Arme wurden wieder zu blauem Rauch. Asif wirbelte herum, bis Blätter und Blüten in seinem Sog tanzten und er nichts war als eine blaue Rauchsäule. Mit einem Windstoß löste sie sich auf und verschwand.
»Such die Bilder«, murmelte Ben und schloss die Augen.