8   DRACHENFEUER

 

 

 

»Na, das hätten wir uns ja wohl sparen können!«, fauchte Schwefelfell, als sie wieder auf der Straße standen. »Da kommen wir nur wegen dem aufgeblasenen Rattenkerl in diese stinkende Stadt, und was gibt er uns? Fauliger Glockendüngerling! Eine Karte. Voll gekritzeltes Papier! Pah, ich hätte diesen Himmelssaum auch so gefunden, nur mit meiner Nase.« Sie äffte Gilberts Stimme nach. »Dann kommen wir jetzt zur Bezahlung. Mit seinem Schwanz hätte ich ihn an seinen Globus knoten sollen, diesen albernen Fettmops.«

»Ach, reg dich ab.« Ben schob Schwefelfell die Kapuze über die Ohren und zog sie hinter sich her die Straße hinunter. »Die Karte ist nicht schlecht. Manche Sachen kann man nicht riechen!«

»Ach was, davon verstehst du nichts«, murmelte Schwefelfell, während sie missmutig hinter ihm herstapfte. »Ihr Menschen benutzt eure Nasen doch nur noch, um sie in Taschentücher zu stecken.«

Eine Weile gingen die zwei schweigend nebeneinanderher. »Wann wollt ihr wieder aufbrechen?«, fragte Ben irgendwann.

»Sobald es dunkel wird«, antwortete Schwefelfell - und rannte fast in einen dicken Mann hinein, dessen Dackel den Bordstein beschnüffelte. Der Hund hob überrascht die Schnauze, als ihm der Koboldgeruch in die Nase stieg. Knurrend zog er an seiner Leine. Ben zerrte Schwefelfell in die nächste Seitenstraße.

»Komm«, sagte er. »Hier ist weniger los. Wir sind sowieso gleich da.«

»Steine, Steine, nichts als Steine!« Schwefelfell sah unruhig an den Häusermauern hoch. »Mein Magen knurrt lauter als die Fahrmaschinen. Ich bin heilfroh, wenn wir hier wieder weg sind.«

»Es muss aufregend sein, auf so eine große Reise zu gehen«, sagte Ben.

Schwefelfell runzelte die Stirn. »Ich wäre lieber in meiner Höhle geblieben, viel lieber.«

»Aber zum Himalaja!« Ben ging gleich schneller, so aufregend klang das. »Und du fliegst auf einem Drachen! Mann!« Er schüttelte den Kopf. »Ich würde platzen vor Glück. Das klingt doch nach tausend Abenteuern!«

Schwefelfell guckte den Jungen kopfschüttelnd an. »Blödsinn. Was denn für Abenteuer? Nach Kälte und Hunger klingt das, nach Angst und Gefahr. Glaub mir, wir hatten es wunderbar zu Hause. Ein bisschen zu viel Regen vielleicht, aber was soll's? Weißt du was? Wegen euch Menschen machen wir diese verrückte Reise. Weil man keine Ruhe vor euch hat. Weil wir einen Ort finden müssen, wo eure pelzlosen Nasen niemals auftauchen! Aber wem erzähl ich das? Du bist selber einer. Wir fliehen vor den Menschen und ich lauf hier mit einem rum. Verrückt, was?«

Ben antwortete nicht. Stattdessen schubste er Schwefelfell in einen dunklen Hauseingang.

»He, he, was ist?« Wütend sah Schwefelfell den Jungen an. »Bist du jetzt sauer? Wir müssen doch über die Straße. Da drüben ist die Fabrik.«

»Ja, eben. Siehst du nicht, was da los ist?«, flüsterte Ben.

Schwefelfell lugte über seine Schulter. »Menschen!«, hauchte sie. »Jede Menge Menschen. Und Maschinen haben sie auch dabei.« Sie stöhnte auf. »Wenn man vom Teufel spricht ...«

»Du bleibst hier«, unterbrach Ben sie. »Ich geh rüber und krieg raus, was da los ist.«

»Was?« Schwefelfell schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das hast du dir so gedacht. Ich muss Lung warnen. Sofort!« Und ehe Ben sie festhalten konnte, war sie schon auf der Straße. Sie rannte zwischen den hupenden Autos hindurch und kletterte über die niedrige Mauer, die den Fabrikhof umgab. Fluchend lief Ben ihr hinterher.

Zum Glück war auf dem Hof so viel los, dass niemand die beiden bemerkte. Neben einem riesigen Bagger steckten ein paar Männer die Köpfe zusammen. Ben sah, wie Schwefelfell sich hinter der großen Schaufel versteckte um sie zu belauschen. Hastig schlich er sich zu ihr und hockte sich neben sie.

»Ich versteh nicht, was sie sagen!«, zischte Schwefelfell ihm zu. »Ich höre es schon, aber ich kenn die Wörter nicht. Dauernd reden sie was von >sprengen<? Was bedeutet das?«

»Nichts Gutes!«, flüsterte Ben zurück. »Komm schnell!« Er zerrte sie hoch und lief auf das Fabrikgebäude zu.

»Wir müssen zu Lung. Wir müssen ihn irgendwie hier rausbringen. Sofort.«

»He, was macht ihr zwei denn da?«, rief ihnen jemand nach. Schnell verschwanden sie im schützenden Dunkel des großen Gebäudes. Auf der Treppe nach unten hörten sie Schritte hinter sich. Schwere Schritte.

»Da sind sie reingelaufen!«, rief jemand.

»Zwei Kinder!«

»Verdammt, wie konnte das passieren?«, rief ein anderer.

Ben und Schwefelfell rannten weiter, durch den leeren, verfallenen Keller der Fabrik. Ihre Schritte hallten verräterisch auf den langen Gängen. Aber was sollten sie machen? Sie mussten den Drachen warnen, bevor ihn jemand entdeckte.

»Und wenn wir zu spät kommen?«, japste Schwefelfell. Die Kapuze rutschte ihr beim Rennen von den spitzen Ohren. Schnell zog sie sie wieder hoch. »Vielleicht haben sie ihn schon gefangen? Vielleicht haben sie ihn schon ausgestopft?« Sie schluchzte.

»Ach was, komm!« Ben nahm ihre Pfote und Seite an Seite rannten sie weiter. Die Schritte hinter ihnen kamen immer näher. Schwefelfells Beine zitterten, aber bis zu Lungs Versteck war es nicht mehr weit. Da blieb Ben plötzlich stehen. Er schnappte nach Luft.

»Verflixt, warum fällt mir das jetzt erst ein? Wir müssen sie ablenken. Lauf du weiter. Sag Lung, er soll sich in den Kanal retten. Ihr müsst so weit wie möglich von der Fabrik wegschwimmen. Das ganze Ding hier fliegt bald in die Luft.«

»Und du?«, japste Schwefelfell. »Was ist mit dir?«

»Ich komm schon klar«, stieß Ben hervor. »Los, lauf! Warne Lung!« Schwefelfell zögerte noch einen Atemzug, dann drehte sie sich um und rannte weiter. Die Schritte waren schon ganz nah. Sie sauste um die Ecke, hinein in den Raum, in dem sie Ben gefunden hatten. Der Drache lag vor der Luke und schlief.

»Lung!« Schwefelfell sprang zwischen seine Tatzen und rüttelte ihn. »Wach auf, wir müssen fort. Schnell!«

Verschlafen hob der Drache den Kopf. »Was ist? Wo ist der Menschenjunge?«

»Erklär ich dir später!«, zischte Schwefelfell. »Schnell, durch die Luke, in den Kanal.«

Aber Lung spitzte die Ohren. Er stand auf und ging langsam auf den Gang zu, aus dem Schwefelfell gekommen war. Er hörte Menschenstimmen, zwei tiefe Männerstimmen und die von Ben.

»Was hast du hier zu suchen?«, fragte einer der Männer barsch.

»So wie der aussieht, ist das ein Ausreißer«, sagte der andere.

»Blödsinn!«, rief Ben. »Lassen Sie mich los! Ich hab nichts gemacht, gar nichts!«

Beunruhigt streckte der Drache den Hals noch weiter vor. »Lung!« Verzweifelt zerrte Schwefelfell an seinem Schwanz. »Lung, komm schon. Du musst weg hier.«

»Aber der Junge braucht vielleicht Hilfe.« Der Drache machte noch einen Schritt vor. Die Männerstimmen wurden barscher und die von Ben immer zaghafter.

»Er hat Angst«, sagte Lung.

»Er ist ein Mensch!«, zischte Schwefelfell. »Und das sind auch Menschen. Die werden ihn nicht fressen. Und ausstopfen werden sie ihn auch nicht, aber uns, wenn sie uns erwischen. Also, komm endlich!«

Aber Lung rührte sich nicht. Sein Schwanz peitschte den Boden.

»He, pass auf, der will weglaufen!«, brüllte einer der Männer.

»Ich schnapp ihn mir!«, rief der andere.

Füße scharrten, Schritte entfernten sich. Lung machte wieder einen Schritt vor. »Ich hab ihn!«, brüllte ein Mann. »Au!«, schrie Ben. »Lass los! Lass los, du Mistkerl!« Da sprang Lung los. Wie eine riesige Katze schoss er durch die Keller der Fabrik. Schwefelfell rannte ihm schimpfend hinterher. Immer lauter wurden die Menschenstimmen, bis der Drache plötzlich zwei Männer sah. Sie kehrten ihm den Rücken zu. Der eine hatte den strampelnden Ben gepackt. Lung ließ ein leises Knurren hören. Tief und bedrohlich. Die Männer fuhren herum - und ließen Ben wie einen Sack Kartoffeln auf den Boden fallen. Erschrocken rappelte er sich auf und lief auf Lung zu.

»Aber du solltest doch fliehen!«, rief er. »Ich ...«

»Steig auf«, unterbrach der Drache ihn ohne die beiden Männer aus den Augen zu lassen. Sie standen immer noch wie angewurzelt da. Ben kletterte mit zitternden Beinen auf Lungs Rücken.

»Fort mit euch«, sagte der Drache. »Der Junge gehört zu mir!« Seine raue Stimme hallte durch den dunklen Keller. Die Männer stolperten vor Schreck gegeneinander.

»Ich träume!«, stammelte der eine. »Das is 'n Drache.«

Die beiden rührten sich immer noch nicht vom Fleck. Da öffnete Lung das Maul, knurrte - und spuckte blaues Feuer. Es leckte über die schmutzigen Mauern, die schwarze Decke, den steinernen Boden. Es füllte den Raum mit lodernden Flammen. Entsetzt wichen die Männer zurück. Dann rannten sie schreiend davon, als wäre der Teufel hinter ihnen her.

»Was ist? Was ist los?« Völlig außer Atem kam Schwefelfell herbeigestürzt.

»Zum Kanal, schnell!«, rief Ben. »Wenn die zurückkommen, bringen sie zwanzig andere mit.«

»Steig auf, Schwefelfell!«, stieß Lung hervor. Unruhig lauschte er den verhallenden Schritten der Männer. Als Schwefelfell endlich auf seinem Rücken saß, drehte der Drache sich um und sprang in großen Sätzen zu ihrem Versteck zurück.

Durch die Ladeluke fiel immer noch helles Sonnenlicht. Vorsichtig steckte Lung die Schnauze nach draußen. »Es ist zu hell!«, zeterte Schwefelfell. »Viel zu hell. Was sollen wir bloß tun?«

»Komm!« Ben zog sie mit sich von Lungs Rücken. »Er muss allein schwimmen. Dann kann er untertauchen und sie entdecken ihn nicht. Wir nehmen mein Boot.«

»Was?« Misstrauisch wich Schwefelfell vor dem Jungen zurück und presste sich gegen Lungs Schuppen. »Wir sollen uns schon wieder trennen? Und wie finden wir uns wieder?«

»Da ist eine Brücke!« Ben wandte sich dem Drachen zu. »Wenn du links den Kanal hinunterschwimmst, kannst du sie nicht verfehlen. Unter der versteckst du dich, bis wir kommen.«

Lung sah den Jungen nachdenklich an. Schließlich nickte er. »Ben hat Recht, Schwefelfell«, sagte er. »Passt gut auf euch auf.« Dann zwängte er sich durch die Luke, tauchte tief in das schmutzige Wasser und war verschwunden.

Beunruhigt guckte Schwefelfell ihm nach. »Wo ist dein Boot?«, fragte sie Ben ohne sich umzudrehen.

»Hier.« Ben lief zu den gestapelten Kartons und zerrte sie zur Seite. Ein rot gestrichenes Holzboot kam zum Vorschein.

»Das nennst du ein Boot?«, fauchte Schwefelfell entgeistert. »Das ist kaum größer als ein Pfifferling.«

»Wenn es dir nicht gefällt«, antwortete Ben, »kannst du ja schwimmen.«

»Pah!« Schwefelfell lauschte. Weit, weit entfernt waren aufgeregte Stimmen zu hören.

Ben kroch hinter den Kistenstapel, in dem er bei ihrer ersten Begegnung gesteckt hatte, und tauchte mit einem großen Rucksack wieder auf. »Also, kommst du jetzt?«, fragte er und schob sein Boot zur Luke.

»Wir ersaufen«, knurrte Schwefelfell und guckte angeekelt auf das dreckige Wasser. Dann stieß sie mit dem Jungen das Boot ins Wasser.