10   VERFLOGEN

 

 

Als der Mond über den Dächern der Stadt hing und ein paar verlorene Sterne am Himmel erschienen, schob Lung sich unter der Brücke hervor. Schwefelfell war im Nu auf seinem Rücken. Aber Ben hatte etwas mehr Mühe. Spöttisch beobachtete Schwefelfell, wie mühsam er sich an Lungs Schwanz hinaufhangelte. Als er endlich oben saß, guckte er so stolz, als hätte er den höchsten Berg der Erde erstiegen. Schwefelfell nahm ihm seinen Rucksack ab, schnallte ihn an ihren und hängte die beiden wie Satteltaschen hinter sich über Lungs Rücken. »Halt dich an den Zacken fest«, erklärte sie. »Und binde dich mit dem Riemen hier an Lungs Zacken fest, sonst fällst du bei der ersten Windbö runter.«

Ben nickte. Lung drehte den Hals und sah die beiden fragend an. »Fertig?«

»Fertig!«, antwortete Schwefelfell. »Auf geht's. Richtung Süden!«

»Süden?«, fragte Lung.

»Ja, und dann irgendwann nach Osten. Wenn ich dir Bescheid sage.«

Da breitete der Drache die schimmernden Flügel aus und stieß sich von der Erde ab. Ben hielt den Atem an und klammerte sich fest an Lungs Zacken. Höher und höher stieg der Drache. Sie ließen den Lärm der Stadt hinter sich. Die Nacht umfing sie mit Dunkelheit und Stille, und bald war die Menschenwelt nur noch ein Glitzern in der Tiefe.

»Na, wie findest du es?«, rief Schwefelfell Ben zu, als sie schon eine ganze Weile geflogen waren. »Ist dir schlecht?«

»Schlecht?« Ben sah hinunter, wo die Straßen sich wie schimmernde Schneckenspuren durch die Dunkelheit wanden. »Es ist wunderbar! Es ist - ach, ich kann nicht sagen, wie es ist.«

»Mir wird zuerst immer schlecht«, sagte Schwefelfell. »Und das Einzige, was dagegen hilft, ist fressen. Greif mal in meinen Rucksack und gib mir einen Pilz. Einen von den kleinen schwarzen.« Ben tat ihr den Gefallen. Dann blickte er wieder hinunter. Der Wind brauste in seinen Ohren.

»Wunderbar!«, schmatzte Schwefelfell. »Rückenwind. So sind wir vor Tagesanbruch in den Bergen. Lung!« Der Drache wandte ihr den Kopf zu.

»Nach Osten!«, rief Schwefelfell ihm zu. »Flieg jetzt Richtung Osten.«

»Jetzt schon?« Ben guckte ihr über die Schulter. Schwefelfell hatte die Karte der Ratte auf dem Schoß und folgte mit dem Finger der goldenen Linie.

»Aber da sind wir doch noch nicht!« rief Ben. »Das ist unmöglich.«

Er griff in seine Jacke und holte einen kleinen Kompass heraus. Die Taschenlampe, sein Taschenmesser und der Kompass, das waren seine Schätze. »Wir müssen noch weiter nach Süden, Schwefelfell!«, rief er. »Es ist noch zu früh, den Kurs zu ändern.«

»Ach was!« Das Koboldmädchen klopfte sich zufrieden auf den Bauch und lehnte sich an Lungs Zacken. »Da, sieh doch selbst, du Schlaukopf.« Sie reichte Ben die Karte. Er konnte sie kaum halten, so sehr flatterte sie im Wind. Besorgt betrachtete er die Linien der Ratte.

»Wir müssen weiter nach Süden!«, rief er. »Wenn wir jetzt schon nach Osten fliegen, landen wir mitten in gelbem Gebiet!«

»Na und?« Schwefelfell schloss die Augen. »Umso besser. Das hat Gilbert uns doch als Rastplatz empfohlen.«

»Aber nein!«, rief Ben. »Du meinst Grau. Grau hat er uns empfohlen. Vor Gelb hat er uns gewarnt. Sieh doch.« Ben knipste die Taschenlampe an und leuchtete auf das, was Gilbert unten auf die Karte gekritzelt hatte. »Hier hat er es hingeschrieben, gelb = Gefahr, Unglück.«

Ärgerlich fuhr Schwefelfell herum. »Ich hab es doch gewusst!«, fauchte sie. »Ihr Menschen wollt immer alles besser wissen. Es ist nicht auszuhalten. Wir fliegen richtig, genau richtig. Meine Nase sagt es mir, klar?« Ben spürte, dass Lung langsamer wurde.

»Was ist?«, rief der Drache. »Worüber streitet ihr euch?«

»Ach, nichts«, murmelte Ben, faltete die Karte zusammen und stopfte sie in Schwefelfells Rucksack. Dann blickte er besorgt in die Nacht.

 

Ganz langsam kam die Morgendämmerung, und in dem grauen Zwielicht sah Ben zum ersten Mal in seinem Leben Berge. Dunkel wuchsen sie aus dem Morgennebel, wölbten die felsigen Köpfe dem Himmel entgegen. Die Sonne schob sich zwischen den Gipfeln hervor, vertrieb das Zwielicht und malte tausend Farben auf den grauen Fels. Lung ließ sich tiefer sinken, kreiste suchend zwischen den steilen Hängen und flog dann auf ein Fleckchen Grün zu, das umgeben von schmächtigen Tannen knapp unterhalb der Baumgrenze lag. Wie ein riesiger Vogel glitt der Drache darauf zu, schlug ein paar Mal kräftig mit den Flügeln, bis er fast in der Luft stand, und setzte dann sacht zwischen den Bäumen auf.

Mit steifen Beinen kletterten Ben und Schwefelfell von Lungs Rücken und sahen sich um. Über ihnen ragte der Berg hoch in den Himmel. Der Drache gähnte und sah sich nach einem geschützten Platz zwischen den Felsen um, während seine Reiter vorsichtig an den Rand des Plateaus traten. Als Ben unten an den grünen Hängen käfergroße Kühe entdeckte, wurde ihm schwindelig. Schnell trat er einen Schritt zurück.

»Was ist?«, fragte Schwefelfell spöttisch und wagte sich so weit an den Abgrund heran, dass ihre pelzigen Zehen in die Luft ragten. »Magst du die Berge nicht?«

»Ich werd mich dran gewöhnen«, antwortete Ben. »Du hast dich doch auch ans Fliegen gewöhnt, oder?« Er drehte sich zu Lung um. Der hatte einen Platz gefunden. Im Schatten eines Felsvorsprungs hatte er sich zusammengerollt, die Schnauze auf den Tatzen, den Schwanz um sich herumgelegt.

»Das Fliegen macht Drachen furchtbar müde«, flüsterte Schwefelfell Ben zu. »Wenn sie danach nicht ihren Schlaf bekommen, werden sie traurig. So traurig, dass nichts mit ihnen anzufangen ist. Und wenn es dann vielleicht noch regnet«, sie verdrehte die Augen. »Oje, oje, ich kann dir sagen ... Aber zum Glück«, sie guckte zum Himmel hinauf, »sieht es kein bisschen nach Regen aus oder bist du schon wieder anderer Meinung?« Ben schüttelte den Kopf und sah sich um.

»So, wie du guckst, bist du noch nie in den Bergen gewesen, was?«, fragte Schwefelfell.

»Auf einem Müllberg war ich mal, zum Rodeln«, sagte Ben. »Aber der war nicht höher als die Tanne da.«

Er setzte sich auf seinen Rucksack in das taufeuchte Gras. Furchtbar klein kam er sich vor zwischen den hohen Gipfeln - klein wie ein Käfer. Trotzdem konnte er sich nicht satt sehen an all den Buckeln und Spitzen, die den Horizont verstellten. Auf einem Gipfel, weit, weit entfernt, entdeckte Ben die Ruine einer Burg. Schwarz ragte sie in den Morgenhimmel. Und obwohl sie kaum größer als eine Streichholzschachtel war, sah sie bedrohlich aus.

»Guck mal.« Ben stieß Schwefelfell an. »Siehst du die Burg da?«

Das Koboldmädchen gähnte. »Wo? Ach, die.« Sie gähnte noch einmal. »Was ist mit der? Da, wo Lung und ich herkommen, gibt's viele davon. Sind alte Menschenhäuser. Solltest du doch wissen.« Sie öffnete ihren Rucksack und stopfte sich ein paar von den Blättern in den Mund, die sie unter der Brücke gesammelt hatte. »So!« Sie warf ihren Rucksack ins kurze Gras. »Einer von uns kann sich jetzt aufs Ohr legen, der andere hält Wache. Sollen wir losen?«

»Nein, nein.« Ben schüttelte den Kopf. »Leg dich ruhig hin. Ich könnte jetzt sowieso nicht schlafen.«

»Wie du meinst.« Schwefelfell stapfte dorthin, wo Lung schlief. »Aber fall nicht von irgendwas runter, ja?«, rief sie über die Schulter. Dann rollte sie sich neben dem Drachen zusammen und war im nächsten Moment eingeschlafen.

Ben holte einen Löffel und eine Dose Ravioli aus seinem Rucksack, machte sie mit dem Taschenmesser auf und setzte sich damit in sicherer Entfernung vom Abgrund ins Gras. Während er die kalten Nudeln löffelte, sah er sich um. Wache halten. Er guckte zu der Burg hinüber. Winzige Punkte kreisten über ihr am hellen Himmel. Ben musste an die Raben denken, von denen Gilbert Grauschwanz erzählt hatte. Ach was, dachte er. Jetzt seh ich schon Gespenster.

Die Sonne stieg immer höher. Sie verscheuchte den Nebel aus den Tälern und machte Ben schläfrig. Also sprang er auf und ging ein bisschen auf und ab. Als Schwefelfell laut zu schnarchen begann, schlich er sich heran, griff in ihren Rucksack und zog die Karte von Gilbert Grauschwanz heraus.

Vorsichtig breitete er sie aus und holte seinen Kompass aus der Tasche. Dann zog er an einem der Bänder und sah sich die Berge, in denen sie sich befinden mussten, genauer an. Besorgt betrachtete er die Eintragungen der Ratte. »Da!«, murmelte er. »Ich hab's gewusst. Mittendrin in so einem verdammten gelben Fleck sind wir gelandet. Viel zu weit östlich. Das fängt ja gut an.« Plötzlich raschelte etwas hinter ihm.

Ben hob den Kopf. Da. Da war es wieder. Ganz deutlich. Er drehte sich um. Schwefelfell und Lung schliefen. Nur die Schwanzspitze des Drachen zuckte im Traum. Unbehaglich guckte Ben sich um. Ob es auf Bergen Schlangen gab? Schlangen waren so ziemlich das Einzige, vor dem er wirklich Angst hatte. Ach was, wahrscheinlich ein Kaninchen, dachte er. Er faltete die Karte zusammen, steckte sie zurück in Schwefelfells Rucksack und - traute seinen Augen nicht.

Hinter einem großen, moosbewachsenen Stein, kaum einen Schritt entfernt von ihm, trat vorsichtig ein kleiner, dicker Mann hervor. Kaum größer als ein Huhn war er, mit einem gewaltigen Hut auf dem Kopf, der genauso grau war wie die Felsen ringsum. In der Hand hielt er eine Steinhacke.

»Nein, der ist es nicht«, sagte der Kleine und musterte Ben von Kopf bis Fuß.

»Wieso nicht, Gipsbart?« Drei weitere dicke Kerle lugten hinter dem Stein hervor. Sie musterten Ben wie ein seltsames Tier, das es unglaublicherweise auf ihren Berg verschlagen hatte.

»Weil bei so einem unsere Köpfe nicht jucken würden, darum«, antwortete Gipsbart. »Es ist ein Mensch, seht ihr das nicht? Aber nur ein kleiner.« Besorgt sah sich der Zwerg nach allen Seiten um. Er warf sogar einen Blick hinauf zum Himmel. Dann stapfte er entschlossen auf Ben zu, der immer noch verdutzt auf der Erde hockte. Direkt vor ihm blieb Gipsbart stehen, die Hacke fest in den kleinen Händen, als könnte sie ihm gegen den Menschenriesen helfen. Die anderen drei blieben hinter dem Stein und beobachteten ihren todesmutigen Anführer mit angehaltenem Atem. »He, du da, Mensch«, raunte Gipsbart und klopfte Ben aufs Knie. »Mit wem bist du hier?«

»Wa-wa-was?«, stotterte Ben.

Der Dicke drehte sich zu seinen Freunden um und tippte sich an die Stirn. »Er ist nicht besonders schlau!«, rief er ihnen zu. »Aber ich versuch es noch mal.« Wieder drehte er sich zu Ben um. »Mit - wem - bist - du - hier?«, fragte er. »Ist es ein Elf? Eine Fee? Ein Kobold? Ein Irrlicht?«

Ohne es zu wollen warf Ben einen schnellen Blick dorthin, wo Lung und Schwefelfell schliefen.

»Ahaaa!« Gipsbart machte einen Schritt zur Seite, stellte sich auf die Zehenspitzen - und schnappte ehrfürchtig nach Luft. Seine Augen wurden rund wie Murmeln. Er nahm seinen gewaltigen Hut ab, kratzte sich den kahlen Kopf und setzte den Hut wieder auf.

»He, Bleiglanz, Kiesbart, Mandelstein!«, rief er. »Kommt endlich hinter dem Stein hervor.« Mit andächtiger Stimme fügte er hinzu: »Ihr werdet's nicht glauben. Es ist ein Drache! Ein silberner Drache.«

Langsam, auf Zehenspitzen, schlich er auf den schlafenden Lung zu. Seine Freunde kamen aufgeregt hinterhergestolpert.

»He, wartet mal!« Endlich fand Ben die Sprache wieder. Er sprang auf und stellte sich zwischen Lung und die kleinen Kerle. Sie waren kaum größer als Limonadenflaschen, trotzdem hoben sie ihre Hämmer und Hacken und guckten grimmig zu ihm empor.

»Mach Platz da, Mensch!«, knurrte Gipsbart. »Wir wollen ihn uns nur mal ansehen.«

»Schwefelfell!«, rief Ben über die Schulter. »Schwefelfell, wach auf, hier sind lauter komische kleine Kerle.«

»Komische kleine Kerle?« Gipsbart machte einen Schritt auf Ben zu. »Meinst du etwa uns? Brüder, habt ihr das gehört?«

»Was ist denn das für ein Lärm?«, knurrte Schwefelfell und kroch gähnend hinter dem schlafenden Drachen hervor.

»Ein Waldkobold!«, rief Bleiglanz erschrocken.

»Steinzwerge!«, rief Schwefelfell. »Na, so was. Vor denen ist man wirklich nirgendwo sicher.« Mit einem Satz sprang sie zwischen die kleinen Kerle, packte Bleiglanz am Kragen und hob ihn in die Luft. Vor Schreck ließ der Zwerg den Hammer fallen und strampelte mit seinen krummen Beinen in der Luft herum. Seine Freunde gingen sofort auf Schwefelfell los, aber das Koboldmädchen wehrte sie lässig mit der freien Tatze ab.

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»Na, na, regt euch nicht auf«, sagte sie, pflückte den Zwergen die Hämmer und Hacken aus den Fäusten und warf sie über die Schulter. »Wisst ihr nicht, dass man Drachen niemals wecken darf? Hm? Was, wenn er euch zum Frühstück gegessen hätte? So saftig und knackig, wie ihr ausseht?«

»Pah, albernes Koboldgerede!«, rief Gipsbart. Er warf Schwefelfell einen grimmigen Blick zu, aber vorsichtshalber sprang er doch ein paar Zwergenschritte zurück.

»Drachen fressen nichts, was atmet!«, rief der dickste Zwerg und duckte sich hinter einen Stein. »Sie leben nur vom Mondlicht. All ihre Kraft kommt nur vom Mond. Nicht mal fliegen können sie, wenn er nicht scheint.«

»Ach, ihr seid ja ein paar ganz Schlaue, was?« Schwefelfell setzte den zappelnden Bleiglanz zurück ins Gras und beugte sich über die anderen.

»Dann sagt mir mal, woher ihr wusstet, dass wir hier sind? Sind wir dummerweise vor eurer Haustür gelandet?«

Die vier guckten ängstlich zu ihr hoch. Gipsbart stieß den Kleinsten an. »Los, Mandelstein«, brummte er. »Jetzt bist du mal dran.«

 

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Mandelstein trat unsicher vor, fingerte an seiner Hutkrempe herum und blickte beunruhigt zu den beiden Riesen hoch, die vor ihm im Gras standen.

»Nein, wir wohnen noch ein ganzes Stück weiter oben«, sagte er schließlich mit bebender Stimme.

»Aber heute Morgen haben unsere Köpfe gejuckt. So stark, wie sie sonst nur in der Nähe der Burg jucken.«

»Und was heißt das?«, fragte Schwefelfell ungeduldig.

»Sie jucken nur, wenn andere Fabelwesen in der Nähe sind«, antwortete Mandelstein. »Bei Menschen und Tieren jucken sie nie.«

»Ein Glück!«, seufzte Bleiglanz.

Schwefelfell sah die vier ungläubig an.

»Du hast da gerade was von einer Burg gesagt.« Ben kniete sich vor Mandelstein und sah ihn fragend an. »Meinst du etwa die da hinten?«

»Wir wissen gar nichts!«, rief der dickste Zwerg hinter seinem Stein hervor.

»Sei still, Kiesbart!«, raunzte Gipsbart.

Mandelstein guckte Ben wie ein erschrockenes Kaninchen an und zwängte sich schnell wieder zwischen die anderen. Gipsbart aber machte einen Schritt auf den Menschenjungen zu.

»Genau die Burg meinen wir«, knurrte er. »Ist kaum auszuhalten, das Jucken da. Deshalb sind wir auch schon seit Jahren nicht mehr dort gewesen. Obwohl der Berg, auf dem sie steht, nach Gold riecht, dass es einem den Hut vom Kopf reißt.«

Ben und Schwefelfell schauten zu der Burg hinüber.

»Wer wohnt denn da?«, fragte Ben besorgt.

»Das wissen wir nicht!«, flüsterte Mandelstein.

»Nein, keine Ahnung!«, murmelte Kiesbart und musterte Ben und Schwefelfell düster.

»Wir wollen es auch nicht wissen«, brummte Gipsbart. »Da drüben passieren dunkle Dinge. Nichts für uns, was, Brüder?« Die vier schüttelten wieder die Köpfe und rückten noch etwas näher zusammen.

»Hört sich so an, als ob wir schleunigst weiterfliegen sollten«, sagte Schwefelfell.

»Ich hab dir doch gesagt, Gelb müssen wir meiden!« Ben sah beunruhigt zu Lung hinüber, aber der schlief immer noch friedlich. Nur den Kopf hatte er auf die andere Seite gedreht. »Wir sind nicht weit genug nach Süden geflogen. Aber du wolltest mir ja nicht glauben.«

»Ja, ja, schon gut!« Schwefelfell kaute nachdenklich auf ihren Krallen herum. »Ist jetzt nicht zu ändern. Vor Sonnenuntergang können wir hier nicht weg. Und Lung muss den ganzen Tag schlafen, sonst ist er heute Nacht zu müde zum Fliegen. Gut«, sie klatschte in die Pfoten. »Die beste Gelegenheit, meine Vorräte aufzustocken. Wie sieht's aus, Jungs?« Sie beugte sich zu den Steinzwergen hinunter. »Wisst ihr, wo hier ein paar schmackhafte Beeren oder Wurzeln wachsen?«

Die vier kleinen Kerle tuschelten miteinander. Schließlich trat Gipsbart mit wichtiger Miene vor, räusperte sich und sagte: »Wir zeigen dir eine Stelle, Kobold, aber nur, wenn der Drache für uns an den Felsen schnuppert.«

Erstaunt guckte Schwefelfell auf den Zwerg herab. »Wozu soll das denn gut sein?«

Da trat auch Kiesbart vor. »Drachen riechen Schätze«, raunte er. »Das weiß doch jeder.«

»Ach ja?« Schwefelfell grinste. »Wer hat euch das denn erzählt?«

»In den Geschichten heißt es so«, antwortete Gipsbart. »In den Geschichten über die Zeit, in der es hier noch Drachen gab.«

»Hier gab es sehr, sehr viele«, fügte Mandelstein hinzu. »Aber«, er hob traurig die Schultern, »sie sind alle längst verschwunden.«

Bewundernd sah er zu Lung hinüber. »Mein Großvater«, raunte Bleiglanz, »mein Großvater mütterlicherseits ist noch auf einem geritten. Gold und Silber hat der Drache für ihn aufgespürt, Quarz und Turmalin, Bergkristall, Gelbbleierz, Malachit!« Der Zwerg verdrehte verzückt die Augen.

»Na gut«, Schwefelfell zuckte die Achseln. »Ich bitte den Drachen darum, wenn er wach wird. Aber nur, wenn ihr mir ein paar wirklich schmackhafte Sachen zeigt.«

»Gut, komm!« Die Steinzwerge zogen Schwefelfell mit sich, dorthin, wo der Berg steil zum Tal hin abfiel. Geschickt ließen sie sich an den Felsen hinunter.

Schwefelfell wich erschrocken vor dem Abhang zurück. »Was, da runter?«, fragte sie. »Kommt ja überhaupt nicht in Frage. Ich kletter gern ein bisschen herum, auf Bergen, die rund und weich wie Katzenbuckel sind, aber das hier? Nein. Wie wär's, wenn ihr Burschen da alleine runterklettert? Ich warte hier und ruf euch, sobald der Drache wach wird. Einverstanden?«

»Wie du willst«, antwortete Bleiglanz und verschwand in der Tiefe. »Aber du rufst.«

»Ehrenwort.« Schwefelfell sah den kleinen Kerlen kopfschüttelnd nach. Flink wie fette Fliegen kletterten sie die steile Felswand hinunter. »Hoffentlich wissen sie, was Kobolden schmeckt«, murmelte sie. Dann übernahm sie die Wache.

Dass Kiesbart, der dickste Zwerg, sich von den anderen trennte und unauffällig unter den Zweigen einer Tanne verschwand, bemerkte sie leider nicht.