29  DER DRACHE 

 

 

Der Himmel leuchtete in mildem Morgenlicht und die Sonne brannte noch nicht allzu heiß, als Lung mit Ben und Schwefelfell auf das Dorf zuging. Schwärme weißer Seevögel kreisten über dem Drachen und kündigten seine Ankunft mit aufgeregtem Kreischen an.

Die Menschen im Dorf warteten schon auf ihn. Sie standen vor ihren Hütten, die Kinder auf dem Arm. Der Strand war mit Blüten bestreut. Über den Hüttendächern flatterten Papierdrachen und selbst die kleinsten Kinder hatten ihre schönsten Kleider an. Ben fühlte sich wie ein König hoch oben auf dem Drachenrücken. Er sah sich nach den Raben um, aber keiner war zu entdecken. Nur die Katzen des Dorfes waren überall, weiße, gelbe, getigerte und gescheckte, auf den Dächern, vor den Hütten und in den Zweigen der wenigen Bäume. Lung schritt an Katzen und Menschen vorbei, über die Blütenblätter, bis er Barnabas Wiesengrund entdeckte. Als er vor dem Professor stehen blieb, wichen alle ringsum ehrfürchtig zurück. Nur Subaida Ghalib und Guinever blieben an ihrem Platz.

»Mein lieber Lung«, sagte Barnabas und verbeugte sich tief. »Dein Anblick macht mich heute genauso glücklich wie bei unserer ersten Begegnung. Meine Frau lernst du nachher kennen, aber ich kann dir schon einmal meine Tochter vorstellen, Guinever. Neben ihr steht Subaida Ghalib, die berühmteste Drachenforscherin der Welt, die dir helfen wird den schwarzen Mond zu überlisten.«

Lung wandte ihr den Kopf zu. »Das kannst du?«, fragte er.

»Ich glaube schon, Asdaha!« Subaida Ghalib verbeugte sich lächelnd. »Asdaha - so heißt du in unserer Sprache. Khuea hasiz. Gott schütze dich. Weißt du, dass ich mir deine Augen genau so vorgestellt habe?« Zögernd hob sie die Hand und berührte Lungs Schuppen.

Da verloren die Kinder das letzte bisschen Furcht. Sie kletterten von den Armen ihrer Eltern, umringten den Drachen und streichelten ihn. Lung ließ es sich gefallen, stupste eins nach dem andern sacht mit seiner Schnauze an. Die Kinder verbargen sich kichernd zwischen seinen Beinen und die mutigsten hangelten sich an seinen Schwanzzacken hoch und kletterten auf seinen Rücken.

Schwefelfell hatte schon die ganze Zeit beunruhigt in das Menschengewimmel geblickt. Ihre Ohren zuckten und selbst das Knabbern an einem Steinpilz konnte sie nicht beruhigen. Sie war es gewohnt, Menschen aus dem Weg zu gehen, sich zu verstecken, wenn sie sie roch oder hörte. Durch Ben hatte sich das zwar geändert, aber diese Menge von Menschen ließ ihr Koboldherz doch schmerzhaft schnell schlagen.

Als hinter ihr der erste fremde Junge auftauchte, fiel ihr vor Schreck der Pilz aus der Pfote.

»He, he!«, fauchte sie den Jungen an. »Runter mit dir, du Menschlein.«

Erschrocken duckte der Junge sich hinter Lungs Zacken.

»Lass ihn doch, Schwefelfell«, beruhigte Ben sie. »Du siehst doch, dass Lung nichts dagegen hat, oder?«

Schwefelfell knurrte nur und hielt misstrauisch ihren Rucksack fest.

Aber der fremde Junge war an dem Rucksack nicht interessiert. Er starrte nur das pelzige Koboldmädchen an. Mit leiser Stimme fragte er etwas. Hinter seinem Rücken tauchten noch zwei Kinder auf.

»Was will er?«, brummte Schwefelfell. »Ich versteh diese Menschensprache kaum.«

»Er hat gefragt«, übersetzte Fliegenbein, der zwischen Bens Beinen saß, »ob du ein kleiner Dämon bist?«

»Was?«

Ben grinste. »Das ist so was wie ein böser Geist.«

»So, so«, Schwefelfell machte ein grimmiges Gesicht. »Nein, bin ich nicht!«, fuhr sie die Kinder an, die hinter Lungs Zacken hervorlugten. »Ich bin ein Kobold. Ein Waldkobold.«

»Dubidai?«, fragte ein Mädchen und zeigte auf Schwefelfells Pelz.

»Was soll das nun wieder heißen?« Das Koboldmädchen zog die Nase kraus.

»Das scheint die hiesige Bezeichnung für >Kobold< zu sein«, meinte Fliegenbein. »Allerdings wundern sie sich, dass du nur zwei Arme hast.«

»Nur zwei?« Schwefelfell schüttelte den Kopf. »Haben sie vielleicht mehr?«

Ein kleiner Junge streckte mutig die Hand aus, zögerte einen Moment und streichelte Schwefelfells Pfote. Erst zuckte sie zurück, aber dann ließ sie ihn gewähren. Der Junge sagte etwas.

»So, so«, brummte Schwefelfell. »Das habe ich gerade verstanden. Das Menschlein mit der Haut eines Butterpilzes sagt, dass ich aussehe wie eine Katzengöttin. Was sagt ihr nun?« Geschmeichelt strich sie sich über das gefleckte Fell.

»Komm, Schwefelfell«, sagte Ben. »Wir machen hier oben ein bisschen Platz. Wir sitzen oft genug auf Lungs Rücken, aber für die Kinder hier ist das ganz was Neues.«

Aber Schwefelfell schüttelte energisch den Kopf. »Was, da runter? Nein.« Erschrocken hielt sie sich an Lungs Zacken fest. »Nein, ich bleib schön hier oben. Geh du ruhig und lass dich von deinen Artgenossen platt trampeln.«

»Na gut, dann bleib hier, du pelzige Meckerziege.« Ben setzte Fliegenbein in seinen Rucksack und hangelte sich an den Kindern vorbei von Lungs Rücken herunter.

Der Drache leckte gerade einem Mädchen die Nasenspitze, das ihm einen Blumenkranz über die Hörner gehängt hatte. Immer mehr Kinder kletterten auf Lungs Rücken, hielten sich an seinen Zacken fest, zogen an den Lederriemen, mit denen die Drachenreiter sich festbanden, und streichelten die warmen Silberschuppen. Schwefelfell saß mit gekreuzten Armen im Gewimmel und hielt ihren Rucksack fest.

»Schwefelfell ist sauer«, raunte Ben dem Drachen ins Ohr. Lung warf einen Blick über die Schulter und schüttelte spöttisch den Kopf.

Auch die Erwachsenen umdrängten den Drachen, berührten ihn und versuchten einen Blick in seine Augen zu erhaschen. Lung wandte sich Subaida Ghalib zu, die mit einem Lächeln die Kinder auf seinem Rücken beobachtete.

»Erzähle mir, wie man den Mond überlistet«, sagte er.

»Dafür sollten wir uns einen ruhigeren Ort suchen«, antwortete die Drachenforscherin. »Lass uns dorthin gehen, wo ich die Lösung des Geheimnisses fand.«

Sie hob die Hände, ihre Armreifen klirrten und die Ringe an ihrer Hand blitzten im Sonnenlicht. Sofort wurde es still. Die aufgeregten Stimmen verstummten. Die Kinder rutschten von Lungs Rücken - und nur das Rauschen des Meeres war noch zu hören. Subaida Ghalib rief den Dorfbewohnern etwas zu.

»Ich gehe mit dem Drachen jetzt zum Grabmal des Drachenreiters!«, übersetzte Fliegenbein. »Ich habe wichtige Dinge mit ihm zu bereden, die an kein falsches Ohr dringen dürfen.«

Die Bewohner des Dorfes blickten hinauf zum Himmel. Subaida hatte ihnen von den Raben erzählt. Aber der Himmel war leer, bis auf einen Schwärm weißer Seevögel, der zum Fluss zog. Ein alter Mann trat vor und sagte etwas.

»Dann bereiten wir jetzt das Fest vor!«, übersetzte Fliegenbein. »Das Fest, das die Wiederkehr der Drachen und des Drachenreiters feiert.«

»Ein Fest?«, fragte Ben. »Für uns?«

Subaida wandte sich ihm lächelnd zu. »Natürlich. Sie werden euch nicht wieder fortlassen ohne dieses Fest. Die Menschen hier glauben, dass ein Drache ein Jahr Glück bringt - Glück und Regen, der hier fast als das größte Glück gilt.«

Ben blickte zum blauen Himmel hinauf. »Sieht nicht nach Regen aus«, meinte er.

»Wer weiß. Drachenglück kommt wie der Wind«, antwortete Subaida. »Aber jetzt kommt mit.« Sie wandte sich um und winkte Lung mit ihrer beringten Hand.

Er wollte ihr gerade folgen, als Guinever Wiesengrund zaghaft gegen sein Vorderbein klopfte.

»Bitte«, sagte sie. »Meinst du, es wäre dir zu schwer, ich weiß nicht, aber könntest du ...«

Lung beugte den Nacken. »Steig auf«, sagte er. »Ich kann zehn von deiner Größe tragen, ohne viel davon zu spüren.«

»Und was ist mit meiner Größe?«, rief Subaida Ghalib und stemmte die Arme in die Hüften. »Ich fürchte, das ist selbst für einen Drachen zu viel, oder?«

Lung beugte lächelnd noch einmal den Hals. Da raffte Subaida ihr weites Gewand und kletterte behänd an den Zacken des Drachen hoch.

Schwefelfell blickte dem Mädchen und der Frau mit düsterer Miene entgegen. Aber als Guinever ihr die Hand entgegenstreckte und sagte: »Hallo, ich bin wirklich sehr erfreut deine Bekanntschaft zu machen!«, hellte ihr pelziges Gesicht sich auf.

Und während Lung seine drei Reiterinnen dorthin trug, wo das Grabmal des Drachenreiters auf einem Hügel hinter den Hütten stand, ging Ben mit Barnabas Wiesengrund und Fliegenbein zu Fuß hinterher.

»Tja«, sagte der Professor, als Lungs Schwanz vor ihnen durch den Sand schleifte. »Guinever reitet auch mit Leidenschaft auf Elefanten und Kamelen. Ich bin schon froh, wenn ich mich auf einem Eselsrücken halten kann. Ach, übrigens«, er legte Ben den Arm um die Schulter, »meine Frau wartet am Grabmal auf uns. Dort erzählst du uns hoffentlich endlich, was ihr seit unserer letzten Begegnung erlebt habt. Vita freut sich schon besonders darauf, dich kennen zu lernen, dich, Schwefelfell und vor allem auch Fliegenbein. Kobolde kennt sie ja einige, aber sie wollte schon immer gern einem Homunkulus begegnen.«

»Hast du gehört, Fliegenbein?«, fragte Ben und wandte den Kopf dem kleinen Mann auf seiner Schulter zu.

Aber der Homunkulus war in Gedanken versunken. Er sah noch immer die glücklichen Gesichter der Dorfbewohner vor sich, als Lung auf ihre Hütten zukam. Zweimal bisher hatte er mit seinem Meister ein Menschendorf betreten, aber Nesselbrand hatte niemals Glück gebracht. Angst war alles, was er brachte. Und das genoss er.

»Ist was, Fliegenbein?«, fragte Ben besorgt.

»Nein! Nein, nichts, junger Herr«, antwortete der Homunkulus und strich sich über die Stirn.

Der Professor legte Ben den Arm um die Schulter. »Ach, ich platze vor Neugier. Sag mir nur eins!« Er blickte zum Himmel, aber von Raben war immer noch nichts zu sehen. Trotzdem senkte er die Stimme. »Wusste der Dschinn die Antwort? Hast du die richtige Frage gestellt?«

Ben grinste. »Ja, aber er hat sich ein bisschen rätselhaft ausgedrückt. «

»Rätselhaft. Das ist typisch für diese Burschen, doch ...«, der Professor schüttelte den Kopf. »Nein, nein, erzähl mir später, was er gesagt hat. Wenn Vita dabei ist. Sie verdient, es auch zu hören. Ohne sie hätte ich mich nie in das verdammte Flugzeug getraut, das uns hergebracht hat. Außerdem - seit dieser Spiongeschichte bin ich sehr vorsichtig geworden.« Fliegenbein konnte es nicht verhindern, er zuckte zusammen, als er das Wort >Spion< hörte.

»Mein lieber Fliegenbein«, sagte der Professor. »Irgendwie siehst du krank aus. Bekommt dir das Fliegen etwa nicht?«

»Ich find auch, er sieht nicht gut aus«, stimmte Ben zu und guckte Fliegenbein schon wieder so besorgt von der Seite an.

»Nein, nein«, stammelte der Homunkulus. »Wirklich, es ist nichts. Ich mag nur die Hitze nicht. Ich bin sie nicht gewöhnt«, er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich bin für die Kälte geschaffen. Für Kälte und Dunkelheit.«

Ben sah ihn überrascht an. »Wieso? Ich denk, du kommst aus Arabien?«

Fliegenbein blickte ihn erschrocken an. »Arabien? Ich, ähm, stimmt, aber ...«

Barnabas Wiesengrund ersparte dem Homunkulus die schwierige Antwort. »Entschuldigt, dass ich euch unterbreche«, sagte er und zeigte nach vorn, »aber wir sind gleich am Grabmal. Das da oben ist es. Und da ist auch Vita!« Er winkte - und ließ erschrocken die Hand sinken. »Du meine Güte! Siehst du das, mein Junge?«

»Ja«, antwortete Ben und runzelte die Stirn. »Da warten schon zwei fette Raben auf uns.«