39   EINE ALTE FEUERSTELLE 

 

»Tut mir Leid«, sagte Ben und beugte sich mit einem Seufzer über die Karte der Ratte. »Keine Ahnung, wo wir sind. Solange wir den Fluss raufgeflogen sind, war alles klar, aber jetzt«, er zuckte die Achseln. »Wir könnten überall sein.«

Er tippte mit dem Finger auf all die weißen Flecken, die östlich vom Flusslauf des Indus wie Löcher in der Karte klafften.

»Das sind ja schöne Aussichten!«, stöhnte Schwefelfell. »Was wird der Professor denken, wenn wir nicht rechtzeitig am Kloster sind?«

»Alles meine Schuld«, murmelte Ben und faltete die Karte wieder zusammen. »Wenn ihr mich nicht gesucht hättet, wärt ihr vielleicht schon da.«

»Ja, und du wärst Vogelfutter«, antwortete Schwefelfell. »Vergiss es.«

»Legt euch jetzt hin und schlaft«, brummte Lung aus der dunkelsten Höhlenecke. Er hatte sich ganz eng zusammengerollt, die Schnauze auf die Schwanzspitze gelegt und die Augen fest geschlossen. Der Flug im Sonnenlicht hatte ihn mehr erschöpft als drei durchflogene Nächte. Selbst die Sorge um den richtigen Weg konnte den Schlaf nicht von seinen Lidern scheuchen.

»Ja, du hast Recht«, murmelte Ben, streckte sich auf dem kühlen Höhlenboden aus und legte seinen Kopf auf den Rucksack. Fliegenbein legte sich neben ihn, als Kissen nahm er die Hand des Jungen.

Nur Schwefelfell blieb unschlüssig stehen und schnüffelte.

»Riecht ihr das nicht?«, fragte sie.

»Was?«, murmelte Lung schläfrig. »Pilze?«

»Nein! Es riecht nach Feuer.«

»Na und?« Ben öffnete ein Auge. »Hier sind überall alte Feuerstellen, siehst du doch. Scheint ein beliebter Unterschlupf zu sein.«

Schwefelfell schüttelte den Kopf. »Einige sind gar nicht so alt«, sagte sie. »Die da zum Beispiel.« Sie stieß mit der Pfote die verkohlten Äste auseinander. »Die ist höchstens zwei Tage alt und die hier ist noch ganz frisch. Gerade ein paar Stunden alt.«

»Gut, dann halte Wache«, seufzte Lung verschlafen. »Und weck mich, wenn jemand kommt.« Dann war er eingeschlafen.

»Ein paar Stunden alt. Bist du sicher?« Ben rieb sich den Schlaf aus den Augen und setzte sich wieder hin.

Fliegenbein lehnte sich gähnend an seinen Arm. »Welche denn, Pelzgesicht?«, fragte er.

»Na, die hier!« Schwefelfell zeigte auf ein winziges Häufchen.

»Du meine Güte«, stöhnte Ben und legte sich wieder hin. »Das sieht aus wie die Feuerstelle von 'nem Regenwurm, Schwefelfell.« Er rollte sich auf die Seite - und schlief im nächsten Moment genauso fest wie Lung.

»Von einem Regenwurm, pah!« Schwefelfell nahm ärgerlich ihren Rucksack und setzte sich damit in den Höhleneingang. Fliegenbein folgte ihr.

»Ich kann nicht schlafen«, sagte er. »Ich hab in letzter Zeit so viel geschlafen, dass es für die nächsten hundert Jahre reicht.« Er stellte sich neben Schwefelfell. »Machst du dir ernsthaft Sorgen wegen der Feuerstelle?«

»Ich halt jedenfalls Augen und Ohren offen«, knurrte Schwefelfell und holte die Tüte mit den getrockneten Pilzen des Professors aus dem Rucksack.

Fliegenbein machte vorsichtig einen Schritt aus der Höhle heraus. Das weite Tal glühte in der Mittagssonne. Nichts war zu hören.

»So muss es auf dem Mond aussehen«, meinte der Homunkulus.

»Auf dem Mond?« Schwefelfell knabberte an einem Steinpilz. »Den stell ich mir ganz anders vor. Nebelig und feucht. Ganz kalt.«

»Aha.« Fliegenbein sah sich nachdenklich um.

»Ich hoffe nur, die Feuerstelle stammt nicht von Staubelfen«, murmelte Schwefelfell. »Aber nein, Staubelfen machen nie Feuer. Aber was ist mit Trollen? Gibt es Bergtrolle in deiner Größe?«

»Nicht, dass ich wüsste.« Fliegenbein fing sich eine vorbeischwirrende Mücke und stopfte sie sich hinter verlegen vorgehaltener Hand in den Mund.

Da presste Schwefelfell plötzlich warnend den Finger an die Lippen. Sie warf ihren Rucksack in die Höhle, packte Fliegenbein und versteckte sich mit ihm hinter den Felsen.

Fliegenbein hörte ein leises Brummen, dann ein Poltern - und vor den Höhleneingang rollte ein staubiges kleines Flugzeug. Es war froschgrün, bedeckt von der Schnauze bis zum Heck mit schwarzen Tatzenabdrücken. Auf den Tragflächen prangte ein Zeichen, das Schwefelfell seltsam bekannt vorkam.

Mit einem Ruck ging das Cockpit auf und heraus kletterte eine graue Ratte. Sie war so dick, dass sie in ihrem Fliegeranzug wie die Wurst in der Pelle saß.

»Saubere Landung!«, hörten Schwefelfell und Fliegenbein sie sagen. »Tadellos. Du bist eine Teufelsfliegerin, Lola Grauschwanz, ja, das bist du.«

Die Ratte kehrte der Höhle den Rücken zu. Sie holte aus dem Flugzeug ein paar Rollen Papier, Stangen und ein Fernglas. »Wo hab ich denn das Buch?«, murmelte sie. »Blitz und Propellerbruch, wo ist das Ding?«

Schwefelfell nahm Fliegenbein auf den Arm, legte den Finger auf die Lippen und schob sich aus ihrem Versteck.

»Grauschwanz heißt du?«, fragte sie.

Die Ratte fuhr herum und ließ vor Schreck alle Sachen fallen. »Was? Wer? Wie?«, stammelte sie. Dann sprang sie mit einem Satz in ihr Flugzeug und versuchte zu starten.

»Halt, halt!«, rief Schwefelfell, sprang der kleinen Maschine in den Weg und hielt den Propeller fest. »Wo willst du denn hin? Hast du zufällig einen Verwandten, der Gilbert heißt und weiß wie ein Champignon ist?«

Entgeistert sah die Ratte das Koboldmädchen an. Dann schaltete sie den Motor ihres Flugzeugs wieder aus und schob die spitze Nase aus dem Cockpit.

»Du kennst Gilbert?«, fragte sie.

»Wir haben eine Landkarte bei ihm gekauft«, antwortete Schwefelfell. »Der Stempel, den er draufgeknallt hat, sah genauso aus wie das Zeichen auf deinen Tragflächen. Die Karte hat allerdings nicht verhindert, dass wir uns hierher verirrt haben.«

»Eine Karte?« Die Ratte kletterte wieder aus ihrem Flugzeug und sprang mit einem Satz auf die Erde. »Eine Karte von dieser Gegend?« Sie blickte zu der Höhle und dann zu Schwefelfell. »Du hast nicht zufällig einen Drachen da drin?«

Schwefelfell grinste. »Doch, hab ich.«

Lola Grauschwanz verdrehte die Augen und zischte durch die Zähne. »Also, euch hab ich zu verdanken, dass ich mich in dieser gottverlassenen Gegend herumtreiben muss!«, schimpfte sie. »Na, danke schön, sag ich. Scheußlichsten Dank!«

»Uns?«, fragte Schwefelfell. »Wieso das denn?«

»Seit ihr bei Gilbert wart«, die Ratte raffte die Sachen zusammen, die sie bei Schwefelfells plötzlichem Auftauchen hatte fallen lassen, »denkt er an nichts anderes mehr als an die weißen Flecken! Ruft mich an, als ich gerade einen feinen kleinen Urlaub bei meinem Bruder in Indien mache, und jammert mir die Ohren voll! >Lola! Du musst zum Himalaja fliegen! Lola, tu deinem alten Onkel den Gefallen! Lola, ich muss die weißen Flecken von meinen Karten kriegen. Bitte, Lola!<«

Die Ratte ächzte unter der Last ihrer Ausrüstung, die sie in den Schatten der Höhle schleppte.

»Kannst du dich vielleicht mal nützlich machen anstatt mich nur anzuglotzen?«, pfiff sie Schwefelfell an. »Schieb das Flugzeug in die Höhle, sonst ist es gleich so heiß, dass man Straußeneier darauf braten kann.«

»Genau wie ihr Onkel!«, knurrte Schwefelfell, setzte Fliegenbein ab und holte das Flugzeug. Es war so leicht, dass sie es sich unter den Arm klemmen konnte. Als sie es in die Höhle brachte, stand Lola Grauschwanz wie angewurzelt vor dem schlafenden Lung.

»Wind und Wetter!«, flüsterte sie. »Es ist wirklich ein Drache.«

»Was hast du denn gedacht? Weck ihn nicht auf, er muss schlafen, sonst kommen wir nie hier weg.« Schwefelfell stellte das Flugzeug ab und sah es sich etwas genauer an. »Wo hast du den Flieger her?«, fragte sie mit gesenkter Stimme.

»Aus einem Spielzeuggeschäft«, murmelte Lola Grauschwanz ohne die Augen von dem Drachen zu wenden. »Ich hab's natürlich noch ein bisschen umgebaut. Fliegt prima. Selbst die Berge hier waren kein Problem.« Sie machte vorsichtig noch einen Schritt auf den Drachen zu. Aufgerichtet war sie kaum größer als eine von Lungs Tatzen. »Schön«, flüsterte sie. »Aber was frisst er?« Besorgt drehte sie sich zu Schwefelfell um. »Doch hoffentlich keine Ratten?«

Schwefelfell kicherte. »Nein. Da kannst du ganz beruhigt sein. Nichts als Mondlicht. Mehr braucht er nicht.«

»Aha, Mondlicht.« Die Ratte nickte. »Interessante Energiequelle. Hab mal versucht Mondlichtbatterien zu bauen. Hat aber noch nicht geklappt.« Sie drehte sich um und blickte zu Ben hinüber, der immer noch erschöpft von dem Abenteuer mit dem Riesenvogel neben dem Höhleneingang schlief.

»Einen Menschen habt ihr auch dabei?«, raunte sie. »Mein Onkel hat nur was von dir und dem Drachen erzählt. Von dem Kleinen da«, sie zeigte auf Fliegenbein, »war auch nicht die Rede.«

Schwefelfell zuckte die Achseln und gab dem Propeller von Lolas Flugzeug einen Schubs mit der Pfote. Schnurrend drehte er sich im Kreis. »Die zwei sind irgendwie dazugekommen«, sagte sie. »Ab und zu hat man Ärger mit ihnen, aber sonst sind sie in Ordnung. Der Kleine ist ein Hominkoloss.«

»Homunkulus!«, verbesserte Fliegenbein und verbeugte sich vor Lola Grauschwanz.

»Aha«, sagte sie und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Nimm es mir nicht übel, aber du siehst aus wie die Spielzeugausgabe von einem Menschen.«

Fliegenbein lächelte verlegen. »Nun, in entfernter Weise stimmt das«, sagte er. »Dürfte ich Euch fragen, wie weit Ihr mit der Vermessung und Kartografierung dieser Gegend gekommen seid?«

»Bin fast fertig«, antwortete Lola und strich sich über die Schnurrbarthaare. »Bin nur noch mal hergekommen um aufzuschreiben, was ich heute vermessen hab.«

Überrascht sah Schwefelfell sie an. »Dann kennst du dich hier aus?«

»Klar.« Die Ratte zuckte die Schultern. »Ich kenn inzwischen jeden verflixten Stein in dieser Gegend.«

»Wirklich?« Schwefelfell lief zu Ben und rüttelte ihn. »Wach auf!«, zischte sie ihm ins Ohr. »Wach auf, hier ist jemand, der uns den Weg zeigen kann. Den Weg zum Kloster!«

Verschlafen drehte Ben sich um und blinzelte Schwefelfell an. »Was ist? Wer ist hier?«

Schwefelfell zeigte auf Lola. Die dicke Ratte machte vorsichtshalber einen Schritt zurück, aber sie stemmte die Arme in die Hüften und blickte dem Menschen mutig ins Gesicht. Ben setzte sich überrascht auf und sah auf sie hinab. »Woher kommt die denn?«, fragte er erstaunt.

»Die? Vor dir steht Lola Grauschwanz«, sagte die Ratte beleidigt.

»Sie ist die Nichte von der weißen Ratte!«, zischte Schwefelfell. »Gilbert hat sie hergeschickt, damit sie für ihn die Gegend hier vermisst. Komm.« Sie zog Ben am Ärmel hoch. »Wir besprechen alles Weitere draußen vor der Höhle. Sonst wecken wir Lung.«

Draußen war es immer noch unangenehm heiß, aber im Schatten eines großen Felsbrockens, der neben dem Höhleneingang lag, war es auszuhalten.

»Hol die Karte raus«, sagte Schwefelfell.

Ben gehorchte und breitete sie vor der Ratte aus.

»Kannst du uns sagen, wo wir sind?«, fragte Schwefelfell Lola gespannt.

Die Ratte marschierte über die Karte ihres Onkels und sah sich stirnrunzelnd um. »Mal sehen«, murmelte sie.

img22.png 

»Ja, alles klar.« Sie hob die Pfote und tippte auf ein Gebiet südöstlich des Indus.

»Hier seid ihr, zwischen den Bergen da, im Tal der Steine, wie ich es nenne.«

»Wir suchen ein Kloster«, erklärte Ben. »Es liegt am Hang eines Berges, an einer Stelle, wo das Industal weit und grün ist. Es ist groß, mit vielen Gebäuden und Fahnen, die im Wind flattern.«

»Hm.« Lola nickte und sah den Jungen an. »Kenn ich, kenn ich. Gute Beschreibung. Bist wohl schon mal da gewesen, was?«

»Nein.« Ben schüttelte den Kopf. »Ich hab es im zweihundertdreiundzwanzigsten Auge eines Dschinns gesehen.«

Lola Grauschwanz guckte den Jungen einen Augenblick mit offenem Mund an. »So?«, sagte sie dann. »Tja, wie gesagt, ich kenn das Ding. Ist voll mit kahl geschorenen Mönchen, kleinen und großen. Sehr freundliche Menschenart. Außerordentlich gastfreundlich. Trinken allerdings einen scheußlichen Tee.«

Ben sah sie gespannt an. »Kannst du uns hinbringen?«

»Klar.« Lola Grauschwanz zuckte die Achseln. »Aber mein Flieger ist bestimmt nicht so schnell wie der Drache.«

»Wahrscheinlich nicht!« Lung streckte den langen Hals aus der Höhle, gähnte - und blickte neugierig auf die dicke Ratte herab. Lola plumpste vor Schreck auf den Hintern.

»Er ist, er ist ...«, stammelte sie, »... größer, als ich dachte.«

»Durchschnittlich«, stellte Schwefelfell fest. »Es gibt größere und kleinere Drachen als ihn.«

»Das ist Lola, Lung«, erklärte Ben. »Die Nichte von Gilbert Grauschwanz. Ist das nicht ein toller Zufall? Lola kann uns zu dem Kloster bringen.«

»Zufall ist gut«, murmelte Lola und konnte die Augen immer noch nicht von dem Drachen wenden. »Nur wegen euch bin ich in diesen Bergen.«

»Du hast Recht«, rief Fliegenbein. »Es ist keineswegs ein Zufall! Es ist eine Fügung.«

»Eine was?«, fragte Schwefelfell.

»Eine vorbestimmte Begegnung«, sagte Fliegenbein. »Etwas, das einfach geschehen sollte. Ich kann das nur als gutes Omen bezeichnen, als sehr gutes Omen.«

img23.png

»Aha.« Schwefelfell zuckte die Schultern. »Nenn es, wie du willst, auf jeden Fall kann Lola uns hier rausbringen.« Sie sah zum Himmel. »Wir sollten so bald wie möglich aufbrechen, allerdings - den Mondtau sollten wir uns für Notfälle aufheben. Wir fliegen, sobald der Mond aufgeht. Einverstanden?« Lung nickte

»Kennst du auch Rosa Grauschwanz?«, fragte er Lola. »Sie müsste deine Tante sein.«

»Natürlich. Kenn ich.« Lola trippelte von der Karte ihres Onkels, damit Ben sie wieder zusammenfalten konnte. »Hab sie mal auf einer Familienfeier getroffen. War das erste Mal, dass ich was von Drachen gehört habe.«

»Und hier?«, fragte Ben und lehnte sich gespannt vor. »Hast du hier in den Bergen Drachen gesehen?«

»Hier?« Lola Grauschwanz schüttelte den Kopf. »Nein, nicht eine Schwanzspitze. Obwohl ich jeden Winkel abgeflogen bin. Das könnt ihr mir glauben. Ich weiß, warum du fragst. Ihr sucht den Saum des Himmels. Aber ich kann nur sagen, so einen Ort hab ich nicht gesehen. Klar, jede Menge weißer Gipfel. Aber keine Drachen. Keine Spur von ihnen.«

»Das, das - kann nicht sein!«, stammelte Ben. »Ich hab das Tal gesehen. Und einen Drachen, in einer riesigen Höhle!«

Lola Grauschwanz guckte ihn ungläubig an. »Wo hast du das gesehn?«, fragte sie. »Im Auge von deinem Dschinn? Nein, glaub mir. Hier gibt es keine Drachen. Klöster, zottelige Kühe, ein paar Menschen, sonst nichts. Gar nichts.«

»Es war ein Tal zwischen weißen Gipfeln, voll mit Nebel. Und die Höhle war wunderschön!«, sagte Ben.

Aber Lola schüttelte wieder nur den Kopf. »Es gibt hier Hunderte von Tälern und so viel weiße Gipfel, dass man verrückt wird, wenn man versucht sie zu zählen. Aber Drachen? Nein. Tut mir Leid. Genau das werde ich auch Onkel Gilbert erzählen. Es gibt ihn nicht, den Saum des Himmels. Und es gibt kein verborgenes Drachental. Das ist alles nichts als ein schönes Märchen.«