Audrey
Audrey hatte kein Licht gemacht. Im Dunkeln hockte sie stocksteif auf der Kante ihres Sessels, noch im Mantel, die Handtasche über der Schulter. Es war vier Uhr früh.
Jetzt, da sie sich endlich setzen konnte, merkte sie erst, wie erschöpft sie war. Sie war so müde wie noch nie zuvor in ihrem ganzen Leben, dennoch ließ sie nicht zu, dass ihr matter Körper in die einladenden Kuhlen ihres Sessels sank. Das konnte sie einfach nicht. Sie verdiente nicht das kleinste bisschen Trost und Bequemlichkeit, nicht mal von einem Polstermöbel. Ihre Füße brannten wie Feuer, und ihre Ferse pochte, als steckte sie im messerscharfen Gebiss eines Pitbulls. Aber die körperlichen Schmerzen waren nicht das Schlimmste, die beiden Dolche in ihrem Herzen schmerzten viel mehr. Den zweiten hatte sie auch noch selbst hineingestoßen. Sie hatte sich ein Messer in ihr kaltes, schwarzes Herz gerammt, als sie ihren treuesten Freund auf der ganzen Welt getreten hatte.
Immer wieder hatte sie das Bild vor Augen, wie Pickles mit gebrochenen Knochen vor ihr auf dem Untersuchungstisch der Tierarztpraxis lag. Ihr bester Freund; ihr vertrauensvoller, schnurrender Gefährte. Pickles, der sich auf ihrem Schoß zusammenrollte – auf dem Sessel, auf dem sie gerade saß – und sich jeden Abend von ihr das Fell kraulen und die Ohren streicheln ließ.
Immer, wenn Audrey an Pickles’ Beinchen dachte, wie es abgeknickt und seltsam abstehend in die Luft ragte, überkam sie von Neuem brennende Scham. Und sobald dieses Bild verschwand, erschien gleich ein anderes genauso schreckliches: John, wie er Alice’ Hand nahm, ihr Ohrring, der ihren honiggoldenen Hals streifte, John, der sich vorbeugte, um sie zu küssen; und diese Vorstellung stürzte sie in noch tiefere Verzweiflung.
Was um alles auf der Welt sollte sie nur tun, wenn die Dunkelheit sich hob und der neue Tag anbrach?
Sie musste nachdenken. Sie musste sich einen Plan zurechtlegen und zusehen, ob noch etwas zu retten war aus den Trümmern der vergangenen vierundzwanzig Stunden.
Pickles, so hatte man ihr versichert, würde sich erholen und bald wieder ganz der Alte sein. Doch das war nur ein schwacher Trost. Nie wieder würde er ihr vertrauen können. Und sie verdiente sein Vertrauen auch gar nicht. Sie verdiente ihn nicht.
Aber trotzdem, er würde wieder gesund werden, und wie sie so in ihrem dunklen Wohnzimmer saß, schwor sich Audrey, eine bessere Katzenmutter zu werden, eine geduldigere Freundin. Sie wollte für ihn kochen, statt ihm nur lieblos das Dosenfutter in den Napf zu löffeln. Ihn richtig durchknuddeln, statt ihn nur halbherzig beim Fernsehen zu kraulen. Ihn mitten auf ihrem Bett schlafen lassen, statt ihn immer mit dem Knie gegen die Wand zu schieben.
Ihr eigenes Herz war leider nicht so unverwüstlich wie ihr geliebter Pickles. Nie würde es sich von dem tödlichen Stich erholen, den John und Alice ihm zugefügt hatten. Warum nur hatte sie es nicht kommen sehen? Und wie sollte sie nun mit Alice in einem Büro sitzen und tun, als sei nichts gewesen? In dem Wissen, dass Alice das Herz jenes Mannes erobert hatte, den sie liebte – geliebt hatte –, und das die letzten elf Jahre lang?
Aber, dachte Audrey mit ungewohnter Bußfertigkeit, vielleicht wäre alles ganz anders gekommen, hätte sie sich nicht so in ihre Gefühle verrannt. Wäre sie nicht so blind gewesen, dann hätte sie sich nicht eingebildet, nicht fantasiert, dass John ihre Gefühle erwiderte. Ein Esel war sie gewesen, schimpfte sie mit sich. Ein dummer, alter, dicker Esel. Denn auch das war sie. Alt und dick und dumm. Natürlich liebte John sie nicht. Wie konnte man auch so jemanden lieben?
Auch der Schaden, den ihr guter Ruf genommen hatte, schmerzte sie sehr. Sie konnte den Gedanken an die BdP-Sitzung kaum ertragen. Das Einzige, woran sie sich noch erinnerte, war Sheryls Antrag, sie aus dem Verband zu werfen. Nun mussten sie alle für eine Lügnerin halten. Ja, schlimmer noch, für eine Frau, die sich mit Strichjungen vergnügte. Sie konnte sich genau vorstellen, was sie dachten, denn sie selbst hätte an ihrer Stelle dieselben Schlüsse gezogen. In der Dunkelheit brannten Audreys Wangen vor Scham.
Wie sollte sie ihnen jemals wieder unter die Augen treten – ihnen allen? John, Alice, Sheryl, Ernie, Barry Chambers, Wendy Arthur? Bianca und Cassandra? Pickles? Wie sollte sie jemals wieder irgendeinem von ihnen entgegentreten können?
Und wie sollte sie weiterleben ohne die Hoffnung, irgendwann mit John zusammen sein zu können?
Aber wenn sie an diesem grauenhaften Tag eins gelernt hatte, dann das: dass sie sich ändern musste. Ein besserer Mensch werden. Ein netterer Mensch. Und dass John einer anderen gehörte.
Um sie herum verwandelte die tintenschwarze Dunkelheit sich langsam in ein verschwommenes Lila, und von der Straße drangen die ersten Lebenszeichen des neuen Tages zu ihr herein. Mit zusammengekniffenen Augen schielte Audrey auf die Anzeige ihres alten Videorekorders. Sinnlos, jetzt noch ins Bett zu gehen. In einer Stunde musste sie ohnehin aufstehen, sich umziehen, ein neues Gesicht malen und in den 119er Bus steigen, um ins Büro zu fahren, als sei ihre Welt letzte Nacht nicht in tausend kleine Stücke zersprungen. Heute war der erste Tag ihres neuen Lebens: eines mitfühlenderen Lebens. Und je früher sie zur Arbeit ging, desto früher konnte sie Pickles abholen. Der Tierarzt hatte gesagt, sie könne am kommenden Nachmittag vorbeikommen. Jetzt musste sie diesen Tag nur noch irgendwie hinter sich bringen.