Alice
Zu Hause in ihrem Wohnzimmer loggte Alice sich in ihren Hotmail-Account ein und begann eine neue E-Mail. Mit flatternden Nerven kramte sie in ihrer Handtasche, angelte ihr Notizbüchlein heraus und tippte Kates Adresse ein. Dann starrte sie auf den Monitor, während im Hintergrund leise der Fernseher lief. Audrey würde sie umbringen, sollte sie je davon erfahren. Wusste der Himmel, wie viele Klauseln ihres Vertrages sie gerade dabei war zu brechen. Aber sie würde es trotzdem tun, denn sie war sich ihrer Sache ganz sicher. Und außerdem war Liebe nun mal Liebe. Die konnte ein Blatt Papier nicht aufhalten.
Sie fing an zu tippen.
Kate,
ich habe den perfekten Mann für Sie gefunden! Allerdings nicht in der Kartei von Table For Two. Was halten Sie von einem Schwarzmarkt-Date?
Bitte antworten Sie nicht an meine Büro-Adresse. Sollte Audrey je davon erfahren, werde ich binnen einer Stunde gefeuert sein.
Alice
PS: Er erfüllt zwar nicht all Ihre Kriterien, aber Sie können mir voll und ganz vertrauen!
Nervös lehnte sie sich zurück und las das Geschriebene noch einmal durch. Einen Augenblick später beugte sie sich vor und klickte auf Senden. Sie hatte Herzrasen.
Unvermittelt klingelte ihr Handy, und Alice fuhr erschrocken hoch. Das konnte doch unmöglich schon Kate sein, die sie anrief, oder? Sie warf einen Blick auf die Uhr. Die meisten ihrer Freunde riefen so spät nicht mehr an, es sei denn, Ginny brauchte jemanden zum Reden. Hoffentlich war sie es. Seit Freitagabend hatte Alice ständig an ihre Freundin denken müssen und auch ein paar Mal versucht, sie zu erreichen, aber immer lief der Anrufbeantworter.
Es war nicht Ginny. Es war John.
»Ich hoffe, ich rufe nicht zu spät an.«
Ein prickelndes Kribbeln fuhr durch ihren ganzen Körper. Ihr Plan war aufgegangen.
»Vielen Dank für die Blumen!« Sie war bemüht, ganz ruhig zu klingen.
»Haben sie Ihnen gefallen?«
»Und wie! Sie sind so viel schöner als Rosen!« Sie zuckte zusammen. Das sah ihr ähnlich, dass sie ausgerechnet das florale Äquivalent einer Liebeserklärung erwähnen musste. Zum Glück schien John es nicht zu bemerken.
»Na ja, zumindest haben Sie ihnen nicht die Köpfe abgeschnitten und sie mir wieder zurückgeschickt«, zog er sie auf, »und Sie haben bis jetzt auch noch nicht aufgelegt – weshalb ich hoffe, dass Sie nicht mehr böse auf mich sind.«
»Ich war nicht böse auf Sie«, widersprach Alice rasch. »Ich war nur …«
»… empört, dass ich Ihnen unter dem Vorwand eines Kaffees ein unmoralisches Angebot gemacht habe?«
Alice geriet ins Schwimmen. Irgendwie klang es ein bisschen lächerlich, wenn er es so sagte.
»Ich muss schon zugeben, ich war ein wenig erstaunt, als Sie mit einem Hechtsprung über die Dahlien geflüchtet und wie ein geölter Kugelblitz aus dem Laden gekegelt sind«, gestand er lachend. »Also, was Abfuhren angeht, war diese schon sehr spektakulär! Wobei es natürlich auch möglich wäre, dass Sie ganz einfach Geschmack haben und gar nicht schnell genug von mir wegkommen konnten. Aber vielleicht lag es auch einfach nur daran, dass Sie mich falsch verstanden haben.«
Alice’ Gehirn überschlug sich fast, um noch mitzukommen.
»Hören Sie, wirklich, ich bitte Sie.« John klang plötzlich ganz nervös. »So einer bin ich nicht.«
»Okay. Gut«, entgegnete Alice und versuchte, so zu tun, als wüsste sie, wovon er da gerade redete. »Was sind Sie dann für einer?«
»Ach, Sie wissen schon. Jedenfalls bin ich kein lüsterner Weiberheld, der im Gartencenter Frauen auflauert, um sie in seine Lasterhöhle zu verschleppen.«
Beide lachten etwas gequält.
Kurz wurde es still.
»Wobei ich lügen müsste, wenn ich behaupten würde, ich wolle mich nur mit Ihnen treffen, um mit Ihnen über die Vorteile von Kräuterrabatten zu diskutieren«, fügte er schüchtern hinzu.
Es wurde etwas länger still. Alice versuchte zu verstehen, was er da gerade gesagt hatte. Er war also kein lüsterner Frauenverführer, der nur einen kleinen außerehelichen Flirt suchte. Aber er wollte mit ihr auch nicht bloß übers Gärtnern reden. Was also wollte er von ihr? Eine halb-lüsterne Affäre mit Pflanzenfachsimpeleien als Sättigungsbeilage? Alice blickte nicht mehr durch. Sie wusste nicht, ob rechtschaffene Empörung jetzt angebracht war oder eher nicht.
»Weiß Audrey, dass Sie mich anrufen?«, entgegnete sie ausweichend. »Ist sie gerade bei Ihnen?«
»Was? Nein! Nein, Audrey ist ganz definitiv nicht bei mir«, entgegnete John lachend. »Und sofern sie mein Telefon nicht angezapft hat, weiß sie auch nichts von meinem Anruf.«
»Dann, ähm, machen Sie das alles also hinter ihrem Rücken?«
Nervös wartete sie auf seine Antwort.
»Es geht Audrey überhaupt nichts an, wen ich anrufe oder wen ich zum Kaffeetrinken einlade.«
»Oh!«
Wieder wurde es still, und dann seufzte John.
»Verflixt, eigentlich wollte ich mit diesem Anruf alles klarstellen, aber ich glaube, ich grabe mir gerade meine eigene Grube. Bestimmt legen Sie jetzt gleich auf.«
»Ich weiß wirklich nicht, was ich machen soll. Ich habe keine nennenswerte Erfahrung im Umgang mit spätabendlichen Anrufen von den Ehemännern meiner Chefin.«
»Ehemann? Ach so, ich hatte mich schon gefragt, wieso Sie weggerannt sind.«
»Hören Sie, John«, versuchte Alice zu erklären. »Sie waren beim Ball echt nett zu mir. Mein Retter in höchster Not, sozusagen. Und dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Und für die Blumen auch.« Sie holte tief Luft und redete dann schnell weiter. »Sie haben gehört, was Sheryl über mich gesagt hat, sie hat mich als ein verzweifeltes Fräulein von Traurigkeit beschrieben. Aber das bin ich nicht. Dass ich Single bin, stimmt, aber das heißt nicht, dass ich leicht zu haben bin und mit dem ersten Mann ins Bett steige, der mir einen Cappuccino spendiert. Vor allem dann nicht, wenn er auch noch verheiratet ist. Und ganz bestimmt nicht, wenn er mit meiner Chefin verheiratet ist!«
Ihr war leicht schwindelig von so viel Ehrlichkeit.
»Auch auf die Gefahr hin, prüde zu wirken«, fügte sie etwas kleinlaut hinzu.
»Ganz und gar nicht. Sie wirken eher … Hören Sie, ich habe das ja schon im Gartencenter gesagt; ich fürchte, wir haben da beide was in den falschen Hals bekommen. Darum wollte ich Sie auch fragen, ob wir nicht noch mal ganz von vorne anfangen können, erst mal reinen Tisch machen, sozusagen. Ich weiß zwar nicht so genau, für wen oder was Sie mich halten, aber die Wahrheit würden Sie mir im Moment vermutlich nicht glauben. Dabei bin ich eigentlich ein grundehrlicher Mensch. Himmel, ich bin schließlich Gärtner!«
Alice dachte kurz darüber nach. Bilder blitzten vor ihrem inneren Auge auf: John, wie er sich beim Ball schützend vor sie gestellt hatte; wie er zum Taxistand gelaufen kam, um sich für das unmögliche Benehmen der anderen Gäste zu entschuldigen; wie er ihr sanft das Taschentuch in die Hand gedrückt hatte, als sie glaubte, ihre Tränen verstecken zu können.
»Okay«, murmelte sie. »Reinen Tisch.«
»Gut …« Er klang erleichtert. »Vorher möchte ich Ihnen noch etwas im Vertrauen sagen: Es ist sehr wichtig, dass Sie niemandem bei Table For Two oder irgendeiner anderen Partnervermittlung davon erzählen. Ich glaube, Sie sind ein Mensch, der sein Wort hält.«
»Bin ich.«
Eine lange Pause entstand.
»Ich bin nicht mit Audrey verheiratet«, sagte er schließlich. »Genauer gesagt, bin ich überhaupt nicht verheiratet.«
Wieder wurde es still.
»Sie meinen, Sie und Audrey haben nie geheiratet?«, hakte Alice verdattert nach. »Sie sind bloß … seit vielen Jahren liiert?«
»Wir sind seit langen Jahren … befreundet.«
»Und jetzt kribbelt es nicht mehr, und deshalb verabreden Sie sich mit anderen Frauen?«
»Nein!« In Johns Stimme schwang ein Anflug von Lachen mit. »Ich meine, es hat nie gekribbelt. Es ist – und war – nie eine Beziehung, in der irgendwas gekribbelt hätte. Es ist eine …« – er brach ab und suchte nach dem passenden Wort – »… besondere Beziehung. Aber nicht das, was Sie denken.«
»Dann sind Sie und Audrey also nicht …?«
»Nein.«
»Aber … aber … die vielen schönen Blumen, die Sie Audrey immer ins Büro geschickt haben!«
»Blumen für Audrey? Von mir waren die nicht.«
»Und was ist mit Ihrem Hochzeitstag? Da waren Sie doch mit ihr in Paris.«
»Davon weiß ich nichts. Ich war mit Audrey noch nie weiter als bis zum Golf and Country Club.«
Alice konnte sich beim besten Willen keinen Reim auf die Sache machen.
»Aber der Ball? Was ist denn mit dem Ball? Alle haben Sie für ihren Ehemann gehalten.«
»Das mag sein, aber ich habe das nie behauptet.«
»Dann sind Sie und Audrey also nicht liiert?« Alice konnte es noch immer nicht fassen.
»Nicht im herkömmlichen Sinne, nein.«
»Verstehe …« Sie dachte kurz nach. Gab es Beziehungen auch in einem nicht herkömmlichen Sinne? Vielleicht so wie neulich spätabends im Fernsehen, als über diese offenen, freizügigen Paare berichtet wurde, die untereinander die Partner tauschten? Aber ging es da nicht hauptsächlich um Sexpartys und fiese Gummiklamotten mit Strapsen und Gurten? Sie wollte sich Audrey nicht mal ansatzweise in einem solchen Aufzug vorstellen.
»Würde es irgendwie helfen, wenn ich Sie bitte, mir zu vertrauen? Und Ihnen verspreche, dass ich Ihnen zu gegebener Zeit alles genau erkläre?«
»Ähmmmmm …« Alice wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte.
»Hören Sie, Alice, ich mag Sie. Ich mochte Sie vom ersten Moment an, als ich Sie kennengelernt habe. Sie waren wie ein frischer Wind auf diesem angestaubten Ball; natürlich und wunderschön. Sie haben gestrahlt neben all dem klebrigen Lipgloss und den hinterhältigen Gemeinheiten der immer gleichen Gäste. Und als Sie plötzlich weg waren, konnte ich an nichts anderes mehr denken als an Sie. Als wir uns zufällig im Gartencenter begegnet sind, Sie in Jeans und mit zerstrubbelten Haaren, da haben Sie mir sogar noch besser gefallen. Und dann sind Sie auch noch Gärtnerin! Wie toll ist das denn? Sie sind atemberaubend, und Sie sind Gärtnerin!«
Alice’ ganzer Körper begann, bei diesen magischen Worten zu glühen.
Behutsam sprach John weiter.
»Meine Beziehung zu Audrey ist ziemlich vertrackt, und zwischen uns gibt es vertrauliche Absprachen, die ich einhalten muss. Aber eins kann ich sagen, Hand aufs Herz, ich habe sie nie geküsst, geschweige denn mehr. Und das habe ich auch nicht vor.«
Alice war baff. Audrey war nicht mit John verheiratet! Dabei hatte sie sich immer mit ihrer perfekten Ehe aufgespielt. Alles gelogen! Aber warum?
Andererseits, John war nicht mit Audrey verheiratet! Der bildhübsche, wohlerzogene, Ich-finde-dich-natürlich-und-wunderschön-John war überhaupt nicht verheiratet! Und er redete immer noch weiter.
»Ich will Ihnen nichts vormachen, ich bin nicht auf eine belanglose Affäre aus. Ich bin Single. Genau wie Sie.«
Es wurde still. Alice schwirrte zu sehr der Kopf, um irgendwas zu sagen. Zum Glück brach John auch diesmal das Schweigen.
»Also, Alice«, hörte sie ihn sprechen, »würden Sie sich das mit dem Kaffee bitte noch mal überlegen?«