Audrey

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Audrey freute sich stets auf die alle zwei Monate stattfindenden Treffen des Berufsverbands der Partnervermittler. Es war eine gute Gelegenheit für Inhaber und Mitarbeiter der Agenturen aus der ganzen Stadt – und sogar landesweit –, sich mit Gleichgesinnten zu treffen und zu vernetzen. Die Sitzungen fanden am Nachmittag des letzten Donnerstags im Monat statt. Dann schalteten sämtliche Agenturen die Telefone ab, schlossen ihre Büros und machten sich auf den Weg zur Zentrale. Im Umkreis von gut hundert Meilen legte Amor die Arbeit nieder und gönnte sich einen freien Tag.

Schlag Viertel nach zwei am Nachmittag schloss Audrey das Büro und machte sich, gefolgt von ihren Mitarbeiterinnen, auf den kurzen Spaziergang durch die Stadt zur Zentrale des BdP, wo um drei Uhr die Versammlung begann. Sie war immer überpünktlich; in ihren Augen musste man jederzeit mit gutem Beispiel vorangehen. Außerdem bot ihr das oft die Gelegenheit, sich in Ruhe mit Präsident Ernie zu unterhalten, von Fachmann zu Fachfrau, sozusagen. Heute allerdings musste sie zu ihrem großen Unmut feststellen, dass Sheryl Toogood und ihr Team von Love Birds bereits vor ihnen angekommen waren. Und Sheryl hatte sich natürlich gleich den Platz neben Ernie gesichert. Sie hatte die Schuhe ausgezogen und saß mit angewinkelten Beinen da wie eine Katze.

»Aud!«, zirpte Sheryl und riss sich von ihrem trauten Tête-à-tête mit Ernie los. »Wie schön, dass du es auch geschafft hast.«

Audrey sträubten sich die Nackenhaare. Seit wann war es denn Sheryls Aufgabe, sie zu den Treffen zu begrüßen? Und wann hatte sie es in ihren elf Jahren als Mitglied des Verbandes einmal nicht »geschafft«?

»Guten Tag, Miss Toogood, Mr President«, entgegnete sie kühl. Einer musste schließlich ein wenig Wert auf gute Umgangsformen und Etikette legen.

Kichernd wie Schulmädchen kamen Bianca, Cassandra, Hilary und Alice herein, warfen Jacken und Mäntel über die Stühle und plapperten mit den Angestellten von Love Birds, während sie sich um die Teekanne scharten und ein paar Kekse nahmen. Audrey fiel auf, dass alle Plätze in Ernies Nähe bereits besetzt waren. Missgelaunt schürzte sie die Lippen und tat, als studiere sie aufmerksam das Anschlagbrett des Verbandes.

An der Tür entstand ein kleiner Tumult, als Barry Chambers und sein Team von A Fine Romance hereinkamen, kurz darauf gefolgt von David Bennet von Perfect Partners und Wendy Arthur von Loving Liaisons. Es wurde laut, als die Leute sich untereinander begrüßten und jeder sich eine Tasse Tee holte.

»Audrey!« Wendy löste sich aus dem Trubel und hielt schnurstracks auf das Notizbrett zu. »Gut siehst du aus. Wie schön, dich zu sehen. Wie geht es dir?«

»Gut«, brummte Audrey. Wendy belegte sie bei diesen Treffen gerne mit Beschlag, dabei hatte sie bloß eine winzig kleine Agentur. Es ärgerte Audrey, dass sie offenbar glaubte, sie beide spielten in derselben Liga.

Missgestimmt rührte Audrey in ihrer Teetasse herum. »Und wie geht es deinem reizenden Ehemann?«

Audrey schaute Wendy durchdringend an und fragte sich, ob das eine Fangfrage sein sollte.

»Gut.«

»Und wie läuft das Geschäft?«

»Blendend«, gab sie ihre Standardantwort auf diese Frage zurück. Nach außen hin gab man sich im Verband solidarisch, aber im Endeffekt lauerten hinter der freundlichen Fassade doch alle nur darauf, ihre eigene Kundenkartei zu erweitern.

Wendy rückte noch ein bisschen näher.

»Hast du das von Nigel schon gehört?«, flüsterte sie verschwörerisch und tunkte ihren Vollkornkeks in den Tee.

Womit sie Audrey auf dem falschen Fuß erwischte, denn diese war hin und her gerissen zwischen dem Versprechen, das sie Präsident Ernie gegeben hatte, kein Sterbenswörtchen auszuplaudern, und der Angst, es könne der Eindruck entstehen, alle wüssten Bescheid, nur sie nicht. Kurz rang sie mit sich und ihrem Gewissen.

»Aber ja doch!«, platzte sie schließlich besserwisserisch heraus. »Sehr unvorsichtig von ihm, die Dinge so entgleiten zu lassen. Ein echter Anfängerfehler! Aber des einen Leid, des anderen Freud. Wir können uns kaum retten vor desertierenden Kunden von Cupid’s Cabin.«

»Ja, das geht uns genauso«, erklärte Wendy und nickte eifrig, klang aber nicht gerade überzeugend.

Worauf Audrey sie mit einem Blick unter hochgezogenen Augenbrauen bedachte, der ihre ganze vernichtende Skepsis zum Ausdruck bringen sollte.

»Alles in Ordnung, Audrey?« Wendy wirkte richtiggehend entsetzt. »Himmel, im ersten Moment dachte ich, du bekommst einen Schlaganfall.«

Doch zum Glück wurden sie dadurch abgelenkt, dass die Tür vorsichtig aufging und Nigel sich hereinschob, blass und mit sorgenvollem Gesicht. Audrey sah, wie Alice zu ihm ging, ihm eine Tasse Tee anbot und sanft die Hand auf seinen Arm legte, wobei sie ihm ein paar aufmunternde Trostworte zusprach. Missbilligend runzelte Audrey die Stirn. Woher wusste Alice denn von dieser Sache? Doch ganz sicher nicht von Bianca; der hatte sie ausdrücklich gesagt, das müsse unter ihnen bleiben. Aber irgendwie schien hier jeder Bescheid zu wissen. Wusste denn heutzutage niemand mehr, was »Diskretion« bedeutete?

»Ladies and Gentlemen«, rief Ernie. »Würden Sie bitte alle Platz nehmen? Lassen Sie uns anfangen.«

Verärgert musste Audrey feststellen, dass es nur noch einen freien Platz gab, und zwar den zwischen Alice und Wendy. Widerstrebend zwängte sie sich auf den Stuhl zwischen den beiden.

Am Kopfende des Tisches stand Ernie in einem eleganten anthrazitfarbenen Anzug, der sein silbergraues Haar leuchten ließ, und brachte mit einer geübten Geste den Raum zum Schweigen.

»Also schön, nun, danke, dass ihr alle einen kostbaren Nachmittag im Büro geopfert habt.« (Die Angestellten johlten.) »Heute steht nicht allzu viel auf dem Programm, also fassen wir uns kurz. Eins der meistdiskutierten Themen ist sicherlich der bevorstehende BdP-Ball …« (weiterer Jubel), »… weshalb ich ohne weitere Vorrede Sheryl Toogood das Wort erteilen möchte, die bei der Organisation des diesjährigen Balls wirklich ganz großartige Arbeit leistet.«

Darauf folgte kräftiger Applaus, und Sheryl erhob sich. Entnervt verdrehte Audrey die Augen. Sheryl trug ein babyrosa Kostüm mit einem schon anstößig kurzen Rock und einem gefährlich tiefen Dekolleté. Barry Chambers und David Bennett waren schlagartig hellwach. Ja, von allen im Raum anwesenden Männern schien Nigel der Einzige zu sein, dem die Augen nicht beinahe aus dem Kopf fielen. Stattdessen hatte er den Blick fest auf eine Stelle irgendwo auf dem Teppich geheftet.

»Als Erstes« – Sheryl legte eine dramatische Kunstpause ein – »möchte ich sagen, wie unerhört entzüüüüüückt Ernie und ich sind, dass wir so viele neue Gesichter als Anwärter auf den Titel ›angehender Partnervermittler des Jahres‹ beim Ball begrüßen dürfen. Wirklich ein großer Talentfundus, den wir hier in diesem Raum haben!«, flötete sie, dann drehte sie sich langsam und sehr pointiert um und schaute Alice geradewegs ins Gesicht.

Audrey klappte vor Erstaunen die Kinnlade herunter. Das musste doch ein Missverständnis sein. Aber Alice, die neben ihr saß, wand sich unbehaglich und wurde hochrot. Audrey konnte es kaum fassen. Warum um alles auf der Welt hatte Sheryl sich ausgerechnet Alice herausgepickt? Was sollte das bedeuten? Und was hatte sie da eben gesagt? Ernie und ich sind entzückt. Darüber hatten sie also vorhin getratscht! Sie lachten hinter ihrem Rücken über den »angehenden Partnervermittler« von Table For Two. Audreys Nacken lief rot an, und ihr kam die Galle hoch. Sie hatte es doch gleich gewusst; sie hätte Alice nicht zum Ball einladen sollen. Tja, zum Narren würde sie sich jedenfalls nicht machen lassen. Langsam reichte es ihr mit dieser Alice, die sie überall bloßstellte, mit ihrem dämlichen Fahrrad und ihren ausgebeulten Strickjacken. Gleich morgen früh würde sie sie in ihr Büro bestellen und ihr mitteilen, dass es ein Missverständnis gegeben hatte. Und dann würde sie stattdessen mit Bianca zum Ball gehen.

Audrey senkte den Blick. Ihre Fingerknöchel waren kalkweiß. Mühsam zwang sie sich, tief durchzuatmen.

Und dann, irgendwann, drangen einige von Sheryls Worten wieder zu ihr durch.

»Und die Auszeichnung wird verliehen von«, verkündete sie großspurig mit vor Aufregung bebender Brust, weswegen Barry Chambers und David Bennett unruhig auf den Stühlen herumrutschten, »einer hiesigen Berühmtheit, der allseits bekannten Seriendarstellerin Lucy Lucinda!«

Schlagartig war Audrey wieder hellwach.

»Auszeichnung? Was denn für eine Auszeichnung?«, zischte sie Alice zu.

»Für die Agentur des Jahres! Die wird dieses Jahr zum ersten Mal verliehen. Ernie wird den Sieger bestimmen.«

Ungläubig blinzelnd schaute Audrey sie an. Eine Auszeichnung! Warum erfuhr sie erst jetzt davon?

»Danke«, sagte Ernie ganz lässig, als Sheryl ihm widerstrebend die Bühne überließ. »Ihr werdet mir sicher alle zustimmen, dass der diesjährige Ball die besten Voraussetzungen dazu hat, der bisher beste Ball unserer Geschichte zu werden. Danke, Sheryl, für deinen unermüdlichen Einsatz.«

Dann spulte er noch einige Tagesordnungspunkte ab, um schließlich zu der nächsten interessanten Frage zu kommen: »Und zu guter Letzt: unsere Mitglieder. Hat jemand Zu- oder Abgänge bei den Angestellten zu vermelden?«

Alle Augen richteten sich auf Nigel, der noch immer eingehend den Teppich betrachtete.

Stille.

»Ähäm.« Von ganz vorne war ein leises Hüsteln zu vernehmen. »Ich hätte da was.« Sheryl Toogood war wieder aufgestanden. »Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen Matteus vorstellen.« Und damit streckte sie eine babyrosa Klaue nach einem etwas zu geschniegelten, aber unübersehbar attraktiven jungen Mann aus. Matteus stand auf und verbeugte sich vor den Anwesenden. Aus den Augenwinkeln sah Audrey, wie Cassandra Bianca in die Rippen stupste und tonlos »Wahnsinn!« murmelte. Abschätzig verzog sie den Mund. Warum nur mussten ihre Mädchen sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit blamieren?

»Matteus ist Quereinsteiger«, fuhr Sheryl fort, »hat aber einen wirklich fabelhaften Lebenslauf vorzuweisen. Er kommt ganz frisch aus dem Managementteam der Dating-Plattform Dating4desperates.co.uk!«

Die Anwesenden schnappten vor Bewunderung nach Luft. Dating4desperates.co.uk war die größte Online-Dating-Plattform des Landes. Die Mitgliedszahlen wuchsen wöchentlich stärker als die sämtlicher BdP-Agenturen in einem halben Jahr.

»Wobei professionelle Partnervermittlungen natürlich eine wesentlich höhere Erfolgsquote haben als diese Online-Selbstversuche« – mit einem vielsagenden Lächeln schaute Sheryl in ihr Publikum –, »aber aufgrund von Matteus’ umfangreicher Erfahrung, ganz zu schweigen von seiner Sozialkompetenz und Teamfähigkeit …«, wieder stupste Cassandra Bianca in die Rippen, und selbst Wendy fächelte sich schon mit der Tagesordnung Luft zu, »… ist er die perfekte Ergänzung für das Team von Love Birds.«

»Da bin ich mir sicher!« Ernie stimmte Beifall an, und Matteus strahlte gewinnend in die Runde.

Eine kleine Pause entstand.

»Sonst noch jemand?«, hakte Ernie nach. Alle Blicke richteten sich erwartungsvoll auf Nigel, aber der schien von alledem wieder nichts mitzubekommen; er war ganz in sein persönliches Unglück vertieft.

»In diesem Fall« – Ernie klang irgendwie enttäuscht – »wären wir damit am Ende.«

Mit einem Mal sprangen sämtliche anwesenden Frauen auf und stürzten sich auf Matteus. Mit glänzenden Augen und rosigen Wangen drängten sie sich um ihn. Stirnrunzelnd beäugte Audrey das Spektakel, bis ihr aufging, dass nun plötzlich niemand mehr zwischen ihr und Nigel stand. Langsam und bedrückt drehte er sich zu ihr um und machte den Mund auf, als wolle er etwas sagen, und Audrey schreckte auf. Sie konnte unmöglich mit ihm reden. Misserfolg war ansteckend, und sie konnte es sich nicht leisten, von einem sinkenden Schiff in ein Gespräch verwickelt zu werden.

»Ach, Mr President!«, rief sie hastig. »Könnte ich Sie vielleicht kurz sprechen?«

Ernie unterhielt sich gerade angeregt mit Sheryl und schien verdutzt angesichts dieser rüden Unterbrechung.

»Unter vier Augen«, fügte Audrey vielsagend hinzu und führte Ernie schnell von Sheryl fort in eine ruhige Ecke.

»Ja?«, fragte er zerstreut.

»Mr President, es geht um den Ball.«

»Ja?«

»Um meinen ›angehenden Partnervermittler‹.« Sie trat einen Schritt zur Seite, um ihm die Sicht zu verstellen. »Ich habe mich nämlich gefragt, ob ich es mir womöglich noch anders überlegen dürfte. Ich würde doch lieber Bianca mitbringen.«

Jetzt hatte sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Mit glasigen Augen schaute er sie an.

»Aber Bianca war schon dabei. Mehrmals sogar, wenn ich mich recht entsinne. Und außerdem hat Alice bereits die Einladung bekommen.«

»Ja, aber mir war die Tragweite meiner Entscheidung damals nicht bewusst.«

Ernie guckte sie durchdringend an, und Audrey bemühte sich um einen geknickten Gesichtsausdruck, als sei ihr bitteres Unrecht widerfahren.

»Mir war nicht ganz klar, welch große Anerkennung die Einladung als ›angehender Partnervermittler‹ eigentlich bedeutet.«

»Aber Sheryl hat das doch ganz deutlich gemacht.«

»Nicht deutlich genug«, widersprach Audrey energisch und freute sich insgeheim, Sheryl hinterrücks eins auswischen zu können. »Nähme ich Alice mit, würde das meinen Mädels einen völlig falschen Eindruck vermitteln.«

»Aber Sie können sie doch nicht einladen und es sich dann noch mal anders überlegen!«

»Ach, keine Sorge, darum kümmere ich mich schon!«

»Überlegen Sie nur, wie entmutigend das für das Mädchen wäre!«

»Ich glaube, so schlimm wäre das ni…«

Ernie wirkte plötzlich sehr aufgebracht.

»Nein, Audrey! Das lasse ich nicht zu. Alice ist ein echtes Talent. Und ganz ehrlich … ich hätte nie gedacht, dass Sie so gemein sein könnten.«

Und damit drehte er sich um und ließ Audrey einfach stehen, die ihm stinksauer nachschaute. Es war so was von unfair. Wie konnte es bloß sein, dass alles, was ihre Mädchen taten oder sagten, sie in ein schlechtes Licht rückte?

Ernie und Sheryl hatten schon wieder die Köpfe zusammengesteckt, und die anderen Mitglieder des Verbandes scharwenzelten immer noch um Matteus herum. Nur Nigel und Audrey standen abseits des Gedränges. Ohne ihn auch nur eines flüchtigen Blickes zu würdigen – Blickkontakt könnte als Aufforderung verstanden werden, ein Gespräch zu beginnen –, marschierte Audrey wieder an ihren Platz, raffte ihre Siebensachen zusammen und rauschte zur Tür hinaus. Verstimmt ließ sie das Geplapper der versammelten Meute hinter sich und stapfte schnurstracks zur Bushaltestelle.