Audrey

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Audrey saß auf ihrem Lieblingsplatz, in der ersten Reihe des Busses 119. Aufs Oberdeck ging sie nie, denn da wimmelte es für gewöhnlich von Teenagern und Betrunkenen, und sie bevorzugte einen Aussichtspunkt, von dem aus sie vernichtende Urteile über die vorbeigehenden Passanten fällen konnte.

Heute Abend jedoch konnten auch die kuriosesten Gestalten ihre Aufmerksamkeit nicht lange fesseln. Ständig wanderte ihr Blick zu der grauen, nassen Straße, und ihre Gedanken kreisten immer wieder um John.

Sechs ganze Tage waren nun schon vergangen seit dem Ball und dem schrecklichen Gespräch auf dem Beifahrersitz seines Audi. Sechs Tage und sechs Nächte lang war sie wieder und wieder seine Worte durchgegangen. Nachts hatten sie Audrey bis in ihre Träume verfolgt, tagsüber hatten sie sich in ihr Herz eingebrannt.

Ich … ich wusste gar nicht, dass Sie so sind … so hart … so vollkommen ohne jedes Mitgefühl.

Wie oft hatte Audrey schon zum Telefon greifen und Geraldine anrufen wollen, um zu verlangen, dass er ihr erklärte, wie das gemeint gewesen war. Oft hatte sie ihre Hand schon auf den Hörer gelegt, es aber doch nicht über sich gebracht, tatsächlich abzunehmen. Denn wie sollte sie ihren Anruf erklären, ohne Geraldine eingestehen zu müssen, irgendwie Johns Missfallen erregt zu haben? John, der doch immer so ausgeglichen und umgänglich war.

Nein, viel besser wäre es, Geraldine würde Audrey einfach Johns Nummer geben, dann könnte sie ihn selbst anrufen. Sie würde sich entschuldigen, versprechen, sich zu bessern, etwas für einen guten Zweck seiner Wahl spenden, alles, egal was. Wenn er ihr nur verzieh.

Aber sie hatte auch nicht angerufen und nach seiner Nummer gefragt, denn sie wusste, sie würde sie nicht bekommen. Schon einmal hatte sie es versucht, vor Jahren, und dabei all ihre Überredungskunst eingesetzt, aber Geraldine hatte Johns Nummer partout nicht herausrücken wollen. Angeblich war das eine eherne Grundregel der Agentur. Nun fehlte ihr der Mut, es noch einmal zu versuchen. Eine Abfuhr würde sie nicht ertragen – nicht ausgerechnet jetzt, wo sie ohnehin schon am Boden zerstört war.

Stattdessen hoffte sie gegen alle Vernunft, John würde sich bei ihr melden, sich entschuldigen und sie mit seinen Paul-Newman-Augen anflehen, den ganzen unglückseligen Zwischenfall zu vergessen. Audreys Hoffnung war wieder aufgeflammt, als heute unverhofft der Blumenbote vor der Tür gestanden hatte. Als der Bote seinen Lieferschein aus der Tasche gezogen hatte und ins Zimmer gekommen war, hatte sie den Atem angehalten. Doch dann war ihr klar geworden, dass er nicht auf ihr gläsernes Büro zusteuerte. Audrey hatte so lange die Luft angehalten, dass ihr schon kleine schwarze Punkte vor den Augen flimmerten. Sie hätte sich denken können, dass John sich nicht mit einem Blumenstrauß entschuldigen würde. Und schon gar nicht mit so einem garstigen, unansehnlichen Gebinde.

Aber wenn sie Geraldine nicht anrufen wollte und John sich nicht bei ihr meldete, was blieb dann noch zu tun? Konnte sie die lange Ungewissheit ertragen, bis sich wieder eine geschäftliche Gelegenheit ergab, ihn für einen Abend zu buchen? Was, wenn Johns Gefühle für sie in dieser Zeit immer mehr abflauten? Was, wenn sein Missfallen vom letzten Donnerstag noch größer wurde? Durfte sie dieses Risiko eingehen? Und das ausgerechnet in dem Moment, als sie schon dachte, ihre Beziehung stünde am alles entscheidenden Wendepunkt! Die letzten Male, als sie und John ausgegangen waren, hatte sie förmlich gespürt, dass er ganz kurz davorstand, ihr seine Liebe zu gestehen. Allein bei der Vorstellung, das alles könne nun für die Katz gewesen sein und sie stünden wieder ganz am Anfang, hätte sie in heiße Tränen der Wut ausbrechen können.

Nein, sie konnte nicht darauf vertrauen, dass sich alles wieder von selbst einrenkte. Wenn sie im Leben eins gelernt hatte, dann, dass man Männern nie die Entscheidung überlassen durfte.

Audrey begann andere Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen. Vielleicht könnte sie John für einen privaten Abend engagieren – für eine ganz normale Wochenendverabredung, aus Freude an der netten Gesellschaft. Sie könnten zusammen essen gehen. Einfach den Abend miteinander verbringen, so wie es ganz gewöhnliche Paare taten, ohne irgendwelche lästigen beruflichen Verpflichtungen. Vielleicht würde die welke Blume ihrer Liebe dann wieder aufblühen.

Aber das war ein großer Schritt. Zunächst müsste sie die peinliche Anfrage überstehen. Geraldine würde ganz sicher nach dem Anlass der Verabredung fragen. Und sie würde Audrey bestimmt auf Anhieb durchschauen und ihr ihre Verzweiflung anmerken. Außerdem musste sie an ihre Finanzen denken. Ein Abend mit John war nicht gerade billig, und diesmal konnte sie ihn nicht als Betriebsausgabe absetzen.

Der Bus bog in die Sidwell Street ab, und sie drückte auf den Halteknopf. Dann rauschte sie zur Tür hinaus und trat auf den Bürgersteig. Es hatte angefangen zu nieseln.

Was konnte sie denn noch tun, um John zurückzugewinnen?, fragte sie sich, während sie schnellen Schrittes die Straße entlangging und die winzigen Regentropfen begannen, ihre Haare in eine krause Katastrophe zu verwandeln. Ihr blieb keine andere Wahl. Sie musste sich Geraldine stellen, einen Tisch reservieren und das Geld für einen Abend ohne Anlass mit John berappen. Nur so würde er einsehen, dass sie Zeit mit ihm verbringen wollte und ihn nicht nur zu offiziellen Festivitäten engagierte. Zum Teufel mit dem Geld! Wenn alles nach Plan lief, brauchte sie danach nie wieder für seine Gesellschaft zu bezahlen! Es könnte der erste von unzähligen Abenden mit John sein – der Abend, an dem ein schon elf Jahre andauernder Traum endlich Wirklichkeit wurde!

Audreys Schritte wurden beschwingter. Das war’s, dachte sie bei sich, und die Vorfreude nahm ihr eine schwere Last von den Schultern. Sie hatte endlich einen Plan!