Audrey
Um Punkt halb neun rauschte Audrey mit wehendem Mantel durch die Eingangstür der Dating-Agentur Table For Two. Wie üblich war sie die Erste, und ihr blieb genau eine halbe Stunde Zeit, sich auf einen neuen anstrengenden Tag an vorderster Front der Partnervermittlung einzustellen.
Hurtig setzte sie den Wasserkocher auf und ließ den Blick durch das leere Büro schweifen. Diese Tageszeit war ihr die liebste, lange bevor sich Mitarbeiter und Klienten die Klinke in die Hand gaben. Mit dem Finger fuhr sie über die Schreibtischplatte, um sich zu vergewissern, dass die Putzkolonne ganze Arbeit geleistet hatte. Ihre Fingerspitze war makellos rosa. Mit einem Mal fiel ein optimistischer Januarsonnenstrahl durchs Fenster und tauchte den ganzen Raum in gleißendes Licht. Was für eine schöne Begrüßung am Dienstagmorgen!
Audrey schaltete ihren Rechner ein und machte sich daran, ihren Schreibtisch aufzuräumen. Unordnung am Arbeitsplatz konnte sie nicht ausstehen. »Sauberkeit und Ordnung sind das halbe Leben«, hatte ihr Vater immer gesagt. Er war Koch bei der Royal Navy gewesen, und vermutlich hatte sich sein Ratschlag auf die Hygiene am Arbeitsplatz bezogen, aber für Audrey bedeutete er sehr viel mehr als das. Sie begann jeden Tag mit Aufräumen und Saubermachen.
Mit einundfünfzig Jahren und beachtlichen eins achtzig konnte man sie selbst mit viel gutem Willen nur als stämmig bezeichnen. Ihr Busen war weich und ausladend. Stützende Unterwäsche sorgte dafür, dass er selten bis gar nicht wogte. Dafür gingen die rundlichen Schultern ansatzlos in pummelige Oberarme über, die schwabbelten, wann immer sie sich bewegte. Die krisseligen orangeroten Haare thronten zerzaust über den bauernroten Wangen wie eine Ampel, die gleichzeitig Gelb und Rot anzeigte.
Audrey rührte den Kaffee um und zog eine Bilanz des gestrigen Abends. Die Veranstaltung im Holly Bush Hotel hatte nicht nur einen Haufen Eintrittsgelder in die Kasse gespült, sondern ihre Agentur zudem einem ganzen Saal vermittlungswilliger Singles nahegebracht, die begierig das Geheimnis zu ergründen versuchten, wie man den richtigen Ehepartner fand. Alice’ SMS zufolge (die zu öffnen Audrey mehrere enervierende Minuten gebraucht hatte) hatten sich außergewöhnlich viele neue Klienten gemeldet, die weitere Angebote der Agentur in Anspruch nehmen wollten. Und zwar nicht nur den Online-Dating-Service, sondern den teureren Rundumservice mit allem Drum und Dran! Alles in allem gab es fünfzehn neue Premiummitgliedschaften – vermutlich einer der erfolgreichsten Abende aller Zeiten für Table For Two.
Die Table For Two-Partnervermittlung war mittlerweile in ihrem elften Geschäftsjahr, und seit acht Jahren schrieb sie schwarze Zahlen. Nach dem Tod ihres Vaters hatte Audrey eine Doppelhaushälfte am Stadtrand geerbt sowie fünfzehntausend Pfund in bar. Ihre Mutter war zu diesem Zeitpunkt schon lange verstorben. Audrey hatte keine Geschwister und eine todlangweilige Stelle bei der Stadtverwaltung, da präsentierte sich ihr das Leben – im nicht mehr ganz so zarten Alter von vierzig – plötzlich als schimmernde Auster. War bis dahin ihr Schicksal unausweichlich als aktenverschiebende alte Jungfer besiegelt, verwandelte es sich nun unverhofft in ein Meer unendlich vieler verheißungsvoller Möglichkeiten. Sie könnte eine Kreuzfahrt machen, das Haus verkaufen, ein Vermögen in eine Kinnstraffung investieren, und, und, und.
Doch was sie sich wirklich wünschte, war, von Bedeutung zu sein. Obwohl sie ihr gesamtes Erwachsenenleben hindurch Single gewesen war, faszinierte Audrey die Vorstellung altmodischer Liebeswerbung. Sie träumte von vollendeten Gentlemen, die aufstanden, wenn eine Dame hereinkam. Außerdem bereitete es ihr großes Vergnügen, ihre Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken. Während es Audreys eigenem Leben bedauerlicherweise an Klatschpotenzial fehlte, faszinierten sie die romantischen Irrungen und Wirrungen der anderen umso mehr, selbst wenn es nur die Darsteller einer Seifenoper waren, die sie im Fernsehen verfolgte. Und wie, überlegte sie, könnte man sich besser in das Liebesleben anderer einmischen und dabei eine bedeutende Rolle einnehmen, denn als Chefin einer eigenen Dating-Agentur? Also beschloss Audrey, einen moppeligen unpedikürten Zeh in das frische Wasser des Kleinunternehmertums zu tauchen und ihre eigene Partnervermittlungsagentur zu gründen.
Und da war sie nun, elf Jahre später. Geografisch gesehen wohnte sie noch immer in der Doppelhaushälfte ihres Vaters, aber metaphorisch gesprochen hatte sie sich meilenweit von ihrem damaligen Leben entfernt. Während die alte Audrey manchmal eine ganze Woche lang ohne ein einziges echtes zwischenmenschliches Gespräch auskommen musste, hatte sie nun Hunderte einsamer Menschen in ihrer Kartei, deren Lebensglück von ihr abhing. Und sie bekam – aus erster Hand! – die Liebesgeschichten zahlloser Klienten mit. Im Laufe der Jahre hatte Table For Two sechstausend Verabredungen initiiert, die zu neunzehn kirchlichen Trauungen und zweiundvierzig standesamtlichen Eheschließungen geführt hatten. Und da waren die Online-Bekanntschaften noch gar nicht mit eingerechnet, über die – offen gestanden – niemand eine Statistik führte. Denn Audrey glaubte fest daran, dass alles, was nichts kostete, auch nichts wert sein könne. Wenn ein Klient nicht bereit war, in den persönlichen Premiumservice zu investieren, um den richtigen Lebenspartner zu finden, dann würde er oder sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch der Agentur keine Rückmeldung geben, ob man den Online-Service nicht mehr nutze, weil man auf diesem Weg den Mann oder die Frau fürs Leben gefunden hatte.
Audrey überflog rasch ihre E-Mails, dann blieb ihr Blick an dem gerahmten Foto auf ihrem Schreibtisch hängen. Darauf war ein gut aussehender Mann im schicken Abendanzug zu sehen. Sein Jackett war geöffnet, und den Arm hatte er lässig auf die Lehne eines Stuhls gelegt. Er lächelte, und um die strahlend blauen Augen kräuselten sich weiche Lachfältchen. An seinen Stuhl war ein rosa Ballon gebunden, und im Hintergrund stand ein runder Tisch, auf dem sich die Überbleibsel einer durchfeierten Nacht türmten. Audrey hatte das Foto vor Jahren beim Ball des Berufsverbands der Partnervermittler (BdP) gemacht, und seitdem stand es auf ihrem Schreibtisch. Es war nicht der erste BdP-Ball, zu dem er sie begleitet hatte, aber zu jenem hatte sie zum ersten Mal ihre Kamera mitgenommen. Lange schon hatte sie ein Bild von ihm machen wollen, und da endlich hatte sie sich getraut, ihn darum zu bitten. Vor Nervosität hatten ihr die Hände gezittert, aber wie durch ein Wunder war die Aufnahme perfekt gelungen. Audrey betrachtete sie bestimmt hundert Mal am Tag. Wenn Klientinnen ihr am Telefon ihren Traummann beschrieben, wurde es Audrey manchmal schon unheimlich. Es war, als könnten die Frauen sehen, was sie sah, denn allzu oft passte die Beschreibung haargenau auf John. Fast zärtlich fuhr sie mit dem Finger über das Foto.
»Morgen!«, tönte eine muntere Stimme durch das Büro.
Audrey schreckte hoch, als Alice durch das Büro zu ihrem Schreibtisch tappte, den langen Strickschal auf dem Boden hinter sich herschleifend. Ihr sträubten sich die Nackenhaare. Irgendetwas hatte Alice an sich, das ihr schrecklich gegen den Strich ging.
»Haben Sie meine SMS bekommen? War das nicht ein großartiger Abend?«, rief Alice fröhlich, während sie den Mantel auszog und nachlässig über die Stuhllehne warf; der erste Schandfleck des Tages im ansonsten makellos aufgeräumten Büro. »So viele Leute und alle so nett! Wir haben anschließend noch stundenlang geredet. Schade, dass Sie wegmussten.« Sie nahm den Deckel von ihrem Kaffeebecher und blies auf die dampfende Oberfläche, dann wanderte ihr Blick erwartungsvoll zu Audrey.
»Ja, großartig«, brummte Audrey und versuchte den Anschein zu erwecken, sie sei völlig in ihre E-Mails vertieft. Gerade war wieder einer der Momente, in denen sie sich wünschte, sie hätte ein bisschen mehr investiert und eine richtige Wand errichten lassen, um ihr Büro vom Rest des Raums abzuschirmen. Damals war ihr die Idee mit den Glaswänden als optimale Lösung erschienen. Zum einen entstand dadurch ein eigenes, separates Büro, was eine professionelle Distanz schaffte zwischen ihr als Chefin und ihren Untergebenen im offenen Großraumbüro. Und gleichzeitig konnte sie sich mittels der durchsichtigen Wände vergewissern, dass ihre Angestellten ihre Zeit nicht mit belanglosen Privatgesprächen verplemperten. Sie hatte sogar schon ernsthaft überlegt, einen Kurs für Lippenlesen zu besuchen, um auch bei geschlossener Bürotür, wenn sie sich in ihr durchsichtiges Königreich eingeschlossen hatte und nur noch gedämpftes Gemurmel zu ihr hereindrang, zu verstehen, worüber sie sich unterhielten.
Gerade allerdings war Audreys Tür nur halb geschlossen, und Alice spähte herein wie ein putziges Comic-Häschen.
»Fünfzehn neue Premiumklienten! Das ist ein neuer Table For Two-Rekord, oder?«
»Der Premiumservice ist die einzig vernünftige Lösung«, dozierte Audrey kühl. »Wer ernsthaft auf der Suche nach dem zukünftigen Lebenspartner ist, der weiß, dass man den nicht im Internet findet. Dieses ganze Online-Dating ist völliger Blödsinn, eine alberne Modeerscheinung, die sicher bald wieder vorbei sein wird. Wenn man wirklich den Mann oder die Frau fürs Leben kennenlernen möchte, muss man sich persönlich von einem Partnervermittler beraten lassen. Mit dem Internet und den vielen dubiosen Vermittlungsagenturen da draußen kann sich der Weg ins Glück als steiniger Pfad erweisen. Diese fünfzehn neuen Klienten können sich glücklich schätzen, dass sie an uns geraten sind.«
»Und wie!«, stimmte Alice ihr energisch nickend zu. Dann wusste sie nicht, was sie als Nächstes sagen sollte, also senkte sie den Kopf und konzentrierte sich auf den Papierkram vor ihrer Nase.
Audrey fragte sich, was Alice bloß an sich hatte, das sie so aufbrachte. Sie war nicht unfreundlich, überlegte sie, und auf ihre Art machte sie sich durchaus nützlich. Aber sie hatte ihre Eigenheiten … Immer tat sie, als sei sie beschäftigt, dabei schaute sie meist nur verträumt aus dem Fenster. Und dann ihre Garderobe: Hinter all dem Strick und Kord versteckte sich vermutlich eine ganz passable Figur, aber die war nicht mal ansatzweise zu erkennen unter den Wollbergen. Und wo hatte das Mädel bloß seine Farbe gelassen? Seine Ausstrahlung? Und dann diese Haare! Wie alt Alice wohl war? Mitte zwanzig? Mitte dreißig? Audrey wusste es nicht so recht. Eins wusste sie allerdings sehr wohl. Und zwar, dass Alice, ganz gleich, wie alt sie auch sein mochte, eindeutig zu alt war für geflochtene Zöpfe. So was war schlecht fürs Geschäft. Die Angestellten einer Partnervermittlung sollten attraktive, gepflegte, erfolgreiche Menschen sein. Die männlichen Klienten sollten sie sehen und sich wünschen, dass man ihnen genau so eine Frau vermittelte.
Audrey zog eine Grimasse und wandte sich wieder ihren E-Mails zu. Heute war ein guter Tag, sagte sie sich wieder. Nicht nur wegen der fünfzehn neuen Klienten, sondern auch wegen des jährlichen BdP-Balls – bis zu dem waren es nämlich nur noch drei Wochen! Der Ball war für Audrey der Höhepunkt des Jahres, und der kommende würde besser werden als alle anderen zuvor. Table For Two hatte endlich zu Love Birds aufgeschlossen, seinem schärfsten Konkurrenten, geführt von der schrecklichen Sheryl Toogood. Der Ball war die Gelegenheit für Audrey, Sheryl unter die Nase zu reiben, dass Table For Two einen dreiundzwanzigprozentigen Anstieg bei der Klientenzahl zu verzeichnen hatte. Sie war sich sicher, da würde Sheryl nicht einmal ansatzweise mithalten können, ganz gleich, wie sehr sie auch bluffte.
Und dann natürlich John. Sie konnte es kaum erwarten, ihn endlich wieder an ihrer Seite zu wissen, aufmerksam und souverän wie immer. Heute musste sie unbedingt Geraldine anrufen und nachfragen, ob der Termin wirklich fix in seinem Kalender stand. Unfassbar, dass ihr das jetzt erst einfiel. Gleich heute Abend würde sie sich darum kümmern.
An der Tür entstand ein kleiner Tumult, weil die übrigen Mitarbeiter von Table For Two nun alle gleichzeitig ankamen: Bianca und Cassandra vorneweg, gefolgt von Hilary, der Webseitenkoordinatorin, die sich schnaufend hinter ihnen durch die Tür schob. Audrey runzelte die Stirn. Hilary war mal wieder schwanger und wurde jeden Tag runder und runder. Und bald würde sie wieder in den Mutterschaftsurlaub verschwinden, was Audrey gleich zweifache Unannehmlichkeiten bereitete: Erstens machte Hilary auf Audreys Kosten eine bezahlte Babypause, und dann musste Audrey sich während ihrer Abwesenheit auch noch um den Online-Dating-Service von Table For Two kümmern. Sie wusste gar nicht, worüber sie sich mehr ärgerte.
Während das übliche morgendliche Geschnatter durchs Büro hallte, sah sie Alice wieder verträumt in die Ferne schauen. Audrey kam die Galle hoch. Wurde langsam Zeit, dass das Mädel sich zusammenriss. In der Welt einer Audrey Cracknell, sagte sie sich, war kein Platz für arbeitsscheues Gesindel. Und erst recht nicht für arbeitsscheues Gesindel, das wie eine alte Jungfer daherkam.