Alice

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Es war Freitagnachmittag, und Alice steckte bis zum Hals in Arbeit. Angestrengt starrte sie aus dem Fenster von Table For Two.

Freitag war der Tag der Woche, an dem die Agentur am meisten zu tun hatte, da für die meisten ihrer Klienten Verabredungen geplant waren. Dann hingen die Mitarbeiter stundenlang am Telefon, reservierten die letzten freien Tische in diversen Restaurants und redeten aufgeregten Klienten gut zu, die vor einem Date das große Flattern bekamen. Alice’ Job war der einer Organisatorin, Lebensberaterin und Mutter zugleich. Durchs Telefon verteilte sie Ratschläge, verbale Umarmungen und Trost, während sie kribbelig vor Aufregung zuschaute, wie ihre kleine Schar von Klienten tapfer in die beängstigende Welt der Blind Dates hinauszog.

An diesem Freitag hatte Alice bereits alle Anrufe erledigt, und die Pläne für eine Myriade Verabredungen zum Abendessen quer durch die ganze Stadt waren in trockenen Tüchern. Alle wussten, wann und wo sie erwartet wurden, und jeder hatte Fotos des jeweils anderen sowie einen Steckbrief zugeschickt bekommen. Während die übrigen Mitarbeiter von Table For Two noch beschäftigt waren, schwieg Alice’ Telefon endlich. Sie warf einen Blick auf die Uhr – halb vier – und musste grinsen. Ihr blieben noch ein, zwei wunderbare Stunden zum Pärchenverkuppeln. Also holte sie tief Luft und machte die Augen zu.

Alice liebte es, Menschen zusammenzubringen. Neben ihrer Gartenarbeit fühlte sie sich dabei lebendiger als bei irgendetwas sonst. Dabei hatte sie eine besondere Vorgehensweise. Zuerst machte sie ihren Kopf frei und blendete alle Geräusche im Büro aus. Sie stellte sich vor, sie sei in ihrem Garten, die Sonne schiene ihr ins Gesicht, sie könne das Gras unter den Füßen spüren und die Vögel zwitschern hören. Dann atmete sie tief durch, ließ die ganze Anspannung des Tages von sich abfallen und spürte, wie sich ihr Körper entspannte. Ihr war klar, wie seltsam das auf Außenstehende wirken musste; Audrey und die anderen dachten sicher, sie schliefe. Aber ihr war das egal, und abfällige Kommentare wären ohnehin nicht zu ihr durchgedrungen. Sie war in ihrem persönlichen Pärchenparadies, einem stillen, romantischen Ort, zu dem nichts Schlechtes Zugang fand.

Es dauerte ein, zwei Minuten, dann war sie so weit. Manchmal machte sie die Augen wieder auf und schaute zum Fenster hinaus, ohne irgendetwas wahrzunehmen. Manchmal dachte sie nicht daran und ließ sie einfach zu. Ein Außenstehender wäre niemals darauf gekommen, was für eine lebhafte, üppige Fantasiewelt hinter den geschlossenen Lidern blühte. Der Zauber der romantischen Kuppelei nahm sie vollkommen gefangen.

Wenn Alice Menschen zusammenbrachte, dann war es, als beträte sie mit ihren Klienten eine helle, freundliche Welt, in der alles schöner, besser und romantischer war als im wahren Leben. Hier hatten alle glänzendes Haar und waren tadellos gekleidet. Es war eine Welt, die nur dazu da war, dass Menschen sich ineinander verliebten.

Und dann legte Alice los. Meist fing sie mit dem Mann an. Sie stellte sich ihn in einem Restaurant vor, schick angezogen und ganz entspannt, wie er voller Vorfreude auf seine Verabredung wartete.

Als Nächstes erdachte Alice die Frau dazu; die, von der ihr Bauchgefühl ihr verriet, dass sie perfekt zu ihm passen würde. Sie beobachtete, wie sie das Restaurant betrat und den Mantel auszog. Sie war umwerfend schön.

Die beiden begrüßten sich, und dann schob er ihr den Stuhl zurecht, während sie sich setzte. Glücklich lächelten sie sich an, insgeheim sehr erfreut, mit einem derart gut aussehenden Menschen zusammengebracht worden zu sein. Und dann unterhielten sie sich miteinander.

Das war das Wichtigste an der ganzen Sache. Kam ein lebhaftes Gespräch zustande? Entdeckten die beiden gemeinsame Interessen? War das überhaupt nötig? Vielleicht fanden sie vielmehr ihre Gegensätzlichkeit anziehend und freuten sich über einen Menschen, dessen Leben so ganz anders war als das eigene. Manche Menschen suchten Übereinstimmung, andere erwärmten sich eher für die Unterschiede. Erst nachdem Alice in der Abgeschiedenheit ihrer Fantasiewelt zugesehen hatte, wie sich der Abend entwickelte, wusste sie, ob die beiden wirklich zusammenpassten oder nicht.

Manchmal ging das Date während des Hauptgangs den Bach runter, oder es passierte irgendwann beim Dessert. Freundlich interessierte Nachfragen waren nun mal nicht genug. Dann bedankte man sich für den netten Abend, und jeder ging wieder seiner Wege. Alice sorgte dafür, dass sie gut nach Hause kamen, ging dann zurück ins Restaurant, räumte den Tisch ab und deckte ihn neu – für eine weitere Verabredung mit anderen Kandidaten.

Manchmal allerdings – im besten aller möglichen Fälle – knisterte und sprühte das Date in Alice’ Fantasie nur so vor Romantik. Das Gespräch sprudelte mit beidseitiger Begeisterung dahin, die Klienten lächelten sich strahlend an, auch wenn es gar keinen Grund dazu gab, und wenn Alice schließlich aus ihren Tagträumen erwachte, kritzelte sie ganz kribbelig zwei Namen aufs Papier.

Genau das war geschehen, als Alice sich vorgestellt hatte, wie Jason und Jennifer sich kennenlernten. Es hatte so heftig gefunkt, dass man förmlich spüren konnte, wie die Luft knisterte. Und nun heirateten die beiden! Alice spürte ein wohlig warmes Gefühl, das viel mehr war als Stolz. Es war das Gefühl, mit dem ein Maler sein Kunstwerk betrachtete.

Wann immer es ging, besuchte Alice ihr kleines Fantasierestaurant und brachte Menschen zusammen: in stillen Momenten bei der Arbeit, abends, wenn das Büro leer war, oder am Wochenende, wenn sie in ihrem Garten Unkraut rupfte. Montagsmorgens hatte sie dann immer eine lange Liste mit Namen und eine Menge Verabredungen zu arrangieren, die allesamt ihrer Fantasie entsprungen waren. Es war ihre Traumliste, ihre Liste romantischer Hoffnungen. Die realen Menschen hatten sich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gesehen, und ihr Kennenlernen hatte nur in Alice’ Vorstellung stattgefunden. Aber in ihrem Kopf blühte die Romantik bereits üppig. Und wenn diese Beziehungen dann in der wahren Welt tatsächlich ihren Anfang nahmen, wuchsen und gediehen die meisten von ihnen ganz prächtig.

Langsam, aber beharrlich bohrte sich ein durchdringendes Geräusch in Alice’ Bewusstsein. Es wurde immer lauter und eindringlicher, und das Restaurant um sie herum begann, in sich zusammenzustürzen. Widerstrebend riss sie den Blick vom Fenster los, und plötzlich war sie wieder im Büro, wo das Telefon läutete. Widerwillig griff sie zum Hörer.

»Könnte ich bitte mit Audrey Cracknell sprechen?«, verlangte der Anrufer.

»Tut mir leid, aber sie ist derzeit nicht im Haus«, erwiderte Alice. Sie alle hatten erleichtert aufgeatmet, als Audrey vorhin verkündet hatte, sie habe noch zu tun und werde nicht mehr ins Büro zurückkommen. Den ganzen Tag war sie schrecklich schlechter Laune gewesen, und Alice fragte sich, ob das womöglich etwas mit dem BdP-Treffen am Vortag zu tun haben könnte, denn sie hatte beobachtet, wie Audrey von dort verschwunden war, mit hochrotem Nacken und verkniffenem Gesicht.

»Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen? Ich bin Alice.«

»Oh, ähm, ich weiß nicht. Also. Na ja, vielleicht. Öh. Ehrlich gesagt, ja. Ich heiße Max, Max Higgert. Es geht um, äh, die Treffen, die bisher für mich arrangiert wurden. Ähm, also, das heißt, die Treffen, die Audrey für mich arrangiert hat.«

Alice hörte aufmerksam zu.

Zwanzig Minuten später legte sie den Hörer auf. Sie wollte ihm sehr gerne helfen, aber das war eine etwas heikle Angelegenheit.

Max hatte ihr schließlich nach längerem Zögern berichtet, dass die Damen, die man für ihn ausgesucht hatte, so gar nicht seinen Vorstellungen entsprachen. Eigentlich suchte er eine warmherzige, liebevolle Frau; jemanden, der häuslich und ungekünstelt war und mit dem man abends auch mal gemütlich vor dem Fernseher sitzen konnte. Stattdessen wollte Audrey ihn mit reichen, auf gesellschaftlichen Aufstieg bedachten Frauen in Designerkleidern verkuppeln; Frauen, die sich gern als Trophäe präsentierten und bei ihrer Jagd nach einem solventen Ehemann über Leichen gingen. Solche, bei denen Max die Beine in die Hand nahm und das Weite suchte.

Alice konnte nicht anders. Eigentlich wusste sie, dass es einem beruflichen Selbstmord gleichkam, sich in Audreys Partnervermittlung einzumischen. Wenn die Angestellten untereinander in den Karteien der Kollegen wilderten, drückte man beide Augen zu, aber Audreys Liste war unantastbar. Dennoch wusste Alice, sie würde nachts nicht mehr schlafen können, wenn sie das Fehlverhalten der Chefin einfach tatenlos mit ansah. Ging es bei ihrer Arbeit nicht genau darum: das perfekte Paar zusammenzubringen? Amor würde seine Pfeile doch auch nicht entmutigt in den Köcher zurückstecken, nur weil sein Ziel auf einer anderen Liste stand, und genauso wenig durfte sie so einfach aufgeben. Ihr Blick ging zum Fenster, und sie machte sich daran, das gedankliche Restaurant wieder aufzubauen.

Ein paar Minuten später erwachte Alice mit einem energischen Kopfschütteln aus ihrem Tagtraum. Es war 17.27 Uhr. Schnell flitzte sie zu Bianca hinüber, die gerade dabei war, ihren Rechner herunterzufahren.

»Bianca – bitte – dürfte ich dich um einen Gefallen bitten?« Die Worte purzelten ihr nur so aus dem Mund. Bianca knöpfte sich bereits den Mantel zu.

»Es geht um einen von Audreys Klienten; Max, den Architekten. Ich habe die perfekte Frau für ihn gefunden, und du musst sie unbedingt Audrey vorschlagen.«

Mit großen blauen Augen schaute Bianca Alice an und blinzelte verständnislos.

»Warum schlägst du sie ihr nicht einfach selbst vor?«

»Auf mich hört sie nicht! Sie würde meinen Vorschlag sofort abtun, obwohl ich davon überzeugt bin, dass die beiden wie füreinander geschaffen sind. Vor allem, weil ich denke, die beiden sind füreinander geschaffen!«

»Das würde Audrey niemals tun!«, rief Bianca und schnappte empört nach Luft. »Für gute Ideen hat sie immer ein offenes Ohr.«

Alice konnte sich gerade noch davon abhalten, laut loszulachen.

»Vermutlich hast du Recht. Aber ich möchte kein Risiko eingehen. Max muss diese Frau unbedingt kennenlernen. Sie ist der Schlüssel zu seinem Happy End!«

Die beiden Frauen strahlten sich an. Partnervermittlerinnen können einfach nicht anders; beim Gedanken an ein Happy End werden sie wie von ganz allein sentimental und gefühlsduselig. Alice wartete, bis Biancas Vorstellung so weit gediehen war, dass sie nicht mehr Nein sagen konnte, dann ließ sie die Katze aus dem Sack.

»Auf dich hört Audrey. Wenn sie glaubt, dass es deine Idee war, wird sie sie ernst nehmen.«

»Aber ich will doch nicht deine Lorbeeren einheimsen …«

»Geschenkt! Bitte – ich will sie nicht!«

»Na ja, wenn du das wirklich willst … Und wenn wir Max damit glücklich machen … dann tue ich es. Ich schlage Audrey deine Kandidatin vor.«

Erleichtert fiel Alice Bianca um den Hals. »Danke! Du wirst es nicht bereuen, versprochen!«

Und Alice konnte nur hoffen, dass sie es auch nicht bereuen würde.